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Die Lesung
Mrs Cable war einigermaßen empört, dass sie zu einer Lyriklesung gebeten worden war. Doch in den Einladungen an die Damen des Nähkränzchens hatte Lady Rawlings hervorgehoben, dass sie aus der Bibel vorlesen werde, und eine fromme Übung dieser Art, fand Mrs Cable, könne man guten Gewissens unterstützen. Und wenn sie ehrlich war, so war sie von diesem skandalumwitterten Marquis Bonnington gefesselt. Er war auf – wie sollte man sagen? – geradezu sündhafte Weise attraktiv. Mrs Cable dachte bei sich, dass sie noch nie einen so faszinierenden Mann gesehen hatte, mit so üppigen, dunkelgoldenen Locken und einer so guten Figur! Obwohl Mrs Cable nie zugeben würde, wie attraktiv sie ihn fand, konnte sie kaum die Augen von ihm lassen.
Auch sonst gab es bei dieser Lesung einiges zu sehen. Mrs Cable war sicher, dass Lady Beatrix ihre Lippen rot bemalt hatte, von dem Rest ganz zu schweigen. Lady Winifred, die mit ihrer lieben Freundin Arabella durch den Salon schritt und jeden begrüßte, schien sich prächtig zu amüsieren. Es war schon traurig, wie sehr sich Lady Winifred in die Netze eitler, weltlich gesinnter Frauen verstrickte. Und Mr Barret-Ducrorq war fast genauso schlimm. Er starrte Lady Withers fasziniert an, und Mrs Barret-Ducrorq musste ihn mit barscher Stimme zur Ordnung rufen. Zufrieden blickte Mrs Cable auf ihren Ehemann, der brav neben ihr saß, sich ausschließlich seinem Brandy widmete und behäbig und gelangweilt aussah. Mr Cable hatte sich nur unter Protest dazu bewegen lassen, zu der Lesung zu kommen, denn er hielt so etwas nicht für eine angenehme Abendunterhaltung.
Lady Rawlings klatschte in die Hände. »Für diejenigen unter Ihnen, die erst später zu uns gestoßen sind: Wir haben schon ein wenig geübt, indem wir aus dem Stegreif zitiert haben. Heute Abend wird es zwei Lesungen geben. Zuerst liest Lady Beatrix aus einem Stück von Shakespeare, und dann werde ich etwas aus der Bibel vortragen.«
Mr Cable lebte ein wenig auf. Offenbar war ihr gutes Beispiel nicht ohne Einfluss auf die junge Witwe geblieben. Shakespeare und die Bibel – eine gute Kombination. Lady Beatrix ging nach vorn und stellte sich vor dem Kamin auf. Sie trug ein seidenes Abendkleid in einem kräftigen Rosé. Natürlich enthüllte das Mieder viel mehr Hals und Busen, als Mrs Cable annehmbar fand. Doch Lady Beatrix machte einen nervösen Eindruck, was Mrs Cable wieder ein wenig mit ihrer Aufmachung versöhnte. Eine junge Dame, die vor illustren Gästen lesen sollte, musste ja vor Angst zittern.
Und Mrs Cable hatte recht: Bea zitterte vor Aufregung. Immer wieder schielte sie verstohlen zu Stephen hinüber, doch der machte ein ernstes Gesicht. Nichts an seinem Auftreten ließ darauf schließen, dass er die letzte Nacht in ihrem Bett verbracht hatte. »Ich lese einen Dialog aus Romeo und Julia«, verkündete Bea den Zuhörern.
»Eine ausgezeichnete Wahl«, bemerkte Lady Bonnington. »Ich bin von Shakespeares Werken sehr angetan. Ich bin nicht derselben Meinung wie gewisse andere, die ihn der Frivolität zeihen.«
»Für einen Dialog brauchen Sie aber einen Mann«, meinte Esme. »Suchen Sie sich doch einen Partner aus, Bea.«
Meine Güte, wie zweideutig Esme dreinschauen kann, dachte Bea. Geschähe ihr recht, wenn ich den Marquis nähme, wenn ich Esme ihren angeblich unerwünschten Freier vor der Nase wegschnappte. Und natürlich musste Esme gerade zwischen den beiden attraktivsten Männern des Publikums sitzen: Stephen saß links von ihr und der Marquis zu ihrer Rechten.
