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Eheliche Beziehungen

In den Schlafzimmern im ganzen Haus wurden die Kerzen gelöscht. Die Zimmer versanken in Dunkelheit, in der angenehmen Vertraulichkeit, in der die Frauen auf den Schritt des Liebhabers warten, auf einen stummen Kuss, eine geflüsterte Einladung. Rees Holland war jedoch mitnichten in dieser Stimmung. Er behielt seine Schlafzimmertür im Auge und wartete grimmig auf …

Seine Frau.

Und war das nicht ein Hohn? Dass er so einen Abscheu davor verspürte, mit ihr zu reden? Am liebsten wäre er aus dem Haus gestürzt und hätte unverzüglich ein Pferd gesattelt. Und doch war er geblieben. Helene war eine Schlange, wirklich. Wenn sie nur die leiseste Kritik an ihm übte, blieb diese tagelang auf dem Grund seiner Seele haften.

Und doch – so redete er sich ein – wollte er nur das Beste für sie. Fairfax-Lacy war gewiss kein Mann, der ihr bei einer Scheidung beistehen würde. Das konnte ihm ja seine kostbare Karriere ruinieren! Aber Helene war in den Mann vernarrt, das sah Rees deutlich. Halten würde es jedoch nicht. Fairfax-Lacy war nichts weiter als ein einschmeichelnder Politiker, ein redegewandter Teufel, wie Rees’ Großmutter gesagt hätte. Außerdem sah er Helene gar nicht begehrlich an. Rees hatte ihn dabei ertappt, wie er Beatrix Lennox mit Blicken verschlang.

Das war der springende Punkt: Rees wusste, dass er in der Ehe kläglich versagt hatte. Aber auch Helene hatte nicht zur Ehefrau getaugt. Doch da sie nun das Bett mit Fairfax-Lacy teilte, verabscheute sie wohl nur ihn, Rees. Es war schon erstaunlich, wie sehr ihn dieser Abscheu schmerzte, selbst nach so vielen Jahren. Sogar heute noch fühlte er sich genötigt, eine Krawatte anzulegen und jedes widerspenstige Brusthaar zu bedecken, das möglicherweise aus seinem Hemd hervorlugen mochte, weil Helene sich davon abgestoßen fühlte, wie sie ihm immer wieder gesagt hatte. Er sei ein behaartes Tier, hatte sie gesagt.

Rees verzog das Gesicht. Warum zur Hölle machte er sich überhaupt Gedanken über Helene? Sie war nun einmal eine scharfzüngige Teufelin. Aber er konnte nicht zulassen, dass sie noch einmal den gleichen Fehler machte. Dieses Mal musste sie einen Ehemann finden, der es ehrlich mit ihr meinte. Und das tat Fairfax-Lacy ganz sicher nicht. Nicht, wenn er in jedem unbeobachteten Moment Lady Beatrix mit Blicken verschlang. Helene schaute er nie so an. Oh, sicher, er umwarb sie: machte ihr übertriebene Komplimente über ihr Mondschein-Haar und ähnliches dummes Zeug. Doch er gönnte ihr keinen jener Blicke, die ein Mann einer heiß begehrten Frau zuwirft. Blicke, die ihr sagen, dass er sich kaum noch zurückhalten kann.

Und doch war Helene offensichtlich auf eine Scheidung aus. Vermutlich glaubte der Herr Abgeordnete, er könne ein Gesetz verabschieden, das ihr die Wiederverheiratung gestattete. Aber wenn Helene Fairfax-Lacy heiratete, würde sie den zweiten untreuen Ehemann bekommen. Er, Rees, hatte sie freigegeben. Er hatte Helene ihr Leben zurückgegeben. Aber das würde der ehrbare Mr Fairfax-Lacy niemals tun. Nein, er würde nebenbei mit Dirnen herumtändeln und Helene privat und öffentlich blamieren, aber er würde ihr nie die Freiheit einräumen, das Gleiche zu tun.

Er hörte ein leises Kratzen an der Tür, dann schwang sie geräuschlos auf. Rees fand es wirklich erstaunlich, wie lautlos die Türen in Lady Rawlings’ Haus sich in ihren Angeln bewegten. Sie waren wohl sorgfältig geölt worden.

