9
Sittsamkeit ist eine erstrebenswerte Eigenschaft
Als Bea am Morgen erwachte, war sie von einem Gefühl der Scham erfüllt. Das war durchaus nichts Neues. Oft hatte ihr Vater sich darüber empört, dass er ihr wohl offenbar gar nichts beigebracht hatte, doch Schamgefühl hatte er sie sehr wohl gelehrt, fand Bea. Sie hatte sich jedoch stets geweigert, auch danach zu handeln, und ihn damit vollends in Rage gebracht.
Doch niemals, niemals hätte sie Stephen Fairfax-Lacy auf der Ziegenweide küssen dürfen. Er war für Helene bestimmt, und eines tat Bea nie, und das war, anderen Frauen die Männer zu stehlen.
Wenn ich mich anders kleide, wird der Puritaner gar nicht mehr den Wunsch verspüren, mich zu küssen, dachte sie. Dann fiel ihr wieder ein, dass er sie ja gar nicht mehr küssen wollte, weil er über ihre Erfahrungen Bescheid wusste. Bea versetzte es einen Stich, den sie aber nicht weiter beachtete.
»Ich ziehe das neue Morgenkleid an«, sagte sie zu ihrer Zofe Sylvie. »Das mit der hellen Spitze.«
»Aber Mylady, fanden Sie dieses Kleid nicht stets zu sittsam?«, lispelte Sylvie mit ihrem französischen Akzent.
»Es ist wirklich zu sittsam, nicht wahr? Nun gut. Ich bin auch in einer sittsamen Stimmung.«
»Wie es Euer Ladyschaft beliebt«, sagte Sylvie resigniert. Sie hatte gehofft, das Kleid werde bei ihrer Herrin in Ungnade fallen und folglich in ihren Besitz übergehen.
Nach dem Ankleiden betrachtete sich Bea mit einer gewissen Befriedigung im Spiegel. Sie machte nun den Eindruck – um es mit den Worten ihrer Großmutter zu sagen –, als könne sie kein Wässerchen trüben. Das Kleid aus feinstem Jaconet-Musselin war bernsteinfarben, reichlich mit heller Spitze besetzt und hatte lange Ärmel. Und wenn auch das Oberteil eng an ihrer Büste anlag (die sie wieder ausgestopft hatte), war der Kragen doch so hoch, dass er beinahe ihre Ohren berührte.
»Kein ›Spanisches Papier‹«, lautete Sylvies Vorschlag, als Bea vor dem Frisierspiegel Platz nahm. Nachdem sie die Enttäuschung überwunden hatte, dass ihre Herrin das heiß begehrte Kleid selbst anziehen wollte, machte ihr das Ankleiden wie immer große Freude. Sylvie hatte wirklich Glück mit ihrer Stellung: Lady Beatrix war schön, immer gut gelaunt und nahm die Toilettenfrage sehr, sehr ernst.
»Du hast vollkommen recht«, sagte Bea und nickte ihrer Zofe im Spiegel zu. »Es ist viel zu grell. Meine Wangen sollten im blassesten Rosé geschminkt sein. Habe ich nicht kürzlich in diesem Geschäft am Bedford Square ein Rouge namens ›Jungfrauenerröten‹ erstanden?«
Sylvie wühlte bereits in dem Köfferchen herum, das geöffnet auf der Frisierkommode stand. »Hier!«, rief sie triumphierend aus und hielt ein Fläschchen in die Höhe. »Obwohl Sie auch die ›Königliche Pfirsichtinktur‹ in Betracht ziehen könnten«, fügte sie hinzu und reichte ihrer Herrin ein zweites Fläschchen.
Bea gab jeweils einen Tropfen auf ein Baumwollläppchen und verglich beide Farbtöne gewissenhaft. »Das ›Jungfrauenerröten‹ muss es sein«, entschied sie. »Obwohl auch der ›Pfirsich‹ sehr hübsch ist. Vielleicht trage ich ihn auf die Lippen auf.«
»Meinen Sie nicht, dass das zu blass wirkt?«, fragte Sylvie zweifelnd.
