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Der Garten Eden

Ein regelmäßiger Leser des Tatler muss zu der Überzeugung gelangen, dass englische Damen nichts Besseres zu tun haben, als ihre Butler und Lakaien zu verführen.

»Dieses Blatt ist wirklich eine Schande!«, protestierte Mrs Cable und warf die anstößige Zeitung auf den Tisch. »Wenn Lady Snydenham töricht genug war, mit ihrem Diener durchzubrennen – und ich wüsste nicht, warum ich dem Bericht keinen Glauben schenken sollte –, dann müsste eine solche Meldung unterdrückt werden, damit ihr Beispiel niemals Schule macht!«

Der Kommentar ihrer Gastgeberin war so frivol wie deren Charakter. »Von Lady Snydenhams Liebesabenteuern zu erfahren, dürfte wohl kaum die Neigung hervorrufen, einen Diener mit lüsternen Blicken zu verfolgen«, behauptete Esme Rawlings. »Dazu müssten Dienstboten sehr viel besser aussehen als die, die ich beschäftige.«

»Das ist erst der Anfang«, prophezeite Mrs Cable böse. »Bevor wir wissen, wie uns geschieht, werden leicht beeindruckbare junge Damen ihre Diener oder am Ende sogar ihre Gärtner heiraten! Sie mögen lachen, Lady Rawlings, aber die Angelegenheit ist ernst.« Sie erhob sich und raffte Handtasche und Umschlagtuch zusammen. »Ich für meinen Teil beginne ab heute damit, die unverbesserlichen Sünder aus meiner Dienerschaft zu entfernen, und ich hoffe sehr, dass Sie desgleichen tun werden.«

Mrs Cable hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Lady Rawlings oft zu besuchen, da die bedauernswerte Dame Witwe und überdies in anderen Umständen war. Oftmals konnte sie sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Bemühungen auf wenig Gegenliebe stießen. Lady Rawlings besaß einen beunruhigenden Hang zu frivolen Bemerkungen, als wollte sie ihrem früheren Ruf der »berüchtigten Esme« gerecht werden.

Für Mrs Cable war dies umso mehr Anlass, Lady Rawlings so oft wie möglich zu besuchen und ihr die Weisheit der Bibel näherzubringen. Schon Lady Rawlings’ Anblick machte Mrs Cable unruhig. Selbst als Schwangere war sie noch viel zu schön. Ihre Wangen waren hochrot und sahen ein wenig fiebrig aus. Und erst das Lächeln, das um ihren Mund spielte … Mrs Cable konnte nur hoffen, dass sie nicht auch einen ihrer Lakaien im Sinn hatte. Aber woher denn! Nicht einmal eine Esme Rawlings konnte über eine derart schwere Sünde lächeln.

Mrs Cable vermochte nicht, aus ihren Beobachtungen Schlüsse zu ziehen, aber sie vertraute auf ihre Augen. Wenn Lady Rawlings zu ihrem Haushalt gehörte, dann würde sie sie ohne viel Federlesens – oder Empfehlungsschreiben – vor die Tür setzen. Mrs Cable hatte nie in ihrem Leben auf solch schamlose Weise gelächelt. Morgen musste sie Lady Rawlings unbedingt ein paar lehrreiche Traktate mitbringen.

Mrs Cable hatte recht.

Allerdings hatte Esme mitnichten ihren Butler im Sinn gehabt, einen würdigen älteren Herrn namens Slope. Auch an ihre Lakaien, ein paar ungehobelte Bauernburschen, die unter Slopes Bevormundung sehr zu leiden hatten, hatte sie keinen Gedanken verschwendet. Es war viel schlimmer. Sie hatte für einen Augenblick den Faden verloren, weil ihr der Gärtner in den Sinn gekommen war.

Esme verabschiedete sich von Mrs Cable. Dann setzte sie sich ins Wohnzimmer und versuchte sich alle guten Gründe ins Gedächtnis zu rufen, warum sie ein ehrbares Leben beginnen wollte. Mrs Cable zählte nicht dazu. Die Frau hatte eine spitze Nase, die wachsamen Augen einer Schwalbe und eine Gefolgschaft von Bekannten, die es mit der Entourage des Prinzregenten aufnehmen konnte. Für Mrs Cable kam Anstand gleich hinter Göttlichkeit, und wenn sie jemals die Wahrheit herausfände, wäre Esmes Ruf in ganz England vernichtet.

