27
Süßer kleiner William
In Anwesenheit zweier tonangebender Damen der Gesellschaft ein Kind zu gebären war zweifellos eine der unangenehmsten Erfahrungen in Esmes Leben. Arabella stand zu ihrer Rechten und tupfte ihr nach jeder Wehe sorgsam das Gesicht ab. Esme tauchte aus einer alles verschlingenden Welle des Schmerzes auf, nur um Lady Bonnington zu ihrer Linken zu erblicken, die sie zu größeren Anstrengungen anfeuerte, während Arabella, um nicht ausgestochen zu werden, die Hebamme instruierte, die Geburt zu beschleunigen.
»Ist nicht nötig, da was zu beschleunigen«, erwiderte Mrs Pluck leicht gereizt. »Die Natur sorgt schon für alles. Und Lady Rawlings hat die Hüften dafür, das hat sie.«
»Sprechen Sie nicht so über die Hüften meiner Nichte«, sagte Arabella geziert. »Es besteht kein Anlass für Vulgarität.«
»Sei nicht so töricht, Arabella«, lautete Lady Bonningtons unhöflicher Kommentar dazu.
Esme holte tief Luft und wappnete sich gegen den erneut anbrandenden Schmerz. Der dann schlimmer war, als sie sich jemals Schmerzen hätte vorstellen können: ein Schmerz, als werde sie von den Zehen aufwärts verbrannt. Einen Moment später tauchte sie wieder auf und vernahm schwach Arabellas Glückwünsche. Ihre Tante schien beschlossen zu haben, dass Esme nach jeder Wehe Beifall verdiente. Esme fand das auch. »Wo … wo ist Helene?«, fragte sie irgendwann.
Lady Bonnington sah sie entsetzt an. »Natürlich haben wir sie hinausgeschickt. Das arme Mädchen hat doch gar keine Erfahrung mit Geburten! Das Erlebnis würde sie fürs Leben zeichnen.«
»Oh Gott!«, stöhnte Esme. Die nächste Wehe nahte, überrollte sie von den Füßen her …
»Sei tapfer, Darling, sei tapfer!«, redete Arabella ihr zu und drückte ihre Hand. Esme klammerte sich daran.
»Sie haben die Hüften dafür«, sagte Mrs Pluck wieder einmal vom Fußende des Bettes her. Und dann: »Wir haben’s schon fast geschafft, Mylady. Hab Ihnen doch gesagt, das wird’n Spaziergang, nicht?«
Ein Spaziergang war es ganz gewiss nicht. Aber Esme hatte nicht genug Luft, um mit der Hebamme zu diskutieren. Stattdessen gestattete sie dem Schmerz, ihr sämtliche Knochen aus den Gelenken zu hebeln … so fühlte es sich zumindest an. Arabella kühlte mit dem feuchten Tuch abwechselnd Esmes Stirn und die eigene Hand.
»Na schön, Mylady«, verkündete Mrs Pluck laut. »Zeit, den kleinen Herrn auf die Welt zu bringen.«
Oder die kleine Tochter, dachte Esme, brachte jedoch nicht die nötige Kraft auf, es auszusprechen. Aber Mrs Pluck hatte ohnehin recht.
Laut schreiend und mit empört verzogenem Gesichtchen kam William Rawlings auf diese Welt. Esme hob den Kopf. Da lag er: puterrot vor Zorn, heftig strampelnd, die kleinen Fäuste zornig gen Himmel gereckt. Ihr Herz pochte heftig. »Oh, geben Sie ihn mir!«, rief sie. Sie brachte sich in eine halb sitzende Haltung und streckte ihre Arme nach dem Kind aus.
»Erst muss er gebadet werden, dann guck ich, ob alle Zehen dran sind, und sorg dafür, dass er vorzeigbar ist«, sagte Mrs Pluck und reichte das Baby dem wartenden Kindermädchen.
»Es scheint ein Junge zu sein«, meinte Arabella und beäugte das Kind. »Meine Güte, Esme. Er ist aber gut ausgestattet!« Sie kicherte. »Sieht fast so aus, als hätte er zwei Rüben zwischen den Beinen.«
»So sehen sie alle aus«, ließ sich Lady Bonnington erinnerungsselig vernehmen. »Mein Sohn war genauso. Ich dachte schon, er werde sich zum Satyr entwickeln.«
»Nur noch eine Minute, Mylady«, schaltete sich Mrs Pluck ein. »Noch einmal kurz pressen.«
Ein paar Minuten später setzte sich Esme vollends auf. »Ich möchte bitte meinen Sohn halten«, krächzte sie. »Bitte – jetzt!«
Mrs Pluck blickte auf. »Alles zu seiner Zeit, Mylady. Erst müssen wir ihn …«
Arabella rauschte auf das Kindermädchen zu und nahm ihr das Baby ab. »Lady Rawlings wünscht ihren Sohn im Arm zu halten.« Sie legte das Kind ein wenig ungeschickt in Esmes Arme. Er brüllte immer noch und strampelte mit seinen fetten Beinchen.