»Nein, nein«, wehrte Bea ab, die geschickt eine durchscheinende Schicht Rouge auftrug. »Heute Abend bin ich so zart wie ein Pflänzchen. Ein anmutiges junges Ding.« Sie verdrängte die mahnende Stimme in ihrem Hinterkopf, die auf die Widersprüchlichkeit ihres Handelns hinwies. Warum sollte ein solch erfahrenes Wesen wie sie sich nicht kleiden, wie sie wollte! Ob das nun logisch war oder nicht.
»Aha«, machte Sylvie. Herausforderungen liebte sie. »In diesem Fall werde ich Sie anders frisieren, Mylady. Würde es Ihnen gefallen, wenn ich ein schlichtes Haarband einflechte? Dieses Perlennetz passt nicht ganz dazu.«
»Du bist ein wahrer Segen«, lobte Bea. »Was täte ich nur ohne dich?« Kurze Zeit später warf sie ihrem Spiegelbild ein zufriedenes Lächeln zu. Ihre Haartracht war schlicht wie die einer Vierzehnjährigen. Sie sah geradezu kindlich aus!
Bea musste sich eingestehen, dass sie mit solchen Mitteln Stephen Fairfax-Lacy beweisen wollte, dass sie nicht so erfahren war … wie sie eben war. Einen Augenblick lang war sie beinahe deprimiert. Warum in aller Welt wollte sie eine Tugend vortäuschen, die sie nicht besaß und nie erstrebt hatte?
Es klopfte, und Sylvie ging zur Tür. Bea trug vorsichtig Kajal auf. Auch wenn sie unschuldig wirken wollte – nie hätte sie ihr Zimmer verlassen, ohne sich die Wimpern zu tuschen.
»Darf Lady Rawlings kurz hereinkommen?«, rief Sylvie von der Tür her.
Bea sprang auf und schlüpfte mit den Füßen in zierliche weiße Ziegenlederschuhe. »Esme! Wie nett!«
Sylvie öffnete die Tür, doch Esme blieb blinzelnd auf der Schwelle stehen. »Bea?«, fragte sie zaghaft. »Sind Sie’s auch wirklich?«
»Gefalle ich Ihnen?«, fragte Bea lachend.
Esme ließ ihre beträchtliche Leibesfülle auf einen Stuhl am Kamin sinken. »Sie sehen wie ein unbedarftes junges Ding aus, was wohl auch in Ihrer Absicht liegt.«
»Ganz recht«, erwiderte Bea stolz.
»Die Farbe auf Ihren Lippen gefällt mir, auch wenn ich nie ein solch blasses Rosa tragen würde. Wo haben Sie sie gekauft?«
»Bei dem Parfümeur in der St. James Street, nicht wahr, Sylvie?«
»In der Tat, Mylady«, bestätigte die Zofe.
»Ich bin volle sechs Monate nicht mehr in London gewesen«, seufzte Esme und wackelte vor dem Feuer mit den Zehen. »Ich weiß schon gar nicht mehr, wie eine Parfümerie aussieht!«
»Das ist aber dumm«, meinte Bea und setzte sich auf den anderen Stuhl. »Offenbar muss man sich stark einschränken, wenn man ein Kind bekommt.« Sie war froh, dass sie niemals so viele Monate von London fort sein würde. Unverheiratet zu sein hatte unbestreitbar seine Vorteile.
»Eigentlich hat es mehr mit Tugendhaftigkeit zu tun«, gestand Esme.
»Lady Godwin hat ja bereits erwähnt, dass Sie …« Bea brach ab, da sie keine geeigneten Worte fand, um Esmes Ziele zu beschreiben.
»… dass ich nach einem untadeligen Ruf strebe«, vollendete Esme ihren Satz.
»Wir alle streben nach etwas, würde ich meinen«, sagte Bea ein wenig unschlüssig.