Unter normalen Umständen hätte Esme zu einer Frau wie Mrs Cable mindestens zehn Yards Abstand gehalten. Doch mittlerweile konnte sie sich diesen Luxus nicht mehr leisten. Mrs Cable war die Vorsitzende des Nähkränzchens, jenes Allerheiligsten vornehmer Damen, die ihr Leben der Tugendhaftigkeit und der Wohltätigkeit geweiht hatten. Wenn das Nähkränzchen nicht gerade damit beschäftigt war, hektarweise grobes Leinen für die leidenden Armen zu säumen, dann überwachte es die Reputation der gesamten Bevölkerung in den angrenzenden fünf Grafschaften. In diesen erlauchten Kreis aufgenommen zu werden hatte das diplomatische Geschick eines geläuterten Lebemannes erfordert, der einen Bischofssitz der Kirche von England anstrebt, und Esme hegte die Befürchtung, dass sie ihre neu gewonnene Ehrbarkeit alsbald wieder verlieren würde.

Doch was konnte sie tun? Ihr Gärtner weigerte sich stur, aus ihren Diensten zu scheiden. Vermutlich streifte er in ebendiesem Augenblick durch ihren Garten – oder nein, es war ja bereits Mittag. Also würde er in seiner Hütte am Ende des Apfelgartens sein, sich ausruhen, Homer lesen und keinen Gedanken daran verschwenden, wie sehr seine Anwesenheit ihrem Ruf schadete.

Es kam nicht infrage, dass sie ihn dort aufsuchte. Schließlich war dies Esmes neues Leben, ein Leben voller Prinzipien und Ehrbarkeit. So hatte sie es jedenfalls ihrem Mann Miles versprochen. Bevor er starb, hatten sie gemeinsam beschlossen, dass er seine Geliebte Lady Childe aufgeben sollte und dass sie, Esme, zu der Art Frau werden sollte, die zierliche Spitzenhäubchen trägt und Decken für die Armen näht. Und die niemals, wirklich niemals auch nur einen Gedanken an ihren Gärtner verschwendet.

Zwei Minuten später hatte Esme sich in einen gefütterten Umhang gehüllt und ihrer Zofe mitgeteilt, sie brauche frische Luft. Mein Kind ist ja noch nicht zur Welt gekommen, redete sich Esme ein, während sie über den Rasenhang zur Gärtnerhütte eilte. Wenn das Kind erst geboren war, würde sie ihren Gärtner nie wiedersehen. Sie würde Slope anweisen, dass er ihm kündigte. Esme beschleunigte ihre Schritte.

Die Hütte, ein kleines, roh gezimmertes Häuschen, lag am tiefsten Punkt des Gartens. Alles darin gab es nur einmal: einen Stuhl, eine Bank, einen Tisch, einen Kamin. Ein Bett. Und einen Gärtner.

Als Esme die Tür aufstieß, stand er vor dem Kamin und drehte ihr den Rücken zu. Er hatte sie nicht gehört, doch als die Tür schwer ins Schloss fiel, fuhr er herum und stieß dabei den Topf vom Feuer, dessen Inhalt sich auf den Boden ergoss. Etwas, das aussah wie Möhren- und Fleischklumpen, verschwand in den Dielenritzen. Esmes Magen knurrte vernehmlich. Die Schwangerschaft brachte es leider mit sich, dass sie ständig Hunger litt.

Er sah sie wortlos an, daher setzte Esme ein keckes Lächeln auf. »Du hast mir nie gesagt, dass du kochen kannst.«

Er schwieg und machte einen Schritt auf sie zu. Esmes Gärtner war ein großer Mann mit der Figur eines Reiters, zerzausten blonden Locken und Augen von dem azurnen Blau eines Sommerhimmels. Seine Züge waren so ebenmäßig, als wären sie aus Marmor gehauen. Kein Mann hatte das Recht, so schön zu sein. Er war eine Gefahr für das weibliche Geschlecht, sogar für Mrs Cable. »Hast du diesen Eintopf selbst gekocht?«, fragte Esme und deutete auf den Topf.