»Das ist aber nicht klug!«, schalt Mrs Pluck. »Ein Baby sollte in den ersten fünf Minuten nach der Geburt gebadet werden. Reinlichkeit ist wichtig für die Gesundheit.«
»Er kann in seinem Leben noch oft genug baden«, entgegnete Arabella und beugte sich über das Bett. »Er ist so ein Dickerchen, nicht wahr, Esme? Und sieh dir nur mal diese hinreißenden kleinen Zehen an!«
Esme wurde von einem vollkommen unbekannten Gefühl ergriffen. Es war, als habe sich die Welt auf einen winzigen Ausschnitt verengt, der nur sie und ihren Sohn enthielt. Er war so schön, dass ihr Herz vor Freude sang. Und zur gleichen Zeit bemerkenswert hässlich. »Warum ist sein Gesicht so rot?«, fragte sie besorgt. »Und warum ist sein Kopf so seltsam geformt?«
»Das ist der Lauf der Natur«, antwortete Mrs Pluck gewichtig. »Sie sehen alle so aus. Wenn Sie das Baby jetzt wieder hergeben würden, Mylady? Wir haben noch einiges zu erledigen.«
Aber das Kind hatte beschlossen, seine Augen zu öffnen. Esme drückte es fester an sich. »Hallo«, flüsterte sie. »Hallo, mein Kleiner.« Er blinzelte und presste den Mund zu. Seine Augen waren dunkelblau wie der Himmel am frühen Morgen, und er schaute ernst zu Esme auf, als präge er sich ihr Gesicht ein. »Ich weiß, dass du zu lächeln glaubst«, flüsterte Esme und küsste ihn auf seine Nase und seine Stirn und seine dicken Bäckchen. »Du hast nur vergessen, wie man das macht, nicht wahr, mein süßer William?«
»Sie wollen ihn William nennen?«, fragte Lady Bonnington. »Ich nehme an, dies ist ein alter Name in Lord Rawlings’ Familie … sein Vater«, sagte sie erklärend zu dem Kindermädchen, das sie verständnislos anstarrte.
William hatte wunderbare, ernste Augen, die Esme ein Versprechen abnahmen: das Versprechen, dass sie ihn ernähren und beschützen würde. Viele Jahre lang. Mit einem Mal überkam sie eiskalte Furcht. Benjamin, ihr kleiner Bruder, war gestorben. Natürlich musste das nicht mit William passieren, aber er war so klein und zart. Er krauste das Näschen, als eine Träne auf seine Wange tropfte.
»Was hast du, Darling?«, fragte Arabella. »Oh nein, das Baby wird nass! Soll ich ihn mal nehmen?«
»Er ist das hübscheste Baby, das ich je gesehen habe«, schluchzte Esme, die vor Weinen einen Schluckauf bekommen hatte. »Ich lie-liebe ihn so sehr. Aber er ist so klein! Was ist, wenn ihm etwas zustößt? Das könnte ich nicht ertragen!«
»Das ist eine dieser Reaktionen auf die Geburt«, erklärte Lady Bonnington. »Das geht manchen Frauen so. Meine Cousine zweiten Grades ist nach der Geburt ihrer Tochter melancholisch geworden. Dabei wäre die Existenz ihres Ehemannes schon Grund genug gewesen.«
Esme schluckte und trocknete sich die Augen mit einem Zipfel ihres Bettlakens ab. »Er hat Miles’ Augen«, sagte sie zu Arabella. »Siehst du?« Sie drehte das Baby zu Arabella hin. »Sie haben denselben freundlichen Ausdruck wie die Augen von Miles. Und sie sind ebenso blau. Und Miles ist tot!«
»Aber sein Sohn lebt«, sagte Arabella und lächelte sie ermutigend an. »William ist ein hübscher, stämmiger Junge, ein Bild der Gesundheit!«
»Richtig!«, meldete sich Lady Bonnington. »Ich wusste gleich, dass das Kind das Ebenbild Ihres Mannes ist.«
Arabella warf ihr einen Blick tiefster Missbilligung zu. »Warum überbringst du die frohe Botschaft nicht deinem Sohn, Honoratia?«
»Das tue ich«, sagte die Marquise. »Und darf ich sagen, Lady Rawlings, dass ich beeindruckt bin von der Art, in der Sie diese überaus delikate Angelegenheit bewältigt haben?«
Ob Lady Bonnington damit die Geburt meinte oder die Tatsache, dass Esme, ohne zu zögern, Miles als Vater des Kindes benannt hatte, war nicht zu entscheiden. Mrs Pluck nahm Esme das Baby ab, das sogleich wieder zu greinen begann.
»Er will bei mir sein«, sagte Esme und mühte sich wiederum in eine aufrechte Haltung.
»Er hat eine schöne, kräftige Stimme«, urteilte Mrs Pluck und übergab das Kind der Amme. »Aber die Natur muss jetzt ihren Lauf nehmen«, fuhr sie ein wenig nebelhaft fort.