»Haben Sie diese Strümpfe bei Mrs Bell gekauft?«, erkundigte sich Esme. »Die gestickten Gänseblümchen am Knöchel sehen einfach entzückend aus.«
»Mrs Bell wollte mir auch einen Schal mit demselben Muster verkaufen. Aber das fand ich ein wenig zu niedlich.«
»Ihre ganze Aufmachung wirkt ein wenig zu niedlich, wenn ich das sagen darf. Obgleich Sie natürlich sehr schön aussehen«, meinte Esme. Sie seufzte. »Ich bin gekommen, um Sie zu warnen. Zwar sind die Damen des Nähkränzchens endlich gegangen, leider musste ich aber versprechen, sie zu einem Luncheon am späten Nachmittag noch einmal zu empfangen. Wenn Sie also keinen Wert auf einen Hagel von Bibelzitaten legen, dürfen Sie von mir aus gern auf Ihrem Zimmer speisen.«
»Nähkränzchen?«, fragte Bea einigermaßen verständnislos.
»Hat Arabella Ihnen nichts davon erzählt?« Esme stand auf und schüttelte ihre Röcke aus. »Ich bin dem hiesigen Nähkränzchen beigetreten. Wir treffen uns einmal in der Woche, und zwar aufgrund meiner Unbeweglichkeit in meinem Haus. Heute Vormittag hat Arabella sich zu uns gesellt, was zu einiger Aufregung und letztlich zu der Einladung geführt hat.«
»Jetzt sagen Sie nicht, dass Arabella nähen kann!«, staunte Bea.
»Natürlich nicht. Aber ihre Geschichten über die Gräfin Castignan haben uns immerhin wach gehalten. Das Problem ist, dass Mrs Cable, eine furchtbar bigotte Person, und meine Tante eine lebhafte Abneigung gegeneinander entwickelt haben. Es ist also mehr als wahrscheinlich, dass bei dem Lunch einiges an Groll unter der Oberfläche köcheln wird.«
Esme blieb an der Tür stehen. »Ich habe hin und her überlegt, wie ich Tante Arabella und Mrs Cable möglichst weit voneinander entfernt setzen kann, und mich deshalb dafür entschieden, im Rosensalon ein paar Tische aufstellen zu lassen.« Sie warf Bea ein charmantes Lächeln zu. »Wenn Sie sich ihr gewachsen fühlen, würde ich Sie gern mit Mrs Cable an einen Tisch setzen. Diese Dame neigt dazu, ihre Konversation mit schlecht gewählten Bibelzitaten zu würzen. Da Sie heute so harmlos aussehen, wird sie Sie wohl zu den Erretteten zählen und freundlich sein.«
Bea setzte ein gekünsteltes Lächeln auf. »In der Bibel bin ich auch sehr bewandert.«
»Ach, du meine Güte, das ist ja wunderbar! In dem Falle setzte ich Sie ganz gewiss zu Mrs Cable, falls Sie nichts dagegenhaben. Dann können Sie in aller Ruhe Bibelzitate austauschen.«
»Mr Fairfax-Lacy scheint mir ebenfalls ein frommer Zeitgenosse zu sein«, platzte Bea heraus, bevor sie ihre Zunge im Zaum halten konnte. »Ich bin mir sicher, dass Mrs Cable ihn vorziehen würde. Er ist ein Mensch der guten Werke.«
»Glauben Sie wirklich?«, fragte Esme. »Meiner Meinung nach durchlebt dieser Mann zurzeit eine innere Wandlung. Er scheint sich gar nicht mehr für seine parlamentarischen Aufgaben zu interessieren. Und darauf gründet sich sein Ruf, wie Sie ja wissen.«
»Nur Arbeit und kein Vergnügen?«
»Ganz genau.«
Bea musste an den Vorfall auf der Ziegenweide denken und kam zu dem Schluss, dass Esme wohl recht habe: Der Mann hatte sich verändert, er gönnte dem Parlament keinen einzigen Gedanken mehr. Nein, er war auf der Jagd nach einer Geliebten. Oder einer Ehefrau.
