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Männer sind widersprüchliche Geschöpfe – man kann es gar nicht oft genug sagen
Bonnington Manor
Malmesbury, Wiltshire
Die Marquise Bonnington war es nicht gewöhnt, Widerrede von einem Vertreter des männlichen Geschlechts hinzunehmen. Sie hatte zwei Ehemänner und vierzehn männliche Schoßhunde tyrannisiert und überlebt. Ihrer Meinung nach stand es außer Frage, welche Geschöpfe die besseren Gefährten gewesen waren. Und was den Verstand anbetraf … ihr eigener Sohn war nur ein weiteres Beispiel für die Überlegenheit von Schoßhunden.
»Habe ich dich recht verstanden, dass du in einer Gärtnerhütte haust, Bonnington? In einer Gartenhütte?«
Ihr Sohn nickte. Die Marquise hüllte sich in Schweigen. Sie hatte ihn nicht gebeten, Platz zu nehmen, denn in ihrer Welt waren Söhne – wie Butler – so etwas Ähnliches wie Untergebene: Nur auf den eigenen Vorteil bedacht, mussten sie stets an ihre Stellung erinnert werden. Allerdings hatte ihr Sohn Sebastian nie einen Hang zu Aufsässigkeit gezeigt. Die Marquise musste sich eingestehen, dass er ein ganz passables Beispiel seines Geschlechtes war. Er hatte ihr nie einen sorgenvollen Moment bereitet – bis sie gehört hatte, dass er die Herzogin von Girton umworben und davon zu überzeugen versucht hatte, ihre Ehe annullieren zu lassen.
Das alles hatte katastrophal geendet, wie die Marquise von Anfang an prophezeit hatte. Am Ende war ihr Sohn auf den Kontinent verbannt, als nicht heiratsfähig und obendrein als Lügner und Betrüger gebrandmarkt worden. Das Einzige, was sie die letzten acht Monate aufrechterhalten hatte, war die Gewissheit, dass die Sünden junger und reicher Männer sich nach Ablauf eines Jahres in Wohlgefallen aufzulösen schienen. Sie hatte ihn im Sommer nach England zurückbeordern und in den Augen der Gesellschaft rehabilitieren wollen, indem sie ihn mit einer braven jungen Frau verheiratete, mit einer, wie sie selbst in jungen Jahren gewesen war.
Aber nun hatte er die Stirn besessen, ohne ihre Erlaubnis nach England zurückzukehren.
Sie legte ihre Hände auf den Knauf des Gehstockes, den sie vor sich aufgepflanzt hatte. »Darf ich fragen, warum du ein so unzuträgliches Domizil gewählt hast?«, fragte sie in einem sanften Ton, der jedoch keinen von beiden täuschte. Denn die Marquise duldete keinerlei Ungehorsam.
»Ich lebe in einer Gärtnerhütte, Mutter«, antwortete ihr Sohn mit einem strahlenden Lächeln, als wäre er ein Einfaltspinsel und kein Marquis, »weil ich in einem Garten arbeite, und zwar auf dem Besitz von –«
Sie hinderte ihn mit erhobener Hand am Weitersprechen. »Ich wünsche nicht, dass ihr Name in diesem Haus ausgesprochen wird.«
Er ging einfach über ihren Einspruch hinweg. »Auf dem Besitz der Lady Rawlings, Mutter, der Frau, die ich heiraten werde.«
Damit hatte die katastrophale Respektlosigkeit ihres Sohnes ihren Gipfel erreicht.
»Ich begreife es einfach nicht.« Heftige Missbilligung unterstrich jedes einzelne Wort. »Ich habe es ja noch verstanden, als du im letzten Jahr die Herzogin von Girton umworben hast. Oder dass Ambrogina Serrards Ehe niemals vollzogen wurde. Sie war eine ehrbare Frau, eine ausgezeichnete Wahl für einen Marquis, falls man die unglückselige Annullierung übersehen konnte, die früher oder später stattfinden musste.« Sie hielt inne und packte den Knauf ihres Stockes fester.
