18

Die Neugier grassiert

Rees Holland, der Earl of Godwin, war hundsmiserabler Laune, wie sein Butler Leke im Dienstbotentrakt verkündete. »Hat einen merkwürdigen Brief von seiner Frau gekriegt«, berichtete er.

Rosy, Hausmädchen und Lekes Nichte, schnappte nach Luft. »An meinem letzten freien Tag hab ich eine Pantomime gesehen, wo der Ehemann einen Liebesbrief vergiftet hat, und als seine Frau den Brief geküsst hat, ist sie gestorben. Vielleicht hat die Gräfin diese Pantomime auch gesehen, und jetzt hat sie ihn vergiftet!«

»Er verdient es ja auch«, brummte Leke. Er hielt den Earl für einen schwierigen Arbeitgeber, und zudem gefiel ihm die laxe Haushaltsführung nicht. Einerseits war sein Herr ein Aristokrat, und das gefiel ihm. Andererseits besaß der Mann einen niederträchtigen Charakter und beherbergte obendrein in den Gemächern der Gräfin eine Dirne.

»Im Übrigen gibt’s da was aufzuwischen, du solltest dich also gleich dranmachen.«

»Jetzt sag nicht, dass er schon wieder Kaffee auf seine ganzen Papiere verschüttet hat«, murrte Rosy mit finsterer Miene. »Wenn er diese Papiere nicht bald aufräumt, dann such ich mir eine andere Stellung. Wie soll ich denn sauber machen, wenn ich bis zu den Knöcheln in Schmutz stehe?«

»Rühr seine Papiere bloß nicht an!«, warnte Leke. »Dann geht es dir an den Kragen. Außerdem ist es diesmal nicht Kaffee, sondern bloß Wasser. Das Flittchen war so dumm, eine Vase auf sein Klavier zu stellen.«

»Er ist so ein boshafter Kerl«, sagte Rosy genüsslich. »Ich weiß nicht, wie das Flittchen das aushält.«

»Das Flittchen« war Alina McKenna, vormals Opernsängerin und nun die Geliebte des übellaunigen Earls. Der Begriff Flittchen war nicht unbedingt abwertend gemeint, denn sowohl Leke als auch seine Nichte mochten die junge Lina. Natürlich war es nicht opportun, eine solche Frau zu mögen. Aber sie ließ sich leichter bedienen als viele ehrbare Damen der Gesellschaft, worüber insbesondere Leke bestens Bescheid wusste.

Er zuckte die Achseln. »Zum Glück ist der Herr endlich ausgegangen.«

»Wohin?«

»Woher soll ich das wissen? Hat bestimmt mit dem Brief seiner Frau zu tun. Du musst dich jetzt an die Arbeit machen, Rosy, bevor das Flittchen nach Hause kommt.« Dass Rosys Mum ihrer Tochter überhaupt erlaubt hatte, in einem so übel beleumdeten Haus zu arbeiten, war allein der Anwesenheit ihres Onkels zu verdanken. Er nahm seine Verantwortung sehr ernst und teilte Rosys Arbeit so ein, dass sie die Bewohner des Hauses höchst selten zu Gesicht bekam.

»Dann sollte ich jetzt lieber mal im Wohnzimmer saubermachen«, sagte Rosy. Eine seltene Gelegenheit, wenn der Herr des Hauses einmal nicht anwesend war und auf einem seiner drei Klaviere herumhämmerte. Und jetzt stand das Zimmer vermutlich unter Wasser.

Einen Augenblick später stürzte sie schon wieder die Treppe hinunter und fand ihren Onkel beim Silberputzen. »Ich hab den Brief gefunden!«, verkündete sie. »Den Brief von seiner Frau. Er hat ihn zusammengeknüllt und auf dem Klavier liegen lassen.«

Leke wirkte nicht begeistert.

»Jetzt mach schon, Onkel John! Du musst ihn einfach lesen!«

»Ich sollte es lieber nicht tun.«

»Mum wird dich umbringen, wenn du ihn nicht liest«, sagte Rosy genüsslich. Und das stimmte durchaus. Rosys bedauernswerte Mum, Lekes einzige Schwester, war ans Haus gefesselt, um für Rosys kleine Schwestern zu sorgen. Sie lebte für die Skandalgeschichten aus dem Hause des Earls, die Leke und Rosy ihr getreulich hinterbrachten. Davon und von den Klatschzeitungen, die das Flittchen las und überall herumliegen ließ.

Leke schürzte die Lippen, um seine Missbilligung auszudrücken, dann strich er den Brief glatt. »Er ist tatsächlich von der Gräfin«, bestätigte er. »Sieht so aus, als weilte sie irgendwo in Wiltshire.« Er warf einen Blick auf den Absender. »Kann’s nicht genau erkennen. Shambly House vielleicht? Aber das kann’s nicht sein.«

»Ist doch egal, wo sie ist!« Rosy hüpfte vor Aufregung auf einem Bein. »Was schreibt sie? Wo ist er?«

»Rees«, las Leke vor. »Ich bin an Pleuritis erkrankt. Wenn du mich noch lebend sehen willst, komm bitte, so schnell du kannst.«

Rosy schnappte vor Schreck nach Luft. »Nein!«

Leke überflog das Schreiben erneut. »Das steht da aber. Ich finde es ein wenig merkwürdig – was ist denn Pleuritis überhaupt?«

»Bestimmt eine ganz, ganz schlimme Krankheit!«, rief Rosy und rang die Hände. »Ach, die arme Gräfin! Ich hoffe ja nur, dass sie davon nicht verunstaltet wird.«

»Du kennst sie doch gar nicht. Weinst du etwa?«

Denn Rosy wischte sich das Gesicht ab. »Es ist doch zu traurig! Wahrscheinlich hat sie sich verzweifelt gewünscht, dass ihr Mann zu ihr zurückkommt, und jetzt ist alles zu spät!«

»Gebrauch mal deinen Kopf, Mädchen. Wenn du die Frau des Earls wärst, würdest du dich nach seiner Rückkehr sehnen?«

Rosy überlegte. »Er ist aber ein schöner Mann!«

Leke schnaubte verächtlich. »Schön wie ein wilder Eber vielleicht! Sieh den Tatsachen ins Gesicht, Rosy. Du wärst doch nicht gern mit so einem Mann verheiratet, oder?«

»Nein, natürlich nicht! Er ist furchtbar alt und obendrein schmutzig.«

»Die Gräfin wäre ohne ihn besser dran. Trotzdem komisch, das mit der Pleuritis. Pleuritis. Was ist das bloß?«

»Mum wird’s wissen«, sagte Rosy zuversichtlich.

»Aber wir beide haben in den nächsten zwei Wochen keinen einzigen Tag frei«, gab ihr Onkel zu bedenken.

»Aber du könntest doch heute Nachmittag zu ihr gehen«, bettelte Rosy. »Das kannst du doch. Denn der Herr ist nach Wiltshire gereist, an das Sterbebett seiner Frau!« Theatralisch riss sie die Augen auf.

Leke zögerte und musterte den Brief.

»Es ist schließlich unsere Herrin, die im Sterben liegt. Wir müssen doch wissen, warum! Was ist, wenn die Leute uns danach fragen?«

»Ich wüsste nicht, was das für einen Unterschied macht. Wenn sie stirbt, dann brauchen wir eben Trauerkleider. Das heißt, wenn der Herr es überhaupt für angebracht hält, dass wir Trauer tragen. Vielleicht werden er und das Flittchen einfach so weitermachen wie bisher.«

»Aber nein, das können sie doch nicht!« Rosy rang vor Aufregung die Hände. »Vielleicht wird er nun endlich zur Vernunft kommen und diese –«

»Du träumst wohl, Mädel. Geh jetzt nach oben in den Salon, und ich schaue, ob ich mit dem Silber fertig werde. Danach gehe ich auf einen Sprung bei deiner Mutter vorbei.«

Erst am Abend trafen Rosy und ihr Onkel wieder aufeinander. Der Haushalt war klein, zum einen wegen der unkonventionellen Lebensweise des Earls und zum anderen deshalb, weil kein anständiger Diener lange in diesem Haus des Frevels bleiben wollte. Zum Abendessen in der Dienerstube versammelten sich lediglich die Köchin, Rosy, Leke und drei Lakaien, von denen sich keiner durch sonderliche Klugheit auszeichnete. Die Spülfrau und der Schuhputzer aßen in der Küche.

Rosy hatte der Köchin bereits alle Einzelheiten berichtet, als Leke erschien und seinen Platz am Kopfende der Tafel einnahm.

Rosy wartete, bis er ein kurzes Tischgebet gesprochen hatte, dann platzte sie heraus: »Was ist es denn, Onkel? Was ist Pleuritis? Hat Mum es gewusst?«

»Deine Mutter ist eine scharfsinnige Frau«, erwiderte Leke und bediente sich an der Platte mit Roastbeef, die ihm von James, dem dritten Lakaien, hingehalten wurde. »Leg deine Hand unter die Platte, James. Du willst doch nicht, dass wir deine Finger sehen müssen, hm? Da vergeht einem ja der Appetit.«

James versteckte seine Finger gehorsam, und Leke nickte beifällig.

»Sie wusste, was Pleuritis ist, das kannst du mir glauben.«

»Ich habe immer gedacht, Pleuritis ist eine Kinderkrankheit«, warf die Köchin ein. Sie war eine stämmige Frau mit roten Apfelbäckchen und einem breiten Lächeln. Einst hatte sie für den Prinzen von Wales gekocht und diese Ehre nie vergessen. Der Prinz hatte sie für ein Küchengenie gehalten. Der Earl of Godwin musste ihr ein Jahresgehalt von einhundert Guineen zahlen, damit sie nicht aus seinen Diensten schied.

»Das stimmt«, sagte Leke. »Sie sind auch so eine Schlaue, genau wie Rosys Mum. Es ist tatsächlich eine Kinderkrankheit. Meine Schwester hat nie davon gehört, dass ein Erwachsener sie bekommen kann.«

»Aber die Gräfin ist doch kein Kind mehr«, sagte Rosy verblüfft.

»Ich kenne jemanden, der sich mit Masern ansteckte und daran gestorben ist«, teilte ihnen die Köchin mit. »Mr Leke, was halten Sie nun von meiner Lammpastete?« Da sie nie Besucher zu bekochen hatte, war die Köchin dazu übergegangen, dem Dienstpersonal geradezu fürstliche Mahlzeiten aufzutischen. »Man muss doch in Übung bleiben, nicht wahr?«, pflegte sie ihre Anstrengungen zu rechtfertigen. Und dem Herrn des Hauses fiel ja sowieso nie auf, wie hoch die Lebensmittelrechnung war. Reich wie Krösus, der Mann.

»Sehr gut«, sagte Leke und kaute andächtig. »Mit einer Prise Piment, nicht wahr?«

»Ganz recht«, antwortete die Köchin. »Ich weiß einen Kenner zu schätzen, wirklich.« Sie strahlte Mr Leke an und wandte sich dann Rosy zu. »Die Menschen sterben auf die merkwürdigsten Arten und Weisen. Man kann nie wissen, was einem widerfahren wird. Ei, erst neulich habe ich gehört, dass ein Mann geradewegs übers Moor geritten ist, und zwar am helllichten Tag, wohlgemerkt, und …«