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Am Sterbebett wird Walzer getanzt

Wenn die eigene Frau im Sterben liegt, fällt es schwer, sich nicht schuldig zu fühlen. Nein, es ist sogar verdammt unmöglich, sich nicht schuldig zu fühlen, dachte Rees. Immerhin war er schon jahrelang ihr Mann – fünf oder sechs Jahre, schätzte er. Er hatte Helene von der Schulbank weg geheiratet. Sie waren beide viel zu jung für die Ehe gewesen. Und doch war der Fehlschlag nicht allein seine Schuld, auch wenn sie es steif und fest behauptete.

Dennoch konnte er sich nicht vorstellen, dass sie plötzlich nicht mehr da wäre. Dass sie ihm keine nörgelnden Briefe mehr schickte oder ihren Abscheu kundtat, wenn sie einander zufällig begegneten. Dass sie ihm keine beißenden Kritiken mehr schickte, wenn er eine neue Komposition herausbrachte, in denen sie den Finger genau auf die Schwachstellen legte und das Gelungene mit keinem Wort erwähnte.

Verdammt, es war doch nicht möglich, dass sie einfach so sterben sollte!

Erst vor wenigen Monaten war Rees bei Lady Rawlings gewesen. Damals war Helene ihm kerngesund vorgekommen. Ein bisschen zu dünn vielleicht. Aber sie war ja immer schon schlank gewesen. Nicht wie Lina, die einen üppigen, kurvenreichen Körper besaß. Rees runzelte die Stirn. Es war bestimmt nicht anständig, an die Geliebte zu denken, während er auf dem Weg zum Sterbebett seiner Ehefrau war.

Erleichterung durchströmte ihn, als die Kutsche endlich vor Shantill House hielt. Nicht, dass er seine Frau liebte – beileibe nicht. Derartige Gefühle hatten in seiner Ehe für ihn keinen Platz. Es war lediglich naturbedingte Sorge, die seine Brust wie eine eiserne Klammer umspannte. Er ballte die Fäuste, hätte vor Wut jemanden anbrüllen können. Wen? Helene etwa, weil sie krank geworden war? Nicht doch!

Er musste ruhig und gefasst auftreten und ihr etwas Liebevolles sagen. Weil sie im Sterben lag. Weil seine scharfzüngige, frigide kleine Frau im Sterben lag.

Eigentlich hätte er erleichtert sein müssen. Stattdessen saß ihm ein Kloß im Hals, und er musste sich beim Aussteigen an der Kutschentür festhalten, weil ihm für einen Moment die Knie weich wurden.

Aus dem missbilligenden Blick des Butlers – Slope, hieß er nicht so? – schloss Rees, dass es ein Fehler gewesen war, sich vor Fahrtantritt nicht umzuziehen. Verlegen fuhr er sich mit der Hand durch die Haare und zerzauste sie damit nur noch mehr. »Ich will zu meiner Frau«, sagte er schroff, drängte sich an Slope vorbei und stürmte die Treppe hinauf. Er wusste, welches Zimmer Helene bewohnte, wenn sie bei Esme war. Selbstverständlich suchte er sie nie in ihrem Schlafzimmer auf, aber er hatte sich gemerkt, wo es war.

Von unten hörte er Slope rufen. Rees blieb stehen und funkelte den Butler wütend an. »Was ist denn, Mann?«

»Die Gräfin hält sich nicht in ihrem Zimmer auf. Sie finden sie im Rosensalon.«

Rees stutzte. Ein merkwürdiger Ort für eine Sterbende, aber stand es ihm zu, darüber zu urteilen? Vielleicht würde sie ja nicht vor dem morgigen Tag sterben. Er stürzte die Treppe hinunter, eilte an Slope vorbei, riss die Tür zum Salon auf – und blieb wie angewurzelt stehen.

Vor seinen erstaunten Augen entfaltete sich eine der typischen geruhsamen Szenen englischen Landlebens. Ein wohlbeleibter Aristokrat döste in einem Sessel am Kamin. Ein hübsches kleines Ding mit grellrot bemalten Lippen beugte sich über einen Stickrahmen. Außerdem weilten im Salon verteilt noch andere Relikte der englischen Aristokratie.

Doch Rees’ Aufmerksamkeit wurde unweigerlich von dem Klavier angezogen.