»Wie gesagt, ich habe verstehen können, was du an ihr fandest. Die Ehe mit einer Herzogin, selbst mit einer, die eine bestehende Ehe annullieren lassen muss, kann kein Fehler sein. Aber eine Ehe mit Esme Rawlings ist … ist mir vollkommen … ich fasse es einfach nicht! Die Frau hat sich vor den Augen ihres Ehemannes Liebhaber genommen. Jeder in London wusste, was Lady Rawlings trieb. Ihre eigene Mutter hat öffentlich Entsetzen über ihr Benehmen geäußert. Ich war bass erstaunt, als ich hörte, dass Lady Rawlings sogar den eigenen Mann wieder in ihrem Bett beglückte, denn man weiß doch, dass ganz London sich dort ein Stelldichein gegeben hat.«
»Wenn du so etwas noch einmal sagst, siehst du mich nie wieder.« Seine Stimme klang ruhig, aber die unterdrückte Wut war nicht zu überhören.
»Sei kein Narr!«, sagte sie scharf. »Meiner Einschätzung nach weiß man nicht einmal über die Hälfte ihrer Fehltritte Bescheid. Ich weiß zum Beispiel …« Dann wurden ihre Augen groß, und Sebastian erkannte, dass sie erst jetzt die volle Bedeutung seiner Worte erfasst hatte.
»Du willst sie heiraten? Ausgerechnet du, der ihren Ehemann umgebracht hat?«
»Ich habe ihren Mann nicht umgebracht«, entgegnete Sebastian und reckte das Kinn vor. »Rawlings’ Herz hat versagt, als ich unerwartet in ihrem Schlafgemach auftauchte.«
»Du hast ihren Mann umgebracht«, beharrte seine Mutter in einem Ton, der keine Widerrede duldete. »Du bist in das Zimmer eingedrungen, weil du das Bett deiner Herzogin gesucht hast – ach, komm mir doch nicht mit diesem Schnickschnack einer gefälschten Sondergenehmigung! Ich glaube nicht an das Gerede der Leute. Du hattest bereits mit der Herzogin ehelichen Umgang gepflogen, bist aber aus Versehen ins falsche Schlafzimmer geraten und auf einen Ehemann gestoßen. Und das nenne ich einen Mord! Zu meiner Zeit«, fügte sie mit grimmigem Triumph hinzu, »hat ein Mann sich vorher vergewissert, ob es das richtige Zimmer ist.«
Sebastian hätte ihr am liebsten eine Grimasse geschnitten. »Ich habe mich im Zimmer geirrt«, beharrte er stur, »und das hat leider unglückselige Folgen nach sich gezogen.«
»Aber warum in Dreiteufelsnamen musst du die Frau denn gleich heiraten? Ist das vielleicht nur die verworrene Vorstellung über die Begleichung einer Schuld? Wenn es so ist, dann sprich mal mit dem Vikar. Denn man kann das Dogma der Wiedergutmachung auch zu weit treiben, und ein Flittchen zu heiraten, bloß weil man dessen Mann umgebracht hat, kommt mir doch reichlich übertrieben vor!«
Sebastian seufzte und sah sich suchend im Zimmer um. Er hatte es satt, wie ein Schuljunge von seiner Mutter abgekanzelt zu werden. Sie thronte auf einem hochlehnigen Stuhl mit Klauenfüßen und Schlangenarmlehnen, den vielleicht der Prinzregent komfortabel finden mochte, und er stand immer noch vor ihr. Er entdeckte einen einigermaßen bequemen Stuhl in einer Ecke und schickte sich an, ihn zu holen.
»Was tust du da?«, bellte seine Mutter. »Ich habe dir nicht erlaubt, dich zu setzen, Bonnington!«
»Mein Name ist Sebastian«, entgegnete er, stellte den Stuhl entschlossen hin und setzte sich ihr gegenüber. »Mein Name ist Sebastian, und ich bin dein Sohn. Dein einziger Sohn. Mir wäre wirklich wohler zumute, wenn du nicht dauernd darauf herumreiten würdest, dass ich Lord Rawlings umgebracht habe. Er hatte ein schwaches Herz, und der Arzt hatte ihm nur noch bis Ende des Sommers gegeben. Es ist natürlich ein unglücklicher Umstand, dass ich die Ursache für seinen Anfall war … und ich würde alles dafür geben, nicht der Auslöser gewesen zu sein. Aber ich habe ihn nicht umgebracht.«
Die Marquise blinzelte verblüfft. Ihr stets höflicher, stets korrekter, fast schon langweiliger Sohn zeigte zum ersten Mal in seinem Leben Rückgrat. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen oder entsetzt sein sollte.
Sie entschied sich für Letzteres.