Aber Bea wählte natürlich nicht Bonnington. Sie wandte sich an Stephen und lächelte ihn schmelzend an. »Mr Fairfax-Lacy, wenn Sie bitte so freundlich wären?«
Seine Miene gab nichts preis. Anmutig erhob er sich und nahm das Buch, das sie ihm reichte.
»Wir lesen aus der Balkonszene«, sagte Bea.
»Sehr gut! Sehr schön!«, trompetete Lady Bonnington. »Besonders Oh Romeo! Warum denn Romeo? hat mir immer so gut gefallen.« Sie wandte sich an ihren Sohn. »Erinnerst du dich, wie wir letztes Jahr Edmund Kean als Romeo gesehen haben, mein Lieber?«
Sebastian bedachte seine Mutter mit einem finsteren Blick. Er hatte das Gefühl, dass heute etwas Wichtiges geschehen würde und obendrein etwas, das Esmes fingiertes Verlöbnis mit Fairfax-Lacy scheitern lassen würde. Lady Beatrix war gewiss ein Wirbelwind, aber so, wie Fairfax-Lacy sie ansah, war er wohl gewillt, die Herausforderung anzunehmen.
Währenddessen sah Stephen seine Bea an, und sein Herz klopfte in freudiger Erregung. Sie umwarb ihn! Sein Liebling hatte beschlossen, nun doch um ihn zu werben! Er schaute in sein Buch. »Doch still, was schimmert durch das Fenster dort? Es ist der Ost, und Julia die Sonne!« Seine Blicke erzählten ihr das Gleiche: Sie war sein Osten, seine Sonne, sein Leben. Doch sie starrte in ihr Buch, das dumme Ding, als verließe sie der Mut.
Bea hielt ihr Buch ganz fest, weil sie so das Zittern ihrer Finger verbergen zu können glaubte. Sie tat es wirklich und wahrhaftig, sie machte es wahr: Sie stahl sein Herz, nahm ihn, ruinierte ihn … »Nun gute Nacht«, sprach sie mit ruhiger Stimme. »So süße Ruh’ und Frieden, als mir im Busen wohnt, sei dir beschieden.« Dann endlich wagte sie es, ihn anzusehen. Das zärtliche Lächeln in seinen Augen war alles, was sie sich ersehnt hatte. Sie holte tief Luft und las weiter, bis sie zu der Stelle kam. Verstohlen schielte sie auf ihre Zuhörer, begegnete Esmes lachenden Augen und Helenes stoischen grauen, Sebastian Bonningtons ironischem, mitfühlendem Blick und schließlich den Augen Lady Bonningtons, in denen sich beginnendes Verständnis abzeichnete. Dann wandte sie sich wieder Stephen zu.
Bea brauchte das Buch nicht mehr, sie klappte es zu und legte es beiseite. »Wenn deine Liebe, tugendsam gesinnt, Vermählung wünscht«, sprach sie klar und deutlich, »so lass mich morgen wissen …«
Doch seine Stimme griff die Zeile auf, während er ihr seine Hände hinstreckte. »Wo du und wann die Trauung willst vollzieh’n. Dann leg ich dir mein ganzes Glück zu Füßen und folge durch die Welt dir als Gebieterin.«
»Ich will«, sagte er und lächelte auf die ihm eigene Weise, die ihr das Herz brach und es zugleich heilte. »Ich will, Bea, ich will.«
»Du willst?«, fragte sie mit verzagtem Lächeln und hielt seine Hände fest. »Du willst mich?«
»Was ist das denn? Gehört das zum Stück?«, wollte Mr Barret-Ducrorq wissen. »Er ist wohl so ein richtiger Schauspieler, wie?«
»Ich will dich heiraten«, verkündete Stephen mit lauter Stimme.
Bea zitterten die Knie. Das Lächeln ihrer Lippen erblühte ebenso in ihrem Herzen. Sie hatte diesen Mann gefreit. Sein Mund war hungrig, fordernd, besitzergreifend, und sie schmiegte sich an ihn wie das züchtige Bild einer – Ehefrau.