»Rosalie aus dem Dorf hat ihn mir gebracht.«

Esme beäugte ihn argwöhnisch. »Rosalie? Wer ist das?«

»Die Tochter des Bäckers«, erwiderte er achselzuckend und tat noch einen Schritt auf sie zu. »Soll dies ein Höflichkeitsbesuch sein, Mylady?« Ein Funke war in seinen Augen aufgesprungen. Esme spürte ihr Herz klopfen. Ihre Knie wurden weich.

Sie öffnete den Mund, um ihm mitzuteilen, dass er kurz davorstehe, aus seiner Stellung entlassen zu werden. Doch stattdessen sagte sie: »Wie alt ist diese Rosalie?«

»Rosalie ist nur ein junges Mädchen aus dem Dorf«, antwortete er gleichmütig.

»Aha«, machte Esme, die begriff, dass es dazu nichts zu sagen gab. Sie selbst war beileibe kein junges Mädchen mehr. Nein, sie war bereits siebenundzwanzig und hochschwanger dazu.

Nun stand er vor ihr, strahlend schön in seinem groben Arbeitshemd. Er hatte die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt, sodass seine kräftigen Unterarme zu sehen waren. Er glich so gar nicht den glatten, schmächtigen Gentlemen ihrer Bekanntschaft, sondern hatte etwas Wildes, Ungezähmtes an sich. Esme wurde von einer plötzlichen Scheu übermannt und fühlte sich außerstande, ihm in die Augen zu sehen.

»Mylady«, sagte er, und seine Stimme war so ruhig und tief wie die eines Marquis. »Was führt Sie in mein bescheidenes Heim?«

Sie biss sich auf die Lippen und schwieg. Verlegenheit hatte sich ihrer bemächtigt. Hatte sie ihm nicht beim letzten Mal geschworen, ihn nie wieder zu besuchen?

»Du bist am Verlust meines Mittagessens schuld.« Er hob ihr Kinn empor, zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Wie ein Turm ragte er vor ihr auf. Genau die Art Mann, vor der man alle jungen Mädchen warnen musste. Ein Mann, der weder Gesetz noch Ehrbarkeit kennt, ein Mann, der sich nimmt, was er will.

»Das war Zufall«, betonte Esme.

»Dann musst du mir ein neues Mahl bieten.« Kaum hatte sie Zeit, die Begierde in seinen Augen zu erkennen, als sich sein Mund auch schon auf ihren senkte.

Es war immer das Gleiche. Es war nicht zu beschreiben. Esme war verheiratet gewesen. Sie hatte Liebhaber gehabt. Aber nun hielt sie an Baring, ihrem Gärtner, fest, als wäre er der erste Mann auf Erden und sie die erste Frau. Es war, als sei seine verräucherte kleine Hütte mit dem Eintopfgeruch der Garten Eden, und sie selbst Eva, die sich in Adams Arme schmiegte. Und er hielt sie mit derselben Begierde fest.

Erst ganze zehn Minuten später fiel Esme wieder ein, warum sie eigentlich zu der Hütte gegangen war. Inzwischen saßen sie eng umschlungen auf seinem Bett, wenn auch vollständig angekleidet. »Du bist entlassen«, murmelte sie an seiner Schulter. Er roch nach Holz und Rauch und nach Rosalies Eintopf und noch stärker nach Wald und Wiese – ein sauberer Geruch, wie ihn kein Aristokrat an sich trug.

»Ach, tatsächlich?« Seine Stimme klang heiser und schläfrig und brachte Esmes Brüste zum Kribbeln.

»Mrs Cable startet einen Feldzug, um sämtliche unverbesserlichen Sünder des Dorfes auszumerzen, und du gehörst mit Sicherheit dazu.«

»Ist das die kleine Person, die ihr Haar in einem strengen Knoten trägt?«

Esme nickte.

