Verriß
Normalerweise ist Kulturkritik kein wie immer gearteter Gesprächsstoff. Wer hin und wieder mit solchen Artikeln konfrontiert wird, schenkt ihnen üblicherweise nicht mehr als einen flüchtigen Blick und geht zur Tagesordnung über.
Mir allerdings kann es von Zeit zu Zeit passieren, daß ich eine besonders gute Rezension sorgfältig ausschneide und in ein Spezialalbum einklebe, sie auf Mikrofilm übertrage, oder daß ich eine kleine Ausstellung der enthusiastischsten Kritiken meiner Stücke arrangiere. Aber damit hat es sich auch schon. Man soll schließlich nicht übertreiben.
Vor einiger Zeit verfaßte zum Beispiel ein gewisser Weintraub-Pryznitz höchst Vorteilhaftes über mein neues Stück:
». . . der Dialog war spritzig und ein wahres Vergnügen für die Zuschauer«, schrieb er. »Ich glaube, daß trotz eines gewissen Hanges zu Übertreibungen sein Stil von bemerkenswerter Klugheit, Reife, Weltoffenheit und polemischer Schärfe ist.«
So etwas nimmt man ganz lässig zur Kenntnis, und klebt es in den Band Nummer acht mit der Überschrift »Bravo bis Hurra«.
Und was passiert dann? Man zeigt sich in der Stadt und trifft gute Freunde:
»Hör mal«, sagen die guten Freunde. »Was hat dieser Weintraub-Pryznitz gegen dich?«
»Warum?« erwidert man. »Seine Kritik war doch ganz anständig.«
»Anständig nennst du das? Die Passage mit der Übertreibung war schlicht und einfach beleidigend.«
Auch im Kaffeehaus schlägt einem sofort eine Welle des Mitleids entgegen: »Nimm's nicht tragisch«, lautet der Grundtenor. »Dieser Weintraub-Pryznitz ist ein Vollidiot. Ignorier ihn einfach.«
Einige meinen sogar: »Warum läßt du dir das gefallen? Wofür hält sich dieser Weintraub-Pryznitz eigentlich?«
Also geht man nach Hause und liest die Kritik noch einmal durch.
Wirklich eine Unverschämtheit! Wie kommt dieser Dilettant nur auf »Übertreibungen«? Man sollte ihm gründlich die Meinung sagen, was Übertreibungen wirklich sind, der Schlag soll ihn treffen!
Man macht sich sogleich auf den Weg zu Weintraub-Pryznitz und sagt ihm:
»Jetzt hören Sie einmal gut zu, Herr Weintraub-Pryznitz. Wenn Sie nicht mit diesem elenden Geschreibsel aufhören, werden Sie was erleben!«
Weintraub-Pryznitz entschuldigt sich auf der Stelle, erklärt, daß er das Stück eigentlich gar nicht gesehen hat, und verspricht eine Richtigstellung zum nächstmöglichen Termin.
Und tatsächlich, schon einige Tage später steht in seiner Kolumne: »Das Stück zeigt eindeutig, daß sich sein Autor zu einem der besten Bühnenschriftsteller des Landes entwickelt hat. Bravo!«
Man liest das und fühlt sich einigermaßen rehabilitiert. Und zwar genau so lange, bis man wieder seinen besten Freunden begegnet: »Sag mal«, fragen sie, »was hat dieser Trottel gegen dich?«
»Wieso?«
»Dieser Kerl bezeichnet dich doch tatsächlich als einen der besten Bühnenschriftsteller des Landes! Verstehst du noch immer nicht? ›Einen‹ sagt er! Der will dich ruinieren.«
Also geht man wieder zu diesem Monster und packt ihn am Kragen:
»Paß auf, Weintraub-Pryznitz, noch ein abträgliches Wort und du hast ausgelitten!« Pryznitz verspricht, sein Bestes zu tun, und in der Wochenendausgabe seiner Zeitung erscheint folgendes:
». . . er ist mit absoluter Gewißheit der beste Bühnenautor aller Zeiten. Halleluja.«
Man zeigt das seinen Freunden.
»Oj!« sagen sie. »Er muß dich aus tiefster Seele hassen, dieser Psychopath.«
»Aber wieso?« erwidert man. »Ein größeres Lob gibt es doch gar nicht.«
»Du naiver Tropf!« bemühen sich die Freunde. »Es sind nicht die Worte, die da zählen, sondern die
Absicht.«
Also geht man wieder zu Weintraub-Pryznitz und haut ihm eine Eisenstange über den Schädel. Und nun sagen alle:
»Was hattest du eigentlich gegen den armen Kerl? Er hat doch immer nur das Beste über dich
geschrieben.«
Hier gibt man seinen Beruf auf.
Es ist problemloser, Freund zu sein.