Helene war nun auch hereingekommen und starrte das Baby an, das von der Amme in eine vorgewärmte Decke gehüllt wurde. »Oh, Esme, er ist einfach entzückend!«
»Kommt er Ihnen gesund vor?«, wandte sich Esme an die Amme.
»So gesund und rund wie ein Saugferkel«, lautete die Antwort. »Wollen wir mal sehen, ob er sein Frühstück haben will?«
Sie setzte sich und zog den Ausschnitt ihres Kleides hinunter. William wandte sich der Amme zu und stieß einen leisen Grunzlaut aus. Seine großen blauen Augen blickten sie an. Esme kam es so vor, als schenke er der Frau denselben ernsten Blick wie ihr.
Weiß glühende Eifersucht wallte in ihr auf. Er war ihr Baby, ihr süßer kleiner William. »Geben Sie ihn mir!«, befahl sie herrisch.
Verwirrt schaute die Amme auf. Sie hatte Williams Köpfchen zurechtgerückt und wollte ihn gerade anlegen.
»Wagen Sie es ja nicht, mein Kind zu stillen!« Esme hatte die Hände instinktiv zu Fäusten geballt. »Geben Sie mir William! Sofort!«
»Aber du meine Güte«, wandte die Amme ein. »Dafür haben Sie mich doch angestellt, Mylady.«
»Ich habe es mir anders überlegt!«, fauchte Esme. Sie würde nicht zulassen, dass William eine andere Frau für seine Mutter hielt. Sie würde alles für ihn tun, was nötig war, und das Stillen gehörte dazu.
Die Amme schmollte, reichte das Kind jedoch herüber. »So leicht geht das mit der Stillerei nicht«, gab sie zu bedenken. »Am Anfang tut’s ziemlich weh, und viele Frauen lernen es nie. Außerdem haben Damen ehrlich gesagt nicht die Brust dafür.«
»Ich schon«, behauptete Esme. »Und wenn Sie mir einfach sagen, was ich tun muss, dann würde ich William gern selbst sein Frühstück geben.«
»Wenn ich ganz unverblümt sprechen darf«, mischte sich Lady Bonnington ein, »dann wird mir bei der bloßen Vorstellung schon übel. Eine Lady ist doch etwas anderes als eine Milchkuh, Lady Rawlings!«
»Ach, nun geh schon, Honoratia!«, sagte Arabella ungeduldig. »Hast du deinem Sohn nicht etwas Wichtiges mitzuteilen?«
Lady Bonnington verließ das Schlafgemach ein wenig verschnupft. Immerhin war sie nicht mit Lady Rawlings verwandt, hatte aber volle drei Stunden an ihrer Seite ausgeharrt und ihr mit gutem Rat beigestanden. Vermutlich war es allein ihr zu verdanken, dass die Geburt so rasch vonstattengegangen war. Andererseits war sie mit dem Ergebnis vollauf zufrieden. Lady Rawlings hatte den Namen des Kindsvaters genannt, und mehr musste sie gar nicht tun. Sebastian würde nun zugeben müssen, dass er keinerlei Verantwortung mehr hatte.
»Er sieht dir überhaupt nicht ähnlich«, teilte sie ihrem Sohn mehr als zufrieden mit. »Er ist so kahl wie sein Vater.«
»Vor einigen Jahren hat Miles Rawlings noch Haare besessen«, machte Sebastian geltend.
»Warte ab, bis du den Kleinen siehst«, sagte seine Mutter ein wenig schadenfroh. »Er ist das Ebenbild seines Vaters. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen, dass du für ihn verantwortlich bist. Überhaupt nicht. Lady Rawlings hat bei seinem Anblick angefangen zu weinen, weil er die Augen ihres Mannes hat. Somit kann kein Zweifel bestehen: Miles Rawlings hat posthum einen Sohn bekommen.«
Lady Bonnington stutzte und musterte ihren Sohn, der ihr ein wenig bleich vorkam. »Du bist also frei«, fügte sie ein wenig sanfter hinzu.
Er sah sie an, und der Ausdruck seiner Augen erschütterte sie bis ins Mark. »Sie hat wohl nicht nach mir gefragt?«
»Nein«, sagte seine Mutter gerührt. »Nein, das hat sie nicht.«
Sie biss sich auf die Lippen, als Sebastian sich wortlos umdrehte und das Zimmer verließ. War er dieser Frau doch stärker verfallen, als sie gedacht hatte? Nein. Aber offensichtlich hatte sie unterschätzt, wie groß Sebastians Hoffnung gewesen war, er könne der Vater des Kindes sein. Ich muss den Jungen so rasch wie möglich unter die Haube bringen, beschloss die Marquise. Mit einem Mädchen aus guter Familie, einer Frau, die ihm viele Kinder schenken wird. Und sollte meine zukünftige Schwiegertochter auch nur die geringste Neigung zeigen, sich in eine Milchkuh zu verwandeln, dann werde ich ihr den Kopf zurechtrücken.
Denn es gab einige Dinge, die man in der Familie Bonnington einfach nicht tat. Und dazu gehörte dieser groteske Wunsch, sein Kind selbst stillen zu wollen.