»Sie hat es bereits versucht«, gab er lachend zu. »Ist letzte Woche in die Forelle gekommen und hat den Burschen eine Menge Traktate ausgehändigt, worin Gottes Ansichten über die Gewohnheiten der Sünder kundgetan wurden. Ich nehme an, sie hat vergessen, dass im Dorf nicht viel gelesen wird.«

»Warte nur, bis sie dahinterkommt, dass meine Tante Arabella zu Besuch ist und etliche Gäste mitgebracht hat. Denn keiner der besagten Gäste verfügt über einen guten Ruf. Hörst du mir überhaupt zu?«

»Natürlich.« Er pflanzte eine Reihe Küsse auf ihren Nacken.

»Das ist nicht komisch!«, protestierte Esme. »Gerade du solltest doch wissen, wie wichtig Ehrbarkeit ist. Letztes Jahr noch wurdest du von der Gesellschaft als der Aufrechteste aller Gentlemen angesehen.«

Er grinste. »Ja, und du siehst ja, was es mir genützt hat. Nun bin ich hier gelandet, lebe in Ungnade gefallen auf dem Kontinent, und sieh nur, wie klein er ist!« Er sah sich bedeutungsvoll in der Hütte um.

»Das ist ganz allein deine Schuld!«, fauchte Esme. Eine gemeine Lust, ihm wehzutun, stieg in ihr auf. »Wenn du dich nicht mitten in der Nacht in mein Schlafgemach geschlichen hättest, würdest du jetzt noch auf dem Richterstuhl sitzen und Urteile über ehrlose Frauen wie mich fällen.« Sie überlegte einen Augenblick. »Ich hatte immer das Gefühl, von dir mit Argusaugen beobachtet zu werden.«

Sie hob den Blick zu ihm und stellte fest, dass er sie tatsächlich beobachtete.

»Das stimmt auch.«

»Und nicht bloß beobachtet – du hast mich verurteilt.«

»Was blieb mir sonst übrig?«, machte er geltend. »Es hat mich schier zur Verzweiflung gebracht, dass du verheiratet warst.«

Esme spürte, wie in ihrem Herzen verhaltene Freude aufkeimte. Welche Frau hörte so etwas nicht gern? »Aber sag mir doch, was ich jetzt tun soll, Sebastian. Ich weiß, dass du es töricht findest, aber ich habe Miles nun mal versprochen, eine rechtschaffene Ehefrau zu werden, sobald unser Kind auf der Welt ist. Ich darf nicht erlauben, dass Arabella in meinem Haus eine ihrer skandalösen Gesellschaften gibt. Ich stehe kurz vor der Niederkunft! Aber Arabella sagt dazu nur, dass Marie Antoinette noch bis kurz vor der Geburt Menuett getanzt habe.«

»Warum nimmst du meinen Antrag nicht an? Damit mache ich dich zu einer anständigen Frau, und wir können über die Klatschmäuler die Nase rümpfen.«

Esmes Herz schlug einen Takt schneller, dann beruhigte es sich wieder. Sie funkelte Sebastian wütend an. »Zunächst einmal kann ich dich nicht heiraten, weil dein Ruf noch schlechter ist als der meine. Die halbe Welt glaubt, dass du deine Verlobte verführt hast.«

»Meine frühere Verlobte«, stellte er richtig.

»Aber das ist nichts im Vergleich zu dem Skandal, wenn sie herausfinden, wo du zurzeit steckst. Arabella zum Beispiel würde dich sofort erkennen, und außerdem hat sie alle möglichen Leute eingeladen, die dich ebenfalls sofort erkennen würden.«

»Hmm.«

Er hörte ihr anscheinend gar nicht zu. »Ich weiß nicht, warum dir meine Wünsche derart gleichgültig sind!«, sagte sie scharf und stieß seine Hand von ihrer Brust.