»Aber da er an langweilige Reden gewöhnt ist, werde ich ihn ebenfalls an Ihren Tisch setzen«, fuhr Esme fort. »Helene kann dann die Vierte im Bunde sein und schon einmal ausprobieren, wie man Mr Fairfax-Lacy schöne Augen macht. Sie müssen sie anspornen, wenn sie es vergisst. Allerdings setze ich größere Hoffnung auf die Dichtkunst, um die beiden einander näherzubringen. Ich kenne Helene schon sehr lange und weiß, dass es ihr nicht liegt, die Verführerin zu spielen.«
»Aber sie ist doch durchgebrannt!«, rief Bea. Aber sie wunderte sich gleichwohl darüber. Wer würde mit einer Frau durchbrennen wollen, die die sinnliche Ausstrahlung einer sechzigjährigen Matrone besaß? Allerdings hatte Helene ein reizendes Lächeln, das musste sie zugeben.
Esme zuckte die Achseln und öffnete die Tür. »Irgendwie hat ihr Mann Rees dieses Wunder zustande gebracht. Aber die beiden bedauern diesen Schritt seit zehn Jahren. Ich glaube, ihre Ehe war schon zu Ende, noch bevor sie von Gretna Green zurückkehrten.
Ich verlasse mich also darauf, dass Sie bei meinem Luncheon Heldenmut beweisen.« Sie verweilte noch einen Moment an der Tür und musterte Bea fasziniert. »Erstaunlich! Ich hätte Sie wirklich fast nicht erkannt. Lassen Sie die naive Lady Beatrix Lennox von sechzehn noch einmal aufleben?«
Bea lächelte. »Ich will Ihnen ja nicht Ihre Illusionen rauben, Esme, aber mit vierzehn hat Vater mich dabei erwischt, wie ich mir die Wimpern mit einem angebrannten Korken schwärzte. Von dem Schock hat er sich nie wieder erholt.«
»Ach ja – Eltern!«, lachte Esme. »Sie sollten nur hören, was meine Mutter über meine Unschuld zu sagen hat! Vielmehr über das völlige Fehlen derselben. Wenn man meiner Mutter Glauben schenken darf, so bin ich ihrem Schoß als voll entwickeltes kokettes Wesen entsprungen … ganz dem schlechten Beispiel meiner Tante folgend.«
Bea grinste. »Sie hätten es schlechter treffen können.«
»Sehr viel schlechter«, stimmte Esme lächelnd zu. »Dann bis zum Luncheon!«
Als Bea sich neben der gefürchteten Mrs Cable am Tisch niederließ, lag ihr jeglicher Gedanke an Essen fern. Sie überlegte vielmehr, wie ein puritanischer Gentleman eine Frau begrüßen würde, mit der er am Nachmittag des Vortages auf einer Ziegenweide heiße Küsse getauscht hatte. Würde Stephen so tun, als hätten sie einander nie berührt? Würde er so tun, als wäre seine Zunge niemals zwischen ihre Lippen geschlüpft?
Es passierte ihr selten, doch nun spürte Bea, wie ihr die Schamröte ins Gesicht stieg. Hastig verdrängte sie jede Erinnerung an den Nachmittag. Sie hatte nicht gute zwanzig Minuten damit verbracht, lagenweise »Jungfrauenerröten« aufzulegen, damit dieses von einem natürlichen Erröten übertönt wurde.
Als der Gentleman im Salon erschien, war auch er ziemlich herausgeputzt. Bea betrachtete ihn unter gesenkten Wimpern. Stephen Fairfax-Lacy trug einen rehbraunen Anzug mit einem extrem kurzen Jackett. Für einen Mann, der seine Zeit auf den Bänken des Unterhauses absaß, schien er ausgesprochen kräftige Schenkel zu besitzen.
»Oh Gott, da ist er!«, stöhnte Helene, die in diesem Augenblick neben ihr Platz nahm. »Die ganze Idee ist einfach töricht.«
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, sagte Bea ermutigend. »Das Gedicht wird für Sie sprechen.«
»Meine teure Gräfin von Godwin«, dröhnte die Stimme Mrs Cables, die ihre Serviette auf dem Schoß ausbreitete, »wir kennen uns bereits, obgleich ich vermute, dass Sie sich nicht an mich erinnern.«
»Ich erinnere mich sehr gut«, versicherte Helene. »Und ich bin sehr erfreut über unser Wiedersehen.«
»Wir lernten uns bei einem Dinner kennen, das Lady Rawlings vor ein paar Monaten gegeben hat«, erklärte Mrs Cable an Bea gewandt.