Helene sah wie ein silberner Geist aus. Sie trug einen hochgeschlossenen grauen Morgenmantel und sah von Kopf bis Fuß wie eine langweilige englische Matrone aus. Rees war im Grunde froh, dass sie einen Geliebten gefunden hatte. Die Last, in seiner Ehe der allein schuldige Teil zu sein, hatte ihm schwer auf dem Gewissen gelegen.

»Verzeih meinen zwanglosen Aufzug«, begann sie mit kühler Stimme, in der nur leise die Furcht mitschwang, dass er nun wieder grob sein würde. Oder sogar ordinär. Sie fand immer, er sei ordinär.

Rees verneigte sich stumm. Dann besann er sich auf seine guten Manieren und lud sie ein, sich zu setzen.

»Ich bin gekommen, um dich um die Scheidung zu bitten«, sagte Helene, »aber das hast du gewiss schon vermutet.«

»Ist Mr Fairfax-Lacy denn einverstanden, sich vor aller Welt als dein Liebhaber zu bekennen? Wird er mir gestatten, ihn wegen Ehebruchs zu verklagen?«

Sie schüttelte den Kopf, blieb jedoch völlig gelassen. »Oh nein, das könnte seiner Karriere schaden. Stephen nimmt eine sehr wichtige Rolle im Parlament und im Leben unserer Nation ein. Wir werden einen Mann anheuern müssen, der seine Rolle übernimmt.«

Rees brauchte nicht groß nachzudenken, um zu verstehen, dass ein Komponist komischer Opern gewiss keine wichtige Rolle im »Leben der Nation« spielte. »Müsste Fairfax-Lacy eigentlich nicht in diesem Augenblick auf der Regierungsbank sitzen, wenn er für die Nation so lebenswichtig ist?«, fragte er schneidend.

»Stephen ist von der letzten Parlamentsdebatte ziemlich erschöpft«, tat Helene seine Frage mit einer vagen Handbewegung ab.

Rees sinnierte missmutig über erschöpfte Männer und deren Hang, sich mit anderer Männer Frauen zu vergnügen. »Aha, erschöpft. Verstehe.«

»Das kannst du gar nicht verstehen, Rees. Stephen spielt eine wichtige Rolle im Unterhaus. Er hat vor Kurzem einen anstrengenden Kampf gegen die Flurbereinigungsgesetze geführt. Es geht darum, dass ein Reicher Land für sich beansprucht, das vorher Allmende für die Bewohner eines Dorfes gewesen ist. Stephen hat gegen seine eigenen Parteigenossen ankämpfen müssen!«

»Ich weiß sehr wohl, was Flurbereinigung ist«, entgegnete Rees gereizt. »Und ich verstehe voll und ganz, dass er ein großer Mann ist.«

»Es wäre also für alle Beteiligten besser, wenn wir mit Beweisen für meinen Ehebruch aufwarten könnten.«

»Ich sehe keinen Grund, warum wir den enormen Aufwand einer Scheidung betreiben sollten«, sagte er. Trotz aller Vorsicht geriet er allmählich in Zorn. Es lag an der Märtyrerrolle, die sie so gut zu spielen verstand: als ob er ihr Leben ruiniert hätte. Dabei war doch eher das Gegenteil der Fall: Sie hatte sein Leben ruiniert!

Helene schob das Kinn vor. »Ich will nicht länger deine Frau sein, Rees.«

»Wir können nicht immer bekommen, was wir wollen. Und gerade du lebst doch in der besten aller Welten, wenn du mir meine Offenheit verzeihen willst. Du hast einen respektablen Politiker für dein kleines Nebenvergnügen und behältst gleichzeitig deinen Titel und überdies den sehr großzügigen Unterhalt, den ich dir gewähre.«

»Ich gebe keinen Pfifferling auf meinen Unterhalt«, beschied sie ihn.

»Nein, das tust du wohl nicht.« Schon wieder stand er kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Verdammt, sie wusste wirklich, wie sie ihn reizen konnte. »Denn wenn du dir etwas aus Geld machtest, würdest du dir ein paar Kleider kaufen, die einem Mann gefallen. Wie zum Teufel soll Fairfax-Lacy denn dieses Ding bezwingen, das du da trägst?« Er wies auf ihren wollenen Morgenmantel.