»Der einzige Mann, den ich jemals mit Vornamen angeredet habe, war dein Vater«, sagte sie verächtlich, »und dies auch nur in sehr intimen Situationen. Du, Bonnington, bist mein Sohn, und solltest mir als solcher den größten Respekt entgegenbringen.«
Er neigte den Kopf. »Das tue ich, Mutter.« Dennoch blieb er sitzen. Sebastian hatte ihr Aussehen geerbt. In ihrer Jugend pflegten die Männer sich das Haar zu pudern und die Frauen trugen Schönheitspflästerchen. Es wäre jedoch zu schade gewesen, wenn Sebastian sich das Haar gepudert hätte. Er hatte ihre Haare geerbt, Haar von der Farbe der Sonne, wie Graham immer gesagt hatte. Natürlich hatte Graham selbst auch nicht schlecht ausgesehen. Ihr Sohn schaute sie aus den Augen seines Vaters an. Nach dem Tod ihres ersten Mannes hatte sie den schönsten Mann Londons geheiratet. Graham Bonnington war zwar kein gewandter Gesprächspartner gewesen, aber das hatte weder ihn noch sie gestört. Er hatte ihr stets zugehört. Denn sie hatte für beide genug zu sagen.
Sie stieß ihren Stock mit Nachdruck auf den Boden. Manche der jüngeren Bediensteten pflegten vor Schreck zusammenzufahren, wenn sie diesen Stock vernahmen, doch ihr Sohn betrachtete nur angelegentlich den Boden, als suche er nach verborgenen Ritzen. Die Marquise beschloss, wieder auf das Kernthema zu kommen.
»Du kannst keine Dirne heiraten, nur weil du irrigerweise glaubst, ihr gegenüber eine Verpflichtung zu haben. Die Bonningtons sind eine alte und ehrwürdige Familie. Zahle Lady Rawlings eine Entschädigung, wenn es unbedingt sein muss. Unser Vermögen kann das tragen.«
»Ich habe die Absicht, sie zu heiraten«, sagte Sebastian. »Aber nicht, weil ich mich dazu verpflichtet fühle.«
»Nein?« Sie legte in das Wort so viel Verachtung, wie sie vermochte.
»Nein. Sondern, weil ich sie liebe.«
Die Marquise schloss kurz die Augen. Der Tag hatte bereits schrecklich begonnen, als sie feststellen musste, dass ihr Sohn wieder in England weilte. Nun schien er sich mit rasender Geschwindigkeit zu etwas absolut Widerwärtigem zu steigern.
»In unseren Kreisen heiratet man nicht aus Liebe«, erklärte sie kategorisch. »Heirate eine anständige Frau, dann kannst du dir später immer noch überlegen, was du mit Lady Rawlings anfangen willst.«
»Ich liebe sie, und ich werde sie zur Frau nehmen.«
»Ich komme mir vor wie in einer komischen Oper. Dabei verabscheue ich Musiktheater jeder Art. Wirst du mir gleich etwas vorsingen?«
»Nicht jetzt.«
»Mal sehen, ob ich dich recht verstanden habe: Du glaubst in eine Dirne verliebt zu sein, die ihr Bett mit halb London geteilt hat, und deren Mann du zwar nicht getötet, aber doch in die Nähe des Grabes gebracht hast?«
»Lass dich ein letztes Mal warnen, Mutter!«, stieß er durch seine zusammengebissenen Zähne hervor. »Du sprichst von der Frau, die ich heiraten will, von der Frau, die deinen Titel erben wird. Sprichst du nur noch einmal schlecht von ihr, dann wirst du nicht mehr Teil unseres Lebens sein.«
Die Marquise erhob sich ein wenig mühsam – die Gicht in ihrem linken Fuß wurde ständig schlimmer – und klopfte noch einmal mit Nachdruck auf den Boden, was jedoch wenig Wirkung zeigte. Dennoch sah sie erfreut, dass ihr Sohn sich ebenfalls erhob. Immerhin hatte er noch nicht sämtliche guten Manieren verloren.
»An dem Tag, an dem du die Dirne heiratest, werde ich dich verstoßen«, sagte sie in einem Ton, als rede sie über das Wetter. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du mit solchen Folgen gerechnet hast. Ich darf dich vielleicht daran erinnern, dass mein Erbteil nicht unbeträchtlich ist. Jedes Kind, das du …«
Sebastian stöhnte innerlich. Nun war auch der zweite Groschen gefallen.