»Meine Damen und Herren«, verkündete Stephen einen Augenblick später. Er wandte sich dem Publikum zu, Bea fest im Arm haltend. »Darf ich Ihnen die zukünftige Mrs Fairfax-Lacy vorstellen?«
Esme lachte aus vollem Halse. Marquis Bonnington brüllte: »Gut gemacht!« Selbst Lady Bonnington nickte leicht mit dem Kopf, wandte sich jedoch sogleich an Esme. »Wie es aussieht, sind Sie Ihren Verlobten los«, bemerkte sie. »Was für ein glücklicher Umstand, dass Ihre Mutter heute Morgen abgereist ist.«
»Ja, nicht wahr?«, meinte Esme und lachte die Marquise fröhlich an.
Stephen zog Bea auf ein abseitsstehendes Sofa, wo er ihr vermutlich Dinge ins Ohr flüsterte, die nur für ihre Ohren bestimmt waren. Esme straffte ihre Schultern. Ihr Herz klopfte nervös. »Ich lese nun aus der Bibel«, kündigte sie an, nahm das Buch vom Tisch und schritt zum Kamin. Es war Miles’ Bibel, die Familienbibel, in die sie Williams Namen eingetragen hatte. Sie hatte aber das Gefühl, Miles würde ihr Vorhaben gutheißen. Es war fast, als wäre er hier, mit seinen blauen Augen und seinem freundlichen Lächeln.
»Es ist doch stets wunderbar anzusehen, wie eine junge Witwe sich mit den Worten Gottes tröstet«, sagte Mrs Cable vernehmlich. »Ich glaube, ich habe ihr in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel gegeben.«
»Noch bist du nicht Witwe«, brummte ihr Mann säuerlich.
Sebastian trug eine höllisch gelangweilte Miene zur Schau. Offenbar glaubte er, Esme wolle lediglich ihr Nähkränzchen becircen, indem sie die Bibel zitierte und ihren Ruf aufpolierte. Esme schluckte schwer. Er hielt den Kopf gesenkt und schien in die Betrachtung seines Glases versunken, und alles, was sie sehen konnte, war das dunkle Gold seines Haarschopfes. »Ich werde aus dem Hohelied Salomons vorlesen«, verkündete sie. Sebastian hob ruckartig den Kopf.
»Das Hohelied Salomons«, las Esme. »Mit Küssen seines Mundes bedecke er mich. Süßer als Wein ist deine Liebe.«
»Hat sie nicht gesagt, sie will etwas aus der Bibel vorlesen?«, fragte Mr Barret-Ducrorq verwirrt.
»Psst!«, mahnte Lady Bonnington. Sie saß kerzengerade auf ihrem Stuhl und hielt ihren Stock umklammert. Ihre Augen leuchteten und – Wunder über Wunder! – sie lächelte.
Esme las weiter: »Stärkt mich mit Traubenkuchen, erquickt mich mit Äpfeln; denn ich bin krank vor Liebe.«
Sebastian erhob sich abrupt. Mrs Cable sah ihn an, und jetzt sah auch Esme ihn an und gab sich ihm mit jedem Wort preis: »Der Geliebte spricht zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, so komm doch.«
Er schritt auf sie zu, ging um den Stuhl seiner Mutter herum und um das Sofa, auf dem Mrs Cable steif und entsetzt saß.
»Denn vorbei ist der Winter«, las Esme leise und nur für ihn. »Verrauscht der Regen. Auf der Flur erscheinen die Blumen.«
Dann stand er vor ihr, nahm ihr die Bibel ab, umfing ihre Hände mit den seinen. Sie schaute zu ihm auf.
»Der Geliebte ist mein, und ich bin sein. Er weidet in den Lilien.«
Voller Verlangen schloss er sie in seine Arme. Ein Schauer durchlief Esme, als sie ihm ihre Lippen bot. Wie hatte sie jemals glauben können, dass etwas wichtiger sein konnte als Sebastian, ihr Liebster, ihr Herz.
Er riss sich kurz von ihr los. »Ich liebe dich«, sagte er heiser.
Freude durchströmte Esme, wob eine Melodie zwischen ihnen. »Und ich bin krank vor Liebe nach dir«, wiederholte sie leise die wunderbaren Worte des alten Buches.