Doch Sebastian lächelte lediglich. »Weil ich jeglichen Anspruch auf Ehrbarkeit, die dir so wichtig ist, längst aufgegeben habe. Ich besitze sie nicht mehr. Und es ist mir verflucht egal. Hast du gewusst, dass ich Gina tatsächlich einmal gescholten habe, weil sie mich in aller Öffentlichkeit küssen wollte?«

Esme schürzte die Lippen. Sie wollte nicht daran denken, wie Sebastian seine ehemalige Verlobte küsste, denn Gina war eine ihrer besten Freundinnen. »Das klingt ganz nach dir«, bemerkte sie. »Der Pharisäer, der sich stets an seine Prinzipien hält.«

»Ich hätte immer noch meinen Ruf als Mr Scheinheilig, wenn ich mich nicht mit dir eingelassen hätte«, sagte er. »Meine Mutter wird in Ohnmacht fallen, wenn sie von meiner neuen Stellung erfährt.«

»Du hast es doch wohl nicht deiner Mutter erzählt!«

Er grinste. »Nein. Aber ich besuche sie morgen, und dann wird sie es erfahren.«

»Nein!«, heulte Esme auf. »Das kannst du nicht tun!« Sie selbst hatte sich stets von den Tugendbolden der Gesellschaft ferngehalten, zu denen auch die Marquise Bonnington zählte. Sebastians Mutter war eine jener Frauen, die sich viel darauf einbildeten, dass sie gegenüber unbedeutenderen Sterblichen keine Großmut walten ließen. Und ihr Sohn war, zumindest bevor er Gärtner wurde, der würdige Erbe ihrer mannigfaltigen Tugenden gewesen.

Er zuckte lediglich die Achseln. Seine Hand kroch schon wieder langsam auf ihre Brust zu, und seine Augen funkelten begierig.

»Es wird ein furchtbarer Schock für sie sein.« Esme versuchte, Mitleid mit der Marquise zu empfinden, entdeckte aber in ihrem Herzen nichts als Genugtuung. »Bist du nicht ein wenig zu alt, um zu rebellieren? Ich habe mir schon vor Jahren die Hörner abgestoßen.«

Sebastian schnaubte. »Und deine arme Mutter hat sich immer noch nicht davon erholt. Sie ist übrigens eine Busenfreundin meiner Mutter.«

»Von dieser Freundschaft habe ich gar nichts gewusst.« Esme hielt es nicht für nötig hinzuzufügen, dass sie in den letzten drei Jahren nur bei gesellschaftlichen Anlässen mit ihrer Mutter gesprochen hatte. Sie wusste nichts über Fannys Freunde. »Meine Mutter hat beschlossen, nicht zur Geburt anzureisen«, gestand sie. Warum in aller Welt hatte sie ihm nur dieses erbärmliche Geständnis gemacht? Nicht einmal Helene wusste davon.

»Dann ist deine Mutter so töricht wie meine«, urteilte er und küsste ihre Nase.

»Fanny ist nicht töricht.« Esme fühlte sich bemüßigt, ihre Mutter zu verteidigen. »Sie legt nur Wert auf ihren guten Ruf. Und ich … ich bin wohl immer eine Enttäuschung für sie gewesen. Ich bin ihr einziges Kind.«

»Das bist du«, bestätigte Sebastian. »Und sie ist noch törichter, wenn sie bei der Geburt ihres Enkelkindes nicht zugegen ist.«

»Ich fürchte, meine Mutter hat … lehnt jeden weiteren Umgang mit mir ab.« Absurd, dieser Kloß, der ihr in der Kehle saß. In drei Jahren hatte sie nicht einmal Tee mit ihrer Mutter getrunken. Warum sollte sie sie ausgerechnet jetzt vermissen?

»Ist das der Grund, warum du mit aller Gewalt ehrbar werden möchtest?«, erkundigte sich Sebastian. »Damit deine Mutter dich wieder akzeptiert?«

»Natürlich nicht! Es ist nur wegen Miles, das habe ich dir doch schon gesagt.«

»Hmm.« Aber er hörte nicht richtig zu. Er war damit beschäftigt, ihr Ohr zu küssen.