Helene hob das Kinn und straffte ihre Schultern. Nun wirkte sie wahrhaft königlich. »Der Unterhalt und mein Titel bedeuten mir gar nichts. Was ich will, ist ein Kind.« Und nun bebte ihre Stimme, wie er zu seinem Entsetzen feststellte. Sie hatten einander nie auch nur die geringste Verwundbarkeit gezeigt. Deshalb sah er sich außerstande, sie zu trösten.

»Ein Kind. Ich glaube, das höre ich nicht zum ersten Mal«, sagte er, um ihr Zeit zu geben, die Beherrschung wiederzuerlangen.

Helene holte tief Luft und beugte sich entschlossen vor. Sie musste Rees einfach überzeugen: Es war nötig. Auch wenn sie kein Interesse hatte, Stephen zu heiraten. Ein Scheidungsverfahren dauerte Jahre, aber währenddessen konnte sie einen anderen Mann finden. »Hast du Esmes Baby gesehen?«, fragte sie.

»Natürlich nicht. Warum sollte ich mich in die Kinderstube begeben, um ein Neugeborenes anzugaffen?«

»William ist das süßeste Baby, das ich je gesehen habe«, schwärmte Helene und versuchte vergeblich, Rees die Sehnsucht begreiflich zu machen, die sie stets beim Anblick des kleinen Kindes überkam. »Seine Augen sind von dem klarsten Blau, das sich denken lässt. Und er sieht Esme immer so liebevoll an. Ich glaube, er erkennt sie bereits.«

Rees konnte Kinder nicht ausstehen. Sie wimmerten, sabberten und spuckten und das mit schönster Regelmäßigkeit. Außerdem sonderten sie alle möglichen abscheulichen Gerüche ab, ohne sich darum zu scheren, ob sie vielleicht andere Menschen damit belästigten. Und obendrein vermeinte er in Helenes Stimme eine geradezu sklavische Schwärmerei zu vernehmen, die ihn nervös machte.

»In deiner Lage ist ein Kind mehr als unwahrscheinlich«, machte er geltend. »Du solltest die Kinderstube lieber meiden, wenn jeder Besuch derart abgöttische Bewunderung zur Folge hat.«

Helene hatte versonnen gelächelt, doch dieses Lächeln verschwand augenblicklich. »Warum nicht?«, herrschte sie ihn an. »Und was genau meinst du mit meiner Lage?« Befriedigt stellte Rees fest, dass ihre Stimme nicht mehr zitterte. Sie machte vielmehr den Eindruck, als wollte sie ihn auf der Stelle erwürgen.

»Du tätest besser daran, die Wahrheit zu akzeptieren«, fuhr er fort. »Ich habe das jedenfalls getan. Ich habe jede Hoffnung auf einen Erben aufgegeben.« Abgesehen davon hatte er auch nie einen haben wollen. »Ich glaube, wir fahren beide besser damit, unsere Lage zu akzeptieren.«

»Und welche Lage soll das sein?«

»Dass wir verheiratet sind und dass unsere Ehe offensichtlich kein Erfolg ist. Doch bis jetzt ist kein potenzieller neuer Ehemann auf der Bildfläche erschienen. Fairfax-Lacy würde dir bei einer Scheidung nicht zur Seite stehen. Deshalb ist er der denkbar ungeeignetste Kandidat.«

»Das ist nicht wahr!« Ihre Stimme war schrill geworden, doch Rees war ihre Wut weitaus lieber als Tränen.

»Doch, das ist wahr. Und ehrlich gesagt, meine Liebe, scheint er von diesem frechen Luder, der Freundin Lady Withers’, gefesselt zu sein. Selbst wenn er also ein Gesetz durchbrächte, das ihm gestattete, dich zu heiraten – und aufgrund seiner Stellung dürfte ihm das eher gelingen als den meisten –, würde er dich ebenso betrügen, wie ich es getan habe.« Rees gefiel es, wie präzise er die Lage zusammengefasst hatte. »Wenn du irgendwo einen mutigeren Geliebten auftreibst, werde ich die Scheidung gern noch einmal erwägen«, schloss er.