Mrs Cables Mund schloss sich mit einem hörbaren Schnappen. Sie packte ihren Mann am Arm und zerrte ihn unsanft von seinem Sitz. »Ich bin erschüttert!«, zischte sie. »Erschüttert!«
Lady Rawlings hörte sie nicht, da sie ganz von dem verderbten Marquis in Anspruch genommen wurde. Mrs Cable begriff nun, was geschehen war. Sie hatte den Kampf um die Seele der jungen Witwe verloren, jawohl, und der Teufel hatte gewonnen. Fortan würden Lust und Laszivität in diesem Hause regieren.
»Wir gehen!«
Sie wandte sich zum Gehen und stieß auf die Marquise, die ihr den Weg vertrat. »Sie haben mein Mitgefühl!«, krächzte Mrs Cable und funkelte die Marquise wütend an. »Aber vielleicht passt Ihr Sohn ja gut zu einer Dame mit zweifelhaftem Ruf.«
»Vielleicht«, erwiderte die Marquise trocken. Doch der Ausdruck ihrer Augen gab Mrs Cable zu denken. »Sie wollen doch sicher dem jungen Paar Glück wünschen, bevor Sie uns so überstürzt verlassen?«
Doch Mrs Cable besaß ebenso viel Rückgrat wie die Marquise. »Das will ich gewiss nicht!«, erklärte sie und heftete ihre Knopfaugen auf Lady Bonnington. »Und wenn Sie Ihrer liederlichen Schwiegertochter mitteilen würden, dass wir ihre Dienste im Nähkränzchen nicht länger benötigen, wäre ich Ihnen äußerst dankbar.«
Die Marquise wich zurück, zu Mr Cables großer Erleichterung. Er hatte nämlich schon befürchtet, seine bessere Hälfte werde sich erdreisten, eine Angehörige des englischen Hochadels zu verprügeln.
»Ich werde Ihrer Bitte mit Freuden entsprechen«, sagte Lady Bonnington hoheitsvoll.
Das Lächeln, das dabei ihren Mund umspielte, versetzte Mrs Cable derart in Wut, dass sie hinausstürzte, ohne sich zu vergewissern, ob die Damen des Nähkränzchens ihr folgten. Und es sollte noch einige Stunden dauern, bis sie gewahr wurde, dass keine von ihnen ihrem Beispiel gefolgt war.
Und so war dies das Ende jener ehrwürdigen Institution.
Ungefähr einen Monat später gründete Mrs Cable ein Strickkränzchen, das sich aus den Frauen des Dorfes zusammensetzte. Sie bildete sich viel darauf ein, den ungelernten Arbeiterinnen das Wort des Herrn nahezubringen. Ohne ihre strenge Führung sank das frühere Nähkränzchen zu allerlei liederlichen Aktivitäten ab: Zum Beispiel stellten die Damen bei Lady Rawlings’ Hochzeit mit dem entarteten Marquis die Brautjungfern. Die Gesellschaft vermerkte interessiert, dass Lady Rawlings’ Mutter nicht zur Trauung erschien. Aber die Anwesenheit der Marquise Bonnington und ihr Einfluss sorgten dafür, dass Esmes Heirat als das herausragende Ereignis der Saison angesehen wurde.
Ein wenig ruhiger ging es bei Lady Beatrix Lennox zu, die Mr Fairfax-Lacy ihr Jawort im Beisein ihrer Familie gab. Es hieß sogar, ihre einzigen Brautjungfern seien ihre beiden Schwestern gewesen, und sie hätten Kränze aus Gänseblümchen auf dem Haupt getragen … wahrlich eine Geschmacksverirrung. Das frisch getraute Paar reiste unverzüglich nach London ab, und als die Gesellschaft endlich begriffen hatte, was da passiert war und wem es passiert war, da zeigte sich, dass die junge Mrs Fairfax-Lacy so viele und so mächtige Freunde besaß, dass man kein Sterbenswörtchen mehr von ihrem schlechten Ruf vernahm. Außerdem begriff die Partei der Tories rasch, dass sie als Politikergattin nicht zu unterschätzen war.
Helene, Gräfin von Godwin, fuhr zu ihrer Freundin, der Herzogin von Girton, um ihr in den schweren Wochen vor der Niederkunft beizustehen. Während des Sommers und des anschließenden Herbstes sann sie über das Kind nach, das zu bekommen sie immer noch fest entschlossen war. Mit allen Mitteln, ob mit der Unterstützung ihres Mannes oder ohne ihn.
Aber das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll …