Gelbfieber
Wir saßen zu viert herum, Dr. Birnbaum, Anwalt Glück, mein Nachbar Felix Selig sowie meine Wenigkeit, um dies und jenes im allgemeinen sowie den Weltuntergang im besonderen zu besprechen. Es war ein angenehmer Abend, die Sonne war schon untergegangen und der Gestank des Mittelmeeres noch nicht bis zur Stadt vorgedrungen.
»Die Modezeitschriften sind der Ansicht«, teilte uns Anwalt Glück mit, »daß der globale Atomkrieg wieder ›in‹ ist.«
»Lächerlich«, sagte Felix, »wo doch die Russen mit den strategischen Marschflugkörpern zur Zeit im Hintertreffen sind. Sie haben höchstens 7030 Stück.«
»Weniger«, warf Glück ein. »Nach meinen persönlichen Informationen höchstens 5500.«
»Einigen wir uns auf 6210«, schlug ich vor.
Dr. Birnbaum, der uns bis dahin mit herablassendem Blick und entsprechendem Lächeln zugehört hatte, übernahm das Gesprächskommando:
»Nun gut«, sagte er, »und was ist mit China?«
»Was soll mit China sein?«
»Ihr Biertischpolitiker! Ihr quasselt über alles mögliche, nur nicht über die Sache! Marschflugkörper? Blödsinn. Das Schicksal des Erdballs hängt ausschließlich von einem einzigen Faktor ab: Was werden die Chinesen tun?«
»Was sollen sie schon tun?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Dr. Birnbaum. »Alles, was ich weiß, ist, daß China nach der letzten Volkszählung 1008175288 Einwohner hatte. Haben Sie kapiert, meine Herren? Es gibt über eine Milliarde lebende Chinesen.«
»Eine beträchtliche Menge, ohne Zweifel.«
»Um diese Zahl zu veranschaulichen«, fuhr Dr. Birnbaum fort, »bedenkt folgendes: wenn man eine Milliarde Chinesen aufeinander stellt, würden sie bis an die Sonne reichen.«
»Nie im Leben«, erwiderte Felix, »die würden lange bevor sie auf der Sonne ankommen zu Chop Suey verschmoren.«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, äußerte sich Advokat Glück, »die Chinesen sind sehr diszipliniert.«
Vor meinem geistigen Auge versuchten eine Milliarde Chinesen den Himmel zu erreichen. Vor Jahren, als ich noch zur Schule ging, mußte sich der dicke Goldstein im Turnunterricht auf meine Schultern setzen. Nach einigen Augenblicken bin ich geräuschlos unter ihm zusammengebrochen.
Dr. Birnbaum bohrte weiter:
»China hat eine Armee von 150 Millionen Mann. Stellt euch einmal die Militärparade am i. Mai vor, wenn 150 Millionen Soldaten an der Tribüne vorbeimarschieren.«
Nach kurzer Kopfrechnung kamen wir zu dem Ergebnis, daß es ein ganzes Jahr dauern würde, ehe 150 Millionen Soldaten an der Tribüne vorbeimarschiert wären. Mit anderen Worten, sofort nach dem Ende der Parade müßten sie wieder von vorne beginnen, um im Anschluß daran von neuem anzufangen, ohne Ende, bis zum Weltuntergang. Schrecklich. Für mich persönlich ist bereits ein Anderthalb-Stunden-Spaziergang schlimm genug.
»Meine Herren, ein gut organisierter Bajonettangriff von 150 Millionen Draufgängern kann recht ungemütlich werden«, resümierte Dr. Birnbaum. »Wir müssen unsere Reservisten besser trainieren.«
Danach wandten wir uns der Rüstung zu:
»Ich gebe zu bedenken«, setzte Dr. Birnbaum fort, »wenn die Chinesen für jeden ihrer Soldaten nur eine einzige Uzi-Maschinenpistole made in Israel bestellen würden . . .«
Uns lief das Wasser im Munde zusammen. Hundertfünfzig Millionen Uzis, mein Gott! Nehmen wir an, daß wir nur 10 Dollar pro Stück verdienen würden . . . also gut, 5 Dollar . . .
»Vielleicht sollten wir den Chinesen eine schriftliche Offerte machen«, schlug ich vor.
Dr. Birnbaum warf mir einen vernichtenden Blick zu:
»Glauben Sie, daß die uns brauchen? Wenn die wollten, könnten sie jeden Tag eine neue Waffenfabrik bauen. Wir müssen mit dem Hut in der Hand zu Onkel Sam gehen, damit er uns ein paar schäbige Dollars für die Entwicklung unserer Industrie gibt. Wenn hingegen die Chinesen unsere Mäzene wären und jeder von denen uns nur einen Dollar gäbe, würden bereits 1008175288 Dollar in unserer Kasse klingeln.«
Wir begannen nachzudenken. Donnerwetter, so fragten wir uns, warum sollte uns eigentlich nicht jeder dämliche Chinese drei lausige Dollars spenden? Dann hätten wir eine Summe, die man bestenfalls in Lichtjahren messen könnte . . .
Die Küste des Mittelmeeres stellte uns auf den harten Boden der Realität zurück, indem sie 1008175288 Moskitos auf uns losließ. »Weg mit euch!« verscheuchten wir sie. »Geht nach China!« Fürwahr, würde jedes dieser Insekten nur einen Chinesen stechen, könnten sie an die 120000 Kubikmeter Blut aus ihnen heraussaugen. Andererseits wissen wir, daß so ein Moskito öfter als einmal stechen kann. In günstigen Fällen vielleicht dreimal. Das würde abgerundet . . .
Ich riß mich vom Blutbad los, um die chinesische Mauer, die sich in unseren Köpfen aufgetürmt hatte, zu durchbrechen:
»Was glaubt ihr, Freunde, wie unsere nächsten Wahlen mit neunzehn Parteien ausgehen werden?« versuchte ich unserem gelblichen Gespräch eine neue Wende zu geben. Ich verstummte aber sogleich, als mir klar wurde, wie albern meine Überlegungen waren. Die große, weltbewegende Frage, die in uns allen schwelte, wurde letztlich von Dr. Birnbaum persönlich in Worte gekleidet: »Wenn drei Millionen Juden neunzehn Parteien haben, dann müssen das bei einer Milliarde Chinesen 6333 Parteien sein.«
Uns schwanden die Sinne. Genaugenommen können die Chinesen von Glück reden, daß sie keine Juden sind. Andererseits, um Himmels willen, eine Milliarde Juden! Wenn nur die Hälfte von ihnen nach Israel käme, wären wir schon in einer wesentlich besseren geopolitischen Lage. Wir hätten bloß einige Parkplatzprobleme.
Je länger wir in diesen praktischen Gedanken schwelgten, desto größere Möglichkeiten eröffneten sich uns: »Wenn jeder Chinese nur einmal spuckte«, überlegte Dr. Birnbaum, »dann würde das Mittelmeer überlaufen . . .«
Ich blickte auf, und mein Herz stockte. Meine drei Kollegen hatten plötzlich einen gelben Schimmer in ihren Gesichtern.
»Entschuldigt mich«, sagte ich, indem ich hastig aufstand, »ich muß jetzt gehen. Es ist schon spät . . .«
Dr. Birnbaum grinste mich an:
»Wenn jeder Chinese sich nur eine Minute verspäten würde«, verkündete er, »wäre die Welt heute erst im Jahr 1857. Würden sie sich aber um 15 Minuten verspäten . . .«
Der erste, der auf ihn losging, war Rechtsanwalt Glück, gleich danach kam Felix. Ich trat erst als dritter nach Birnbaums Schienbein.
»Was ist los mit euch«, brüllte er auf, »seid ihr verrückt geworden?«
»Bedenken Sie«, zischte ich ihn an, »wie es wäre, wenn von einer Milliarde Chinesen Ihnen jeder nur einen Fußtritt gäbe.«
»Mehr«, Dr. Birnbaum wand sich am Boden, »während wir sprachen . . . kamen 80900 neue Chinesen . . . zur Welt . . .«
Wir ließen ihn liegen und ergriffen die Flucht. Kein Wunder, daß ich in dieser Nacht nicht schlafen konnte. Ich begann Schafe zu zählen und kam bis 71009407.
Am nächsten Morgen stand ich gar nicht mehr auf.
Wozu auch?