»Oh, wie nett!«, stieß Bea atemlos hervor. Es gefiel ihr ausnehmend gut, die Rolle der sittsamen Jungfer zu spielen. Eine ganz neue Erfahrung nach ihren Jugendjahren, in denen sie versucht hatte, ihren Vater mit allerlei Possen in den Wahnsinn zu treiben.
»So nett war es gar nicht«, berichtete Mrs Cable düster. »Ich wage zu behaupten, dass auch Sie, Lady Godwin, mit Abscheu an dieses Dinner zurückdenken. Es war einfach skandalös!«
Bea faltete fromm die Hände und machte große Augen. Stephen war bereits auf dem Weg zu ihrem Tisch, und sie wollte, dass er diese Zurschaustellung mädchenhafter Unschuld sah. »Oh, was mag da nur geschehen sein!«, rief sie in dem Moment aus, als Stephen bei ihrem Tisch anlangte.
Helene, der Beas plötzliche Wandlung aufgefallen war, bedachte ihre Nachbarin mit einem ironischen Blick. »Nichts, was Sie nicht übertreffen würden, Bea.«
Der Puritaner sorgte für Ablenkung, indem er sich verneigte und Mrs Cable seinen Namen nannte. Sie schien von der Vorstellung, mit einem Abgeordneten den Tisch zu teilen, schlicht hingerissen zu sein.
Bea war ein wenig enttäuscht, weil Stephen nicht einmal stutzte, als sie ihn mit einem Jungmädchenkichern begrüßte. Stattdessen verneigte er sich wie vor einem Schulmädchen, wandte sich sodann der Gräfin von Godwin zu und küsste ihr die Hand.
»Der Earl of Godwin war natürlich auch mit von der Partie«, teilte Mrs Cable der Runde mit. »Mr Fairfax-Lacy, wir sprachen gerade über ein unglückseliges Dinner, das vor einigen Monaten in diesem Salon stattfand und bei dem Gräfin von Godwin und meine Wenigkeit zugegen waren. Ich möchte jedoch mit Rücksicht auf die Anwesenden nicht auf Einzelheiten eingehen.« Sie warf Bea einen mütterlichen Blick zu. Die musste sich auf die Lippen beißen, um nicht zu schmunzeln, und schaute züchtig auf ihre Hände.
Als Stephen sah, wie Bea die Augen niederschlug, hätte er sich am liebsten vor Lachen ausgeschüttet. Sie war ein Luder, wahrhaftig! Es lag nicht nur an dem Kleid, das ihr das Aussehen einer Nonne verlieh. Sie hatte auch mit ihrem Gesicht etwas gemacht, wodurch sie so unschuldig wirkte wie ein Baby. Weder zwinkerte sie schelmisch, noch warf sie wollüstige Blicke. Sie hatte sich die Aura und die Unschuld einer Heiligen zu eigen gemacht, und nur ein kleines Grübchen in ihrer Wange verriet, dass sie sich köstlich amüsierte. Abgesehen von diesem Grübchen jedoch war sie der Inbegriff einer braven Herzogstochter. Falls es so etwas in England überhaupt noch gab.
»Ihr Mann hat vielleicht erwähnt«, sagte Mrs Cable an Lady Godwin gewandt, »dass wir ein paar deutliche Worte über die Ehe gewechselt haben. Keiner von uns hat sich dabei im Ton vergriffen, Gott behüte! Aber ich denke, ich habe ihm meinen Standpunkt klargemacht.« Sie lächelte triumphierend.
Helene lächelte dünn und trank einen Schluck Wein. »Nicht, dass ich wüsste. Vermutlich ist es ihm entfallen.«
Bea bewunderte die Gelassenheit der Gräfin. Sie hätte vermutlich längst die Geduld verloren und diese Harpyie angefaucht.