»Mein Gott, die Frau ist enceinte! Ich hatte ja ganz vergessen, dass sie ein Kind erwartet. Sag jetzt nicht, dass du Esme Rawlings vor ihrer Niederkunft heiraten willst!«
Sebastian spielte mit der Vorstellung, damit zu drohen, Esme schon morgen zu heiraten, um ihr ungeborenes Kind zu seinem Erben zu machen. Aber er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass seine Mutter Herzrasen bekam. Miles Rawlings’ Tod lastete bereits schwer genug auf seinem Gewissen. Und außerdem weigerte sich Esme ja immer noch, ihn zu heiraten.
»Lady Rawlings hat meinen Antrag nicht angenommen«, gestand er.
Grimmige Befriedigung spiegelte sich in der Miene seiner Mutter. »Nun, so zeigt sich wenigstens einer der Beteiligten vernünftig. Natürlich kann sie dich nicht heiraten. Du hast ihren Mann getötet.« Sie begann, unter Zuhilfenahme des Stockes auf die Tür zuzuhumpeln. »Ich weiß nicht, woher du diese teuflische Selbstaufopferung hast. Von deinem Vater jedenfalls nicht.«
Plötzlich brach sich der Zorn Bahn, der lange in ihm gebrodelt hatte. Er überholte seine Mutter und vertrat ihr den Weg.
»Geh beiseite!«, befahl sie.
»Ich werde Esme Rawlings dazu bringen, mich zu heiraten. Sie wird meinen Antrag annehmen, weil auch sie mich liebt. Außerdem erwarte ich, dass du zur Hochzeit kommst und dich anständig benimmst.«
»Es wird keine Hochzeit geben«, gab seine Mutter seelenruhig zurück. »Einen Augenblick lang habe ich mir Sorgen gemacht, das gebe ich zu. Aber wie ich Esme Rawlings kenne, ist sie nicht nur lasterhaft, sondern auch klug. Sie wird dich nicht heiraten, ja, sie wird es nicht einmal in Erwägung ziehen. Ich hege keinen Zweifel daran, dass Rawlings sie gut versorgt zurückgelassen hat, und eine Frau wie sie braucht keinen Beschützer und noch viel weniger einen Ehemann. Und wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest: Ich möchte mich zurückziehen.«
Und sie ging an ihm vorbei.
Sebastian fuhr auf dem Absatz herum und ging zum Fenster. Er ballte die Faust, zog sie aber zurück, bevor er das Fenster einschlagen konnte. Seine Mutter hatte nicht mehr gesagt als Esme selbst, obwohl diese nie behauptet hatte, er sei nicht der Vater des Kindes. Aber vermutlich zog sie es vor, Miles für den Vater zu halten. Wie konnte ein Mann die Vaterstelle an einem Kind vertreten, wenn alle Welt – einschließlich seiner Mutter – glaubte, er habe den Vater des Kindes umgebracht?
Sebastian Bonnington hatte in seinem Leben nicht viele Hindernisse zu überwinden gehabt. Dank seiner Mutter verfügte er über ein bemerkenswert gutes Aussehen und starre Prinzipien. Andere Männer mochten ihre Geliebten oder den Spieltisch aufsuchen und Besitz und Verstand an ihre Laster verlieren … Er hatte nur zugeschaut und nie teilgenommen. Bevor er Esme kennenlernte, hatte er nie auch nur den Drang verspürt, etwas Ungehöriges zu tun.
Er schüttelte den Kopf und starrte in den Garten, ohne etwas zu sehen. Oh, sicher, er liebte Esmes reizvolle Kurven und ihre Schönheit, aber vor allem waren es ihre Augen, die ihn unwiderstehlich anzogen. Auf der ganzen Welt gab es keine Frau mit solchen Augen, die voller Verführungskraft und gleichzeitig voller geheimer Trauer waren. Diese Augen hatten ihm den Kopf verdreht, das Herz geraubt, sie hatten ihn um den Verstand gebracht. Etwas an diesen Augen brachte ihn dazu, sie zu lieben, im Guten wie im Bösen.
Und wenn es unschicklich oder töricht war, sie zu lieben und zu heiraten, dann hatte er eben keine Wahl. Er musste nur noch seine Liebste zu dieser Ansicht bekehren.