Sebastian fand, das Verhalten der Mutter drücke seit Jahren aus, was sie von ihrer Tochter hielt. Doch es schien wenig diplomatisch, das so offen zu sagen. »Ich bin sicher, dass sie dich trotz allem liebt«, versuchte er Esme zu trösten, obgleich ihm zumute war wie einem Verhungernden bei einem Festmahl, weil dieses köstliche Weib auf seinem Schoß saß. »Ich glaube auch, dass meine Mutter mich liebt, obwohl sie das natürlich nie zugeben würde.«

»Aber du warst doch ihr vorbildlicher Sohn! Und wirst es wieder sein. Wenn du vom Kontinent heimkehrst, haben alle den Skandal vergessen, und du kannst wieder der propere Marquis Bonnington sein. Diese versnobten Heuchler!«

»Der werde ich nicht mehr sein. Niemals.«

»Warum nicht?«

»Weil ich keinen Pfifferling mehr darum gebe, ob ich die Frau, die ich liebe, in einem Garten küsse oder in meinem Schlafzimmer. Diese ganze Ehrbarkeit und Schicklichkeit ist doch nur eine Falle, Esme, begreifst du das denn nicht?«

»Nein«, entgegnete sie, war aber insgeheim ein wenig erschüttert von der Inbrunst, mit der er gesprochen hatte. »Ich wünschte nur – oh, wie sehr ich das wünschte –, ich hätte Miles im ersten Jahr unserer Ehe nicht betrogen. Wenn ich mich nicht so skandalös betragen hätte, hätten wir unsere Ehe retten können. Wir hätten zusammenleben und eine Familie gründen können.«

Der Ausdruck seiner Augen erschreckte sie. »Warum? Warum, Esme? Warum Miles?«

»Weil er mein Ehemann war«, erwiderte Esme ernst. Immer wieder kamen sie in ihren Diskussionen auf diesen Punkt zurück. »Ich hätte mein Ehegelübde respektieren sollen«, sagte sie.

»Du hast gelobt, ihn für immer zu lieben. Doch als du ihn geheiratet hast, war er ein Unbekannter für dich. Miles war ein schwacher Mensch, er war liebevoll, aber schwach. Warum willst du mit aller Macht glauben, dass ihr miteinander glücklich geworden wäret?«

»Weil es das Richtige gewesen wäre.« Esme wusste, dass sie wie ein trotziges kleines Mädchen klang. Aber sie musste es ihm begreiflich machen!

»Ach ja, das Richtige«, wiederholte Sebastian müde. »Dagegen kann ich natürlich nicht ankämpfen. Aber wenn du, Esme, dich mit deinem Temperament in deinen Mann verlieben konntest, nur weil es das Richtige war, dann bist du in der Tat eine sehr ungewöhnliche Frau.«

»Ich hätte es zumindest versuchen können!«, protestierte sie mit neu aufflammendem Zorn. »Stattdessen habe ich vor ihm und ganz London mit meinen Affären angegeben.«

Esme verstand ihn einfach nicht. Doch wie sollte er ihr seinen Standpunkt begreiflich machen, ohne dass sie zornentbrannt die Hütte verließ? Er versuchte es. »Deinen Ehemann Miles schienen diese Affären aber nicht sonderlich zu stören.«

»Doch, sie haben ihn gestört!«

Himmel, was war sie stur! »Du hast angefangen, mit anderen Männern zu flirten, um Miles’ Liebe wiederzugewinnen«, konstatierte er. »Töricht, wie er nun einmal war, zog er daraus den Schluss, dass eure Ehe kein Erfolg war. Und ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass es ihn sonderlich gekümmert hat. Er war doch in Lady Childe verliebt, und das viele Jahre lang.« Er sprach ruhig, aber mit schonungsloser Aufrichtigkeit.

Esme schmollte eine Weile. »Wir hätten es immerhin versuchen können«, sagte sie schließlich.

»Ihr habt euch doch vor seinem Tod versöhnt«, betonte Sebastian. »Und ihr habt auch, so viel ich weiß, eine letzte Nacht miteinander verbracht.« Er zog sie an seine Brust. »Und – wie war diese Nacht? War sie leidenschaftlich?«

Esme barg ihr Gesicht an seinem groben Hemd. »Mach dich nicht über Miles lustig«, warnte sie. »Er war mein Mann, und ich hatte ihn sehr gern.«

»Ich würde mich niemals über Miles lustig machen. Aber ich glaube nicht, dass ihr beide eine erfolgreiche Ehe geführt hättet.«

»Vielleicht nicht. Vermutlich nicht. Ich fühle mich nur so … ich schäme mich so sehr!«, klagte Esme. »Ich wünschte, ich hätte ihn nicht so schlecht behandelt. Das wünschte ich wirklich!«

Sebastian hatte wieder begonnen, sie zu küssen. Langsam bewegten sich seine Lippen auf ihren Mund zu. Urplötzlich hatte Esme es satt, über ihre traurige Ehe und ihren schlechten Ruf zu klagen. »Weißt du noch, wie du mich immer beobachtet hast?«, fragte sie mit heiserer Stimme. Sebastians große Hände hinterließen kribbelnde Spuren, wo immer sie sie berührten. Er war so schön mit seiner glatten Haut und seinem dichten Haar. Sie verschlang ihn mit ihren Blicken. Warum dachte sie überhaupt an Miles?

»Natürlich«, erwiderte er. Auch jetzt beobachtete er sie genau. Er verfolgte seine Hand auf ihrer Brust.

»Du hast mich immer so hochmütig und mürrisch angeschaut«, erinnerte sich Esme. »Immer hast du an einer Wand gelehnt und mich stirnrunzelnd betrachtet, und ich habe genau gewusst, dass du mich für leichtsinnig hältst.«

Ein Lächeln nistete in seinen Mundwinkeln. »Etwas in dieser Richtung habe ich wohl gedacht.«

Die Berührung seiner Hände machte sie atemlos, aber sie wollte, dass er sie verstand. »Manches lag an dir«, erklärte sie und hob sein Kinn an, sodass er ihr in die Augen schauen musste.

»Wie meinst du das?«

»Ich spreche von meinen Flirts.« Esme lächelte und legte ihre ganze Freude an der Kunst der Verführung in dieses Lächeln. »Du hast am Rand eines Ballsaals gestanden und mich finster angeschaut, stets hast du verächtlich die Lippen gekräuselt. Da musste ich dich einfach herausfordern.«

»Mich herausfordern?«

Sie nickte und kicherte. »Ich habe mich schamloser gegeben, als ich war. Erinnerst du dich, wie ich Bernie Burdett in Lady Troubridges Ballsaal geküsst habe?«

»Natürlich«, knurrte Sebastian und biss ihr leicht in die Unterlippe. Es hatte ihn fast verrückt gemacht, Esme Rawlings beim Flirt mit ihrer jüngsten Eroberung, dem unerträglichen Burdett, zu sehen. Ständig tanzte sie mit diesem jungen Lackel, während er selbst … noch nie mit ihr getanzt hatte. Esme war verheiratet, und er war mit ihrer besten Freundin Gina verlobt gewesen. Die bloße Erinnerung brachte ihn dazu, sich in aufwallender Leidenschaft auf ihren schwellenden Mund zu stürzen.

»Selbst während ich Bernie küsste, überlegte ich, was du wohl tätest, wenn ich auf dich zutanzen und dich küssen würde«, gestand sie nach einer Weile mit stockender Stimme. »Ich nahm an, dass du empört wärest, weil du ja solch ein Musterknabe warst, und habe deshalb lieber Bernie geküsst.«

Er sah sie verblüfft an. »Du hast absichtlich …«

»Ganz genau«, gab sie selbstgefällig zurück. Dann glitten ihre Lippen über seinen starken, von der Sonne gebräunten Hals. »Du hast mich stets mit Verachtung behandelt, und dennoch … war da noch etwas … ich glaubte, etwas anderes in deinen Augen zu erkennen.«

Er knurrte, ein tiefer männlicher Laut, der ihre Schenkel erzittern ließ. »Also hast du dich danach gesehnt, mich zu küssen, nicht wahr?«

Esme schwieg verlegen und drückte ihre Wange an seine Schulter, damit er ihr nicht in die Augen sehen konnte.

»Dann küsse mich jetzt«, sagte er. Und seine Stimme war so eindringlich, dass Esme gehorchen musste. Sie kam sich wieder wie eine begehrenswerte Frau vor und wusste nicht mehr, wieso sie ihn jemals für prüde gehalten hatte, denn er küsste wie ein Verdurstender. Bevor sie sich im Sinnenrausch verlor, mahnte sie jedoch: »Dass du gehen musst, habe ich ernst gemeint, Sebastian. Wenn meine Hausgäste eintreffen, könnte dich einer von ihnen erkennen.«

»Und was soll ich tun, um mein Brot zu verdienen, he?«

»Das, was du vorher getan hast.«

»Vorher …« Nun klang seine Stimme wie dunkler Samt, tönte gedämpft an ihrem Hals. »Vorher habe ich meine Zeit damit vertan, mit einer gewissen Dame zu streiten.«

»Und du warst furchtbar anstrengend«, erinnerte sich Esme. »Ständig hast du mich gescholten, dass ich schamlos sei und …«

Er küsste sie auf die Schulter. »Schamlos«, stimmte er zu. »Anstößig.« Es folgte ein Kuss auf die zarte Verbindung zwischen Hals und Schlüsselbein. »Dirne. Ich muss dir unbedingt eines von Mrs Cables Traktätchen leihen.«

»Und alles nur, weil ich einen kleinen Flirt mit Bernie Burdett unterhielt«, sagte Esme und lächelte ihn von unten herauf an. »So ein hinreißender Mann! Wie sehr ich diesen …«

»Bertie«, sagte er in ihren Mund.

»Bernie!«

»Wie auch immer«, knurrte er. »Der Schmerz, den er mir bereitet hat!«

Sie legte ihre Hand an seine Wange. »Bernie und ich hatten nie eine Affäre. Es war nur eine harmlose Liebelei.«

»Das weiß ich.« Nun lächelte er auf sie herab, ein träges, gefährliches Lächeln. »Bertie wäre ein sehr langweiliger Liebhaber gewesen.« Er fuhr mit den Lippen über ihre Wange und die lange, zarte Linie ihres Halses entlang. »Und du, liebste Esme, bist keine Frau, die im Schlafgemach Langeweile duldet.«

»Und woher wollen Sie das wissen, Sir?«, fragte sie ein wenig atemlos. »Verfügen Sie denn über genug Erfahrung auf diesem Gebiet?« Es war eine von Esmes schönsten Erinnerungen, wie der Marquis Bonnington in Lady Troubridges Salon seine Krawatte abgelegt und verkündet hatte, er sei noch unerfahren. Und wie er sodann bemüht gewesen war, seine Unschuld so rasch als möglich zu verlieren.

»Es wäre nicht sehr viel anders, wenn ich Adam wäre und du Eva«, sagte er. Wieder flammten seine Augen vor Begehrlichkeit. »Niemand kann dich so lieben wie ich.« Seine Hände glitten von ihren Schultern zu ihren Brüsten und formten deren Üppigkeit nach. Esme bog sich ihm keuchend entgegen. Sein Knie schob ihre Schenkel auseinander, dann hob er sie in einer raschen Bewegung auf das Bettende, wo er ihren Bauch nicht mit seinem Gewicht belasten würde.

Und dann war er dort, ganz bei ihr, beugte sich über sie, und sie lachte, und für ihn war es, als seien sie die einzigen Menschen auf der Welt. Er und seine berückende, betörende Geliebte, seine Esme, die berüchtigte Esme …

Sein Garten war der Garten Eden.

Und seine Esme mit ihren vollen Lippen und dem verführerischen Esprit war die einzige Frau der Welt. Sie stöhnte und er zitterte vor Verlangen. Fiel in einen Rhythmus, von dem er wusste, dass er sie zur Raserei trieb, sodass sie stöhnen musste und keiner Worte mehr fähig war. Wie er sie jetzt liebte, köstlich und langsam, war er der einzige Mann auf der Welt … oder der erste … es war auch gleich.

Der Marquis Bonnington war restlos entzückt.