Mrs Cable schüttelte den Kopf. »Ein Mann soll Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, so heißt es in der Bibel.«
»Leider Gottes ist Rees berüchtigt für seine Missachtung von Autoritäten«, erwiderte Helene.
Bea erkannte, mit welch schwachen Mitteln Helene sich zu verteidigen versuchte, und wurde von Zorn erfasst. Wer war diese alte Xanthippe, und welches Recht hatte sie, Helene dermaßen zu beleidigen?
Mrs Cable wandte sich nun an Stephen. »Gewiss nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich so spreche, als wären wir alle alte Freunde. Ich habe, seit ich mit Lady Godwins Mann diniert habe, eingehend über ihre Situation nachgedacht.« Mit vollkommenem Gleichmut trank sie einen Schluck Wasser.
Helenes schlanke Hand, sah Bea, war so krampfhaft um die Serviette geschlossen, dass ihre Knöchel hervortraten. »Haben Sie gerade aus der Genesis zitiert, Mrs Cable?«, gurrte sie.
Mrs Cable bedachte sie mit einem anerkennenden Blick, ganz so, wie eine Rektorin eine vielversprechende Schülerin ansieht. »Ganz recht, Lady Beatrix. Es ist schön, eine junge Dame kennenzulernen, die wahre Herzensbildung besitzt. Wenn ich Ihnen, Lady Godwin, also einen guten Rat geben …«
»Mein Vater hat immer größten Wert auf religiöse Unterweisung gelegt«, fiel Bea ihr keck ins Wort.
»Und er tat gut daran«, erwiderte Mrs Cable. »Nun, ich denke, die Weisheit der Bibel könnte Ihnen von Nutzen sein.« Sie wandte sich wieder an Helene.
Die alte Schlange spürt, dass Helene sich nicht wehren kann, dachte Bea zornig. »Als ich mich in einen von Papas Lakaien verliebte«, verkündete sie mit hoher, klarer Stimme, »hat er mir zur Strafe aufgetragen, das ganze Buch der Makkabäer auswendig zu lernen.«
»In der Tat«, murmelte Mrs Cable ein wenig konsterniert.
»Ja«, sagte Bea und lächelte ihr lieblichstes Lächeln. »Ich hatte mich nämlich dem Lakaien an den Hals geworfen, und Papa fand, das hätte ich nicht tun dürfen.«
Mrs Cable machte große Augen.
»Aber ich finde das nicht«, fuhr Bea unbekümmert fort. »Denn steht nicht bei Johannes, dass wir unseren Nächsten lieben sollen? Ich meine Kapitel dreizehn«, erläuterte sie und sah Mrs Cable an. »Aber das wissen Sie wohl.« Stephen bebte vor unterdrücktem Lachen. Helenes Hand hatte alles Verkrampfte verloren, und auch sie musste sich ein Lachen verbeißen.
»Ja, ich …«
»Selbst wenn meine Liebe eigenwillig war«, zitierte Bea mit einem rührseligen Zittern in der Stimme, »so bin ich doch sicher, dass sie tugendhaft und reif war.«
»Reif ist hier sicherlich das passende Wort«, warf Stephen trocken ein.
Bea ignorierte ihn. »Natürlich hätte ein Diener mich wohl kaum ernähren können« – dabei schaute sie bescheiden an ihrem Kleid hinab, das mehr gekostet hatte, als ein Lakai in einem halben Jahr verdiente – »aber im Buch der Sprüche heißt es doch, wo Liebe herrscht, sei ein Gericht Gemüse besser als ein gemästeter Ochse. Obwohl ich mich immer gefragt habe, was das eigentlich heißen soll. Mr Fairfax-Lacy, Sie haben doch gewiss während Ihrer vielen Jahre im Parlament mit derlei verzwickten Fragestellungen zu tun gehabt?«
Leider kam Stephen nicht dazu zu antworten, denn Mrs Cable hatte sich von ihrem Schock erholt und betrachtete Bea mit dem Abscheu eines Menschen, der entdeckt hat, dass eine ausgezeichnete Pastete im Innern faul ist.
»Lady Beatrix«, sagte sie, während sie scharf den Atem einzog, »sicherlich ist Ihnen nicht bewusst, welchen Eindruck Ihre kleine Geschichte bei den Anwesenden hinterlassen könnte.« Mit beredtem Blick sah sie in die Runde.
Helene begegnete diesem Blick mit gespielter Arglosigkeit. »Lady Beatrix schafft es doch immer wieder, mich in Erstaunen zu versetzen. Ein Lakai, haben Sie gesagt, Bea? Sie sind wirklich ein abenteuerlustiges Mädchen!«
»Ich weiß nicht, ob ich darin Ihrer Meinung bin«, sagte Stephen gedehnt. Jedes Mal, wenn er Beas Blick begegnete, spürte er eine elektrisierende Gefahr, besonders in den Lenden. Sie war ein durch und durch unverschämtes Weibsstück, und doch gefiel es ihm, wie sie Lady Godwin verteidigte. Dennoch war diese Maskerade einer Sechzehnjährigen vollkommen albern. Ihr Gesicht war viel zu lebendig für den ganzen Unsinn, den sie hier auftischte. »Ich für meinen Teil würde gern erfahren, wie der Lakai eigentlich auf Lady Beatrix’ Annäherungsversuche reagiert hat«, sagte er. »Ist Ihnen das nicht aufgefallen, Mrs Cable? Lady Beatrix hat uns zwar erzählt, dass sie sich ihrem Diener an den Hals geworfen hat, aber wie er darauf reagiert hat, das hat sie uns nicht erzählt. Könnte es vielleicht sein, dass er sie zurückgewiesen hat?«
Mrs Cable schnaubte verärgert. »Mir will nicht im Traum einfallen, wozu wir über so ein widerwärtiges Thema sprechen müssen! Lady Beatrix will uns gewiss nur erschrecken, fürchte –«
»Aber gar nicht!«, protestierte Bea. »So etwas würde ich doch nie tun, Mrs Cable!«
Mrs Cables Augen wurden schmal. »Darf ich denn erfahren, wo sich Ihr Vater zurzeit aufhält, Mylady?«
»In seinem Haus«, antwortete Bea und wurde im Nu wieder zu einem kleinen Mädchen. »Ich bin eine große Enttäuschung für ihn, Mrs Cable. Ehrlich gesagt wohne ich jetzt mit Mrs Withers zusammen.«
Wieder schnaubte Mrs Cable zornig. »Und dieser Lakai …«
»Oh, mit ihm hat das nichts zu tun«, erzählte Bea. »Papa hat ihn aufs Land in eines unserer Anwesen geschickt. Ich war es, die –«
»Ich will das nicht hören!«, kreischte Mrs Cable. »Sie wollen mich zum Besten haben, Mylady, und das ist nicht nett von Ihnen. Ich sehe doch auf den ersten Blick, dass Sie nicht zu diesen skandalumwitterten Frauen gehören, auch wenn Sie das glaubhaft machen wollen!«
Helene warf Bea einen warnenden Blick zu und legte Mrs Cable beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Sie haben natürlich vollkommen recht, Mrs Cable. Ständig flehe ich Lady Beatrix an, sich nicht so frivol zu betragen, doch ich muss leider gestehen, dass sie ein rechter Wildfang ist. Aber es ist alles nur ein Scherz, Mrs Cable.«
»Ich wusste es ja«, sagte die Frömmlerin und blinzelte heftig. »Ich bin eine gute Menschenkennerin, wie Ihnen auch Mr Cable bestätigen kann. Lady Beatrix, Sie möchten uns schockieren, können aber Ihre natürliche Unschuld nicht verleugnen. Sie steht Ihnen förmlich ins Gesicht geschrieben. Was, haben Sie gesagt, ist das hier?«, wandte sie sich an den Lakaien. »Warmer Gurkensalat? Nun, ich gedenke einen Happen zu probieren.«
Stephen schaute Bea an, und sie erriet seine Gedanken genau. Er dachte an die Ziegenweide – und wie es in Wahrheit um ihre Unschuld bestellt war.