»Verdammt!« Sie fuhr aus dem Sessel auf wie einer dieser neumodischen chinesischen Knallkörper, die Rees in London gesehen hatte. »Wie verdammt großzügig von dir! Du bist der sturste, widerlichste Mann in ganz England!«

»Ich finde, dass ich absolut vernünftig bin«, hielt Rees dagegen und blieb gelassen sitzen. Ehemänner mussten doch wohl nicht der Anstandsregel folgen, jedes Mal aufzustehen, wenn ihre Gattinnen dies taten.

»Vernünftig!«

»Dir würde es auch besser gehen, wenn du die Lage, in der wir uns befinden, einfach akzeptiertest.«

»Du Lump!«

Das traf ihn empfindlich. »Glaubst du etwa, ich hätte nicht mehr gewollt?«, brüllte er, sprang auf und packte sie an den Schultern. »Meinst du nicht, ich hätte eine richtige Ehe gewollt? Mit einer Frau, die ich lieben kann, einer Frau, mit der ich reden und lachen kann?«

Sie erschrak, dann aber hob sie den Kopf und funkelte ihn wütend an. »Willst du etwa mich dafür verantwortlich machen? Nein! Du hast mich entführt, als ich noch blutjung war!«

»Ich war auch eben erst volljährig geworden«, erinnerte er sie. »Wir waren beide jung und dumm, Helene, verstehst du das nicht?« Er schüttelte sie leicht. »Gott weiß, wie gerne ich den Moment ungeschehen machen würde, als ich dich bat, mit mir durchzubrennen. Ich wollte – will – mehr vom Leben, als ich habe! Ich sehe, wie Darby und Henrietta zusammenleben, und ich wünschte –« Er verstummte und wandte sich ab. Es hatte keinen Sinn, dieses Thema weiterzuspinnen. Er sank auf seinen Stuhl, vollkommen erschöpft.

Eine Weile herrschte Stille, dann ließ sie sich unter dem sanften Geräusch ihres wollenen Morgenmantels auf dem anderen Stuhl nieder.

»Du siehst«, sagte sie nach einer Weile, »deinen Freund Darby und seine Ehe und wünschst dir eine Frau, die besser zu dir passt. Eine Frau, die so reizend und hübsch ist wie Henrietta. Wohingegen ich Esmes Baby sehe und neidisch werde, weil ich auch eins haben will.«

»Ich will damit doch nur sagen« – er war so müde wie nie zuvor in seinem Leben – »dass man irgendwann schlicht akzeptieren muss, was geschehen ist. Ich habe einen Fehler gemacht, und Gott weiß, wie sehr ich dafür bezahlen musste.«

»Du musstest dafür bezahlen?«, flüsterte sie fassungslos, ballte ihre zarten Hände zu Fäusten. »Ich bin es doch, die der Lächerlichkeit preisgegeben ist, wenn alle Welt mir von deiner … deiner Opernsängerin berichtet. Ich bin diejenige, die sich ein Kind wünscht und niemals eins haben wird. Ich bin nicht einmal imstande, einen Mann anzulocken, der mich trotz des Skandals heiraten würde! Dein Leben ist doch vollkommen. Du hast deine Musik und deine Sängerin. Und ich glaube keinen Augenblick lang, dass du Henrietta begehrst: Sie ist ja nicht einmal musikalisch.«

»Ich begehre Henrietta keineswegs. Ich will nur … das haben, was Darby mit seiner Frau hat.« Rees lehnte seinen Kopf an die geschnitzte Rückenlehne seines Stuhls. »Da ich ein Narr bin, sehne ich mich nach einer Frau, mit der ich in Gemeinschaft leben kann.«

Nach diesen Worten saßen sie schweigend da.

Helene erwähnte nicht, welches Licht seine letzte Bemerkung auf die Liaison mit der Opernsängerin warf, der Frau, die doch jetzt an ihrer Stelle in Rees’ Bett lag.

Und Rees erwähnte nicht, dass Helene bereits zugegeben hatte, dass Fairfax-Lacy nicht den Mut besitzen würde, ihr während einer Scheidung beizustehen.

Es hatte in ihrer Ehe seltene, aber kostbare Momente der Güte gegeben, doch manchmal war Schweigen die größte Güte von allen.