Er hätte Helenes Spiel überall erkannt. Sie saß am Klavier, doch beileibe nicht allein. Eine von Beethovens Sonaten in Es-Dur erklang. Helene lachte fröhlich. Ihr Mitspieler neigte sich zur Seite und küsste sie auf die Wange. Er küsste Helene! Zugegeben, es war nur ein flüchtiger Kuss. Doch Helene errötete.

Rees wurde es heiß und kalt zugleich, während er wie gebannt an der Tür stand. Plötzlich bemerkte er Slope neben sich. Helenes Haar sah in der blassen Wintersonne wie gesponnenes Silber aus. Wie … lebendig sie war! Die beiden begannen wieder zu spielen, und sie wiegte sich zur Musik hin und her, wobei ihre Schulter leicht den Arm ihres Begleiters berührte. Ihr Gesicht leuchtete vor Freude, wie immer, wenn sie Klavier spielte. Zwar hatte Rees nur wenige Monate mit ihr zusammengelebt, doch ihren Ausdruck beim Spielen hatte er nie vergessen.

Das war der Grund gewesen, warum er sich in sie verliebt hatte. Nach dieser Erkenntnis kehrte er mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurück. Verliebt? Ha!

»Wie ich sehe, war die Nachricht von deinem baldigen Ableben ein wenig übereilt«, sagte er im garstigsten Ton, dessen er fähig war. Der Earl of Godwin war ein wahrer Meister der Kränkung.

Helene schaute auf, und ihr Mund formte ein überraschtes O. Im nächsten Augenblick wandte sie sich jedoch an ihren Begleiter und sagte bedauernd: »Es tut mir leid. Ich glaube, ich bin ein wenig aus dem Takt gekommen, Stephen.« Und wieder flogen ihre Hände über die Tasten, als sei nichts geschehen.

Stephen? Wer zum Teufel war Stephen?

Rees meinte sich vage an den Mann zu erinnern. Sah ganz gut aus, auf eine blasse englische Art. Verdammt noch eins, sie hatte ihn reingelegt. Obwohl ihm nicht ganz klar war, warum sie ihn als Zuschauer herbeizitiert hatte. Warum wollte seine Frau, dass er nach ihrer Pfeife tanzte? Er würde ihr gewiss nicht die Genugtuung gönnen, sich mit seiner Anwesenheit zu brüsten. Am besten machte er sofort kehrt und fuhr wieder nach London. Doch er war zwei Tage lang unterwegs gewesen, und seine Pferde waren erschöpft.

»Verzeihung«, vernahm er eine belustigte Stimme neben sich. Es war Lady Withers, die ihn freundlich anlächelte. Sie war immer noch eine nett anzusehende Frau, trotz ihres Alters, und überdies Esme Rawlings Tante, falls Rees sich nicht irrte.

»Lord Godwin«, hob sie nun an. »Wie nett, dass Sie kommen konnten! Die Gräfin erwähnte bereits, dass Sie einen Kurzbesuch planten.« Und ihr Blick glitt hinüber zu seiner Frau, die sich behaglich an ihren Mitspieler lehnte.

»Wer zum Teufel ist das?«, knurrte Rees und wies mit dem Kinn in Richtung Klavier, wobei er ganz vergaß, Lady Withers angemessen zu begrüßen.

Sie tat, als sei der Salon dermaßen von Angehörigen der englischen Aristokratie bevölkert, dass es ihr Schwierigkeiten bereitete, den bleichen Gentleman am Klavier zu erkennen. »Mr Fairfax-Lacy ist der Parlamentsabgeordnete für die Grafschaft Oxfordshire und ein überaus kluger Mann. Er trägt auch den Titel eines Earl of Spade, macht jedoch keinen Gebrauch davon. Wir sind alle sehr angetan von ihm.«

Rees nahm sich zusammen. Er wollte verdammt sein, wenn er vor der grienenden Viscountess den eifersüchtigen Ehemann herauskehrte! Und da er für Helene ohnehin keine zärtlichen Gefühle hegte, würde ihm das auch nicht schwerfallen. Es war jedoch die Frage, ob Mordlust zu den ehelichen Gefühlen zählte oder nicht.

Und dann stand Helene vor ihm, reichte ihm die Hand und sank in einen Knicks. »Rees, ich muss mich für meinen Brief entschuldigen«, erklärte sie munter. »Die Hebamme aus dem Dorf vermutete zunächst, es könne sich um eine Rippenfellentzündung handeln, doch am Ende hat es sich als etwas weitaus Harmloseres herausgestellt.«

»Ach ja?«

»Nun ja, eine Pleuritis beginnt ebenfalls mit einem roten Ausschlag. Bei mir handelte es sich aber lediglich um ein Kussekzem«, erklärte sie mit verlegenem Lachen. »Bin ich nicht naiv? Als wir geheiratet haben, warst du wohl noch zu jung, und deshalb kannte ich so etwas überhaupt nicht.«

Sie lachte ein wenig atemlos, wartete wohl nervös auf seinen Ausbruch. Aber diese Genugtuung würde er ihr nicht bereiten. Er schaute sie lediglich an, und das Lachen erstarb ihr auf den Lippen. »Du bist immer noch meine Frau …«, begann er.

Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. Nein, das war beileibe nicht mehr das einfältige junge Ding, das er geheiratet hatte! Nicht die Helene nach der Rückkehr aus Gretna Green, ein Mädchen, das abwechselnd hysterische Anfälle und Tränenausbrüche bekam. Diese neue Helene war selbstsicher, kühl und unnahbar.

»Nur dem Namen nach, Rees. Du hast dir längst eine andere in dein Haus geholt.«

Er blickte über ihre Schulter zu Fairfax-Lacy hinüber, der nun zu Tonleitern übergegangen war. Der Mann konnte spielen. Höchstwahrscheinlich tat er auch noch etwas anderes mit Helene. »Ein Gentleman, der dir während deiner Scheidung zur Seite stehen will, bleibt nicht am Klavier sitzen, während du deinem erzürnten Ehemann die Stirn bietest«, sagte er wutbebend.

»Dich kann man wohl kaum als erzürnten Ehemann bezeichnen«, entgegnete sie kühl. »Ich habe Stephen gebeten, am Klavier zu bleiben, weil ich nicht glaube, dass du an seiner Bekanntschaft interessiert bist. Und wer hat etwas von Scheidung gesagt?«

»Du hast dir also einen Liebhaber genommen!«, fauchte Rees, der nahe daran war, diesem aalglatten Bastard die Faust ins Gesicht zu schmettern. »Was willst du eigentlich, Helene?«

»Vergnügen«, erwiderte sie, und ihr Lächeln tat ihm weh. »Mein Vergnügen, Rees.«

Er ließ sie brüsk stehen, drehte sich vor der Tür aber noch einmal um. »Wer hat das Beethovenstück für vier Hände arrangiert?«

»Ich. Ich habe alle seine Sonaten vierhändig gesetzt.«

Er hätte es wissen müssen. Die Sonate hatte halb nach Beethoven und halb nach Helene geklungen, was eine merkwürdige Mischung ergab.

»Da wir das nun geklärt haben«, schaltete sich Lady Withers fröhlich ein, »kann ich Ihnen jetzt ja Ihr Zimmer zeigen, Lord Godwin. Ich hoffe, dass Sie uns recht lange mit Ihrer Gesellschaft beehren werden.«

Rees drehte sich fauchend zu ihr um wie ein in die Enge getriebener Löwe, dann stapfte er laut hinaus. Wie Arabella später Esme berichtete, die die Szene im Rosensalon verpasst hatte, habe der Earl of Godwin aufs Haar genau dem »wilden Mann« aus dem tiefsten Afrika geähnelt, den sie einmal in einem Wanderzirkus gesehen hatte.

»Seine Haare haben sich buchstäblich gesträubt, und dazu noch dieses Fauchen!« Sie wandte sich an Lady Godwin. »Ganz ehrlich, Helene, Ihr Mann ist … beeindruckend.« Es klang, als zolle sie ihm wider Willen Respekt.

»Oh, Rees kann gut fauchen«, lautete Helenes Kommentar dazu. Arabella, Esme und Helene saßen gemütlich in Esmes Zimmer bei Tee und Ingwerkeksen.

Esme sah von ihrem Teller auf. Erheiterung stand in ihren Augen. »Das Tollste daran ist doch, dass er fauchte, weil du es geschafft hast, an seiner Galle zu zerren – oder wie auch immer dieser Ausdruck lautet, den du ständig im Munde führst.«

»Ihm die Galle überlaufen zu lassen«, präzisierte Helene, und auch sie wirkte überaus vergnügt. »Unser Gespräch hat ihm wirklich zugesetzt, meinen Sie nicht auch, Lady Withers?«

»Zugesetzt ist nicht ganz das richtige Wort.« Arabella rührte ihren Tee um. »Er war erbost. Absolut erbost. Krebsrot vor Wut.«

»Ich hoffe nur, Rees ist nicht zu erbost«, meinte Esme. »Es geht doch nicht an, dass mein zukünftiger Mann von deinem Gatten zerfleischt wird, Helene. Und wenn die Diener erst ausplauderten, was sie über uns wissen, dann wäre der Skandal wohl kaum noch zu überbieten.«

Helene dachte darüber nach, was die Diener zu wissen glaubten und was tatsächlich geschehen war. »Ich finde, du hättest mir Stephen ruhig lassen können«, gab sie Esme ein wenig ungehalten zu verstehen. »Was ist, wenn Rees dahinterkommt, dass du meinen Liebhaber zu deinem zukünftigen Ehemann erkoren hast?«

»Ich glaube kaum, dass die Gefahr besteht, dass dein Mann mit Stephen darüber spricht«, versicherte Esme. »Rees hat bereits verkündet, dass er höchstens einen Tag bleiben wird, also muss Stephen nur für kurze Zeit mit einer Verlobten und einer Geliebten jonglieren. Und er wäre beileibe nicht der Erste in einer solchen Lage. Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich mich mit Miles und Lady Randolph Childe an einem Tisch wiedergefunden habe. Miles hat sich solch schwierigen Situationen stets gewachsen gezeigt, und wenn er es konnte, dann kann Stephen es erst recht!«

Arabella prustete los. »Das wird ja ein interessantes Dinner! Mr Fairfax-Lacy wird eine recht schwierige Aufgabe zu meistern haben. Sie, Helene, möchten ihn Ihrem Ehemann präsentieren, während du, Esme, den Marquis mit ihm beeindrucken willst. Hmmm … soll ich nicht Bea bitten, für ein wenig Ablenkung zu sorgen und mit Lord Godwin zu flirten?«

»Zu solchen Mitteln müssen wir nicht greifen«, beeilte sich Helene zu sagen. »Und wisst ihr was: Ich habe das eigenartige Gefühl, dass Bea möglicherweise eine Neigung zu Mr Fairfax-Lacy gefasst hat. Sie sieht ihn immer so merkwürdig an.«

Esme lachte. »Damit wären wir ja unser drei, die den armen Mann zum Opfer erkoren haben. Arabella, glaubst du nicht, dass du auch eine Verwendung für Mr Fairfax-Lacy finden könntest?«

»Mit ziemlicher Sicherheit nicht, Darling.« Arabella nahm sich einen perfekt braun gebackenen Ingwerkeks. »Der arme Mann muss doch zu Tode erschöpft sein. Und ich mag müde Männer nicht. Obwohl es andererseits eine belebende Erfahrung für ihn sein muss«, fuhr sie ein wenig unlogisch fort. »Er war ja auf dem besten Weg, sich zu einem alten Stockfisch zu entwickeln. Aber heute Morgen sah er richtig aufgekratzt aus. Was natürlich Ihr Verdienst ist«, sagte sie lobend zu Helene.

Helene hatte ein schlechtes Gewissen. An ihr lag es wohl kaum, wenn Stephen einen aufgekratzten Eindruck machte, auch wenn das ganze Haus das glaubte. Esme strahlte sie ebenfalls anerkennend an. Helene fühlte sich wirklich schuldig.

»Ich bin richtig stolz auf Helene«, sagte Esme. »Du kannst dir nicht vorstellen, Arabella, wie grausam sie von Rees behandelt worden ist. Aber trotzdem hat sie bisher niemals rebelliert.«

»Aber jetzt, da Sie rebelliert haben«, wandte sich Arabella an Helene, »was erwarten Sie da für sich? Möchten Sie die Verbindung mit Mr Fairfax-Lacy aufrechterhalten? Immer vorausgesetzt, dass Esme auf ihren zweifelhaften Anspruch verzichten wird.«

»Ich würde meinen Anspruch nicht als zweifelhaft bezeichnen«, verteidigte sich Esme. »Nur als unerwartet.«

»Nein«, gestand Helene. »Ich will nicht mit ihm befreundet bleiben.«

»Hab ich’s doch gewusst!«, entfuhr es Esme. »Ich habe euch nämlich beobachtet. Sonst hätte ich ihn nicht für mich in Beschlag genommen, das kann ich dir versichern.«

»Stephen Fairfax-Lacy ist der ideale Ehemann«, konstatierte Arabella. »In so etwas irre ich mich nie. Alle meine Ehemänner waren ideale Gatten.« Sie verschlang den letzten Krümel des Kekses und fügte nachdenklich hinzu: »Abgesehen natürlich von ihrem allzu frühen Ableben.«

»Ich muss euch etwas sagen«, begann Helene unglücklich.

»Ich will doch hoffen, dass es sich um intime Details handelt«, sagte Arabella. »Es gibt nichts Vergnüglicheres, als die Leistungen eines Mannes im Bett zu erörtern. Das ist schon lange meine Lieblingsbeschäftigung, und sie macht mir möglicherweise mehr Spaß, als in besagtem Bett zu liegen.« Sie wirkte leicht bestürzt. »Eigentlich überraschend.« Sie nahm sich einen neuen Keks. »Nun ja, das sind eben die Vorzüge des Alters.«

»Du bist nicht alt, Tante Arabella!«, sagte Esme mit Nachdruck. »Du bist noch nicht einmal fünfzig!«

»Ich schlafe überhaupt nicht mit Mr Fairfax-Lacy!«, platzte Helene heraus.

Arabella fiel der Unterkiefer herunter. Dann klappte sie den Mund schnell wieder zu.

»Das habe ich mir bereits gedacht«, sagte Esme befriedigt. »Ihr macht nämlich nicht gerade den Eindruck eines rasend verliebten Pärchens.«

Helene wurde rot. »Wir passen einfach nicht zueinander.«

»Das ist mir auch einmal widerfahren«, erzählte Arabella. »Ich will euch ja nicht mit Einzelheiten langweilen, meine Lieben, aber nach seinem dritten Anlauf habe ich um Waffenstillstand gebeten. Dass wir unsere Waffen niederlegen«, betonte sie mit frechem Grinsen. »Also, wer hätte das gedacht? Fairfax-Lacy hat auf mich gar nicht den Eindruck gemacht, als ob er kein Steh–«

»Nein!«, rief Helene, entsetzt über den Fehlschluss, den Arabella gezogen hatte. »Es lag wirklich nur an mir. Ich kann einfach nicht …« Sie verstummte.

Zu ihrem Entsetzen hatte sie Tränen in den Augen. Wie konnte sie ihr Versagen ausgerechnet den zwei erfahrensten Frauen der Gesellschaft eingestehen?

»Eigentlich finde ich Fairfax-Lacy auch nicht so attraktiv«, gab Esme zu. »Es liegt daran, dass er so ein typisches englisches Gesicht hat. Und schmalbrüstig ist er außerdem, nicht wahr? Außerdem habe ich Männer mit langem Kinn noch nie ausstehen können.«

Helene warf Esme ein schmerzliches Lächeln zu. »Mit seinem Aussehen hat es nichts zu tun. Denn er gefällt mir. Ich habe einfach nicht genug Mut aufgebracht, um mit ihm ins Bett zu gehen.« Verlegen fügte sie hinzu: »Er war sehr liebenswürdig und geduldig.«

Arabella nickte. »Es gibt solche Männer, mit denen man es sich einfach nicht vorstellen kann. Bei meinem zweiten Ehemann war es leider auch so. Aber was mich wirklich interessiert«, sie wandte sich an Esme, »ist: Was hat dich geritten, deine Verlobung mit einem Mann mit so unvorteilhaftem Kinn zu verkünden? Oder, anders gefragt: Was hat eigentlich der Marquis Bonnington in deinem Haus zu suchen, Esme?«

Esme hätte sich fast an ihrem Ingwerkeks verschluckt. »Weil er … mir damit seine Reue zeigen will?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Jetzt wiederhole doch nicht den Unsinn, den ich deinem Nähkränzchen aufgetischt habe!«, schalt Arabella. »Gestern Abend bist du jedem vertraulichen Gespräch aus dem Weg gegangen, indem du dich an den Arm deines Verlobten geklammert hast, aber jetzt würde ich gerne die Wahrheit erfahren. Warum ist der Marquis hier?«

Helene beugte sich vor. »Das würde ich auch gern erfahren, Esme. Ich habe es ja hingenommen, dass seine Mutter hier ist, ich dachte, es hätte mit den Ereignissen des letzten Sommers zu tun. Obgleich es dennoch merkwürdig ist –«

Arabella musste ihr natürlich ins Wort fallen. »Merkwürdig? Es ist verteufelt mysteriös, dass Honoratia Bonnington hier ist!«

Esme seufzte schwer.

»Du klingst wie ein Blasebalg«, bemerkte die Tante. »Raus mit der Sprache!«

Esme musterte sie einen Augenblick nachdenklich. Arabella sah so zart und zerbrechlich aus, als könne sie von einem Windstoß umgeblasen werden, aber dennoch waren sie und die furchterregende Lady Bonnington aus demselben Holz geschnitzt. Also rückte Esme mit der Sprache heraus.

»Aber eigentlich will ich gar nicht heiraten«, beendete sie ihren Bericht. »Und am allerwenigsten Lord Bonnington. Es wäre weder Miles noch dem Kind gegenüber fair.«

Nach einem Augenblick betroffenen Schweigens brach Arabella in gackerndes Gelächter aus. »Wolltest dir deinen Bonnington für einsame Nächte warmhalten, was? Und am Tag hat er für dich im Garten geschuftet! Und ich dachte schon, du hättest dich mit Leib und Seele der Witwenschaft ergeben. Herrgott, Esme, nicht einmal ich habe jemals einen solchen Skandal heraufbeschworen!«

»Was denn für einen Skandal?«, fauchte Esme. »Du selbst hast doch mit deinen vielen Bibelzitaten dafür gesorgt, dass das Nähkränzchen nicht misstrauisch werden konnte!«

»Hat mich auch eine gute Stunde gekostet, diese Zitate zusammenzuklauben, das kannst du mir glauben!«, gab Arabella zurück.

»Esme, findest du nicht, du solltest dieses Nähkränzchen allmählich aufgeben?«, warf Helene zaghaft ein. »Dein Leben ist doch schon … kompliziert genug. Vielleicht wäre es besser, wenn du diese Argusaugen loswürdest.«

»Das Nähkränzchen ist ein wichtiger Teil meines neuen ehrbaren Lebens«, sagte Esme trotzig. »Eigentlich gefällt es mir sogar.«

»Das wüsste ich aber!«, widersprach Arabella. »Du hast überhaupt kein Talent für Handarbeiten. Manchen Frauen liegt das eben nicht.«

»Du weißt doch, dass Mama Hemden für die Armen näht«, gab Esme zu bedenken. »Und zwar komplette Hemden, einschließlich Kragen und Manschetten.«

Arabella schwieg betroffen. Dann besann sie sich. »Meine Güte, Esme, ich möchte wirklich nicht schlecht über meine Schwester reden, aber Fanny ist wirklich ein bisschen beschränkt. Sie vergeudet viel Zeit mit Kragennähen für Unbekannte, während ihre Tochter mutterseelenallein auf dem Land hockt. Sie weiß nicht, was wirklich wichtig ist.« Arabella beugte sich vor und drückte Esme die Hand. »Werde bloß nicht so wie deine Mutter! Du hattest immer ein lebensfrohes Naturell. Fanny aber ist mit der Zeit zu einer öden Person geworden, wenn ich das sagen darf.«

»Jetzt bist du aber ungerecht!«, protestierte Esme. »Mama hat in ihrem Leben so viele Enttäuschungen erlitten.« Von denen ihre Tochter offenkundig die größte war.

»Sie ist kleinmütig«, beharrte Arabella. »Natürlich ist es lieb von dir, sie zu verteidigen. Fanny verbringt ihre Zeit damit, die Welt zu betrachten und über deren Schlechtigkeit die Nase zu rümpfen. Ich war immer froh, wenigstens eine Verwandte zu haben, die Grips besitzt. Ich will dich nicht auch noch an die Schwesternschaft der prüden Matronen verlieren!«

»Deine Tante hat recht«, schaltete sich Helene ein. »Ich kenne deine Mutter ja nur sehr flüchtig. Aber wenn ich mir vorstelle, dass du so prüde und zimperlich würdest wie Mrs Cable, wird mir ganz anders. Sie ist wirklich keine liebenswerte Frau, Esme.«

»Ich weiß«, sagte Esme. »Glaubt mir, ich weiß das.«

Arabella sah ihre Nichte prüfend an und beschloss, das Thema zu wechseln. Doch während sie mit Helene über die Spitzenstickerei ihrer Ärmel plauderte, saß Esme schweigend da. Sie hatte Miles versprochen, seinem Kind zuliebe zu einer ehrbaren Mutter zu werden. Doch Miles gab es nicht mehr. Sie hatte sich geschworen, nie mehr einen Skandal zu verursachen, doch eine Ehe mit Marquis Bonnington wäre der schlimmste Skandal, den sie heraufbeschwören könnte.