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In tiefster Nacht

Es war zwei Uhr morgens. Sebastian war eben erst seine Mutter vor der Tür ihres Schlafgemachs losgeworden. Den ganzen Abend hatte sie von Bällen und Almack’s und anderen Orten geschwatzt, wo er eine passende Ehefrau finden würde. Die auch Kinder bekommen konnte, wie sie immer wieder betonte. Aber Sebastian war an keiner Frau, nicht einmal an einer besonders fruchtbaren, interessiert.

Es kam natürlich nicht infrage, dass er Esme tagsüber aufsuchte. Aber jetzt … war es doch bestimmt spät genug? Das Kind musste längst friedlich in der Kinderstube schlummern, sodass Esme jetzt Besucher empfangen konnte. Sie hatte so viele Qualen ausgestanden. Er musste sie einfach sehen.

Sebastian stieg die dunkle Treppe hinauf und kam sich vor wie ein Mann, der zum ersten Mal zu einer neuen Geliebten geht. Esmes Zimmer war vom Schein des Kaminfeuers hell erleuchtet. Sie saß mitten auf dem Bett und schaukelte vor und zurück, wiegte das Kind in ihren Armen. Ihre Haare hingen ihr auf die Schultern herab. Sie hatte ihn gar nicht gehört.

Leise schloss er die Tür. »Esme«, flüsterte er.

Sie zuckte zusammen und starrte ihn erschrocken an. Sie sah so erschöpft und abgehärmt aus, dass Sebastian erschrak. Er wusste, wie schwer eine Geburt war, aber Esme sah aus, als hätte sie in einer Schlacht gekämpft.

Da vernahm er ein leises Wimmern. Esme warf ihm einen wütenden Blick zu und widmete sich wieder dem Kind. Wie durch Zauberhand fiel der Zorn von ihr ab. Sie beruhigte das Baby mit leisen Gurrlauten, lächelte in das kleine Gesicht und überschüttete es mit Küssen. Natürlich hörte der Kleine sofort auf zu weinen. Vor allem, da Esme ihm nun ihre Brust bot. Sebastian setzte sich neben das Bett und schaute ihnen zu. Esmes aufgelöstes Haar, ihre Brust und die kleine Hand des Kindes, das ihren Finger festhielt, alles war von Mondlicht übergossen. Sicherlich war es nicht recht, dass er sich so sehr wünschte, er möge dazugehören. Er wollte sich auf das Bett setzen und William die Brust reichen, er wollte …

Für sie da sein.

»Er kommt mir wie ein friedliches Kind vor«, äußerte Sebastian, als Esme William an ihre Schulter gelegt hatte und ihm den Rücken klopfte.

Sie sah ihn zornig an. »Er ist sehr zart. Ich muss aufpassen, dass er sich nicht erkältet.«

Sebastian musterte die dicken, strampelnden Beinchen. »Er ist zart?«

Esme nickte, während William ein Bäuerchen machte.

»Er hört sich an wie einer der Burschen in der Dorfschänke«, meinte Sebastian. William schaute ihn bierselig an. »Er sieht sogar betrunken aus!«

»Tut er nicht!«, widersprach Esme empört. »Aber findest du nicht auch, dass er Miles’ Ebenbild ist? Ich habe es ja gewusst. Ich habe es von Anfang an gewusst!«

In Sebastians Augen sah William aus wie die meisten Neugeborenen: kahl, pummelig und rot. Ja, irgendwie sah er Miles ähnlich. Aber dann hatten alle Babys Ähnlichkeit mit Miles.

»Ich habe auch blaue Augen«, sagte er, ohne nachzudenken.

»Nicht azurblau«, widersprach Esme. »Außerdem liegt es nicht an der Farbe, sondern an seinem Blick. In ihm liegt so viel Liebe … wie bei Miles. Er ist der liebste Junge der Welt, nicht wahr, mein Kleiner?« Und sie hob William hoch und küsste sein Gesicht ab. »Nun wird aber geschlafen!« Sie warf Sebastian einen mahnenden Blick zu. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu gehen.

Sie glaubte wohl, dass er jetzt das Haus verlassen würde. Das tat er aber nicht. Er blieb. Und auch seine Mutter würde bleiben müssen, ob es ihr gefiel oder nicht. Falls die Öffentlichkeit den Aufenthaltsort des berüchtigten Marquis Bonnington erfuhr, würde die Anwesenheit seiner Mutter peinliche Verdachtsmomente zerstreuen können.

Oder auch nicht. Sebastian war es ohnehin völlig gleichgültig.

William verschlief fast den ganzen nächsten Tag, während Esme und Arabella an seiner Wiege standen und seine vollkommenen Zehen und sein rundes Bäuchlein bewunderten. Esme war überzeugt davon, dass William sie bereits erkannte. »Das ist ein Blick der Liebe und Zuneigung«, sagte sie, als William endlich die Augen aufschlug.

»Wenn du meinst«, sagte Arabella.

»Ich weiß es. Glaubst du, dass er es warm genug hat? Ich finde, seine Wange ist ein bisschen kalt.« Sie fühlte seine Temperatur mit dem Handrücken und steckte die Decken um ihn fester.

»Ich läute dem Diener, damit er das Feuer schürt«, sagte Arabella bereitwillig. Das war eine der Eigenschaften, die Esme an ihrer Tante so schätzte. Anders als das Kindermädchen, das ihr dauernd widersprach, stellte Arabella Esmes Urteil nie in Frage.

Esme nahm William auf und legte seine kleine Wange an ihre. Sie fühlte sich an wie die zarteste Seide der Welt.

»Deine Mutter hat also geschrieben, dass sie kommt, sobald es ihr möglich ist?«, fragte Arabella und fuhr bewundernd über die zarten Spitzen von Williams Bettdecke.

»Ich bin ja so froh darüber«, gestand Esme. »Ich war sehr enttäuscht, dass sie nicht früher gekommen ist. Aber jetzt wird sie William ganz gewiss in ihr Herz schließen.«

Arabella warf ihrer Nichte einen traurigen Blick zu. »Natürlich wird Fanny William ins Herz schließen. Aber ich glaube …« Sie verstummte.

»Mach dir keine Sorgen. William wird sie bezaubern.«

Arabella musterte das hoffnungsvolle Gesicht ihrer Nichte und beschloss, ihrer Besorgnis trotzdem Ausdruck zu verleihen. »Ich mache mir Sorgen um dich, Esme. Deine Mutter hat in ihrem Leben viele Enttäuschungen erlebt. Dadurch ist sie verbittert geworden.«

»Das weiß ich doch«, gab Esme zurück. Sie hatte immer gewusst, dass sie für ihre Mutter die härteste Prüfung darstellte. »Aber William wird das alles wieder gutmachen, verstehst du? Und natürlich werde ich in Zukunft die Tochter sein, die sie sich immer gewünscht hat. Sie wird sich nicht mehr meinetwegen schämen müssen.«

»Ja-a. Ich hoffe natürlich, dass es so kommt.«

»Aber du glaubst es nicht?«

»Ich fürchte, du könntest eine Enttäuschung erleben«, sagte Arabella. »Wenn Fanny deine Gefühle verletzt, werde ich sie selbstverständlich ausschelten. Aber es gibt noch andere …«

»Du musst dir nicht so viele Gedanken machen. Mama hat sich immer gewünscht, dass ich anständig werde, und jetzt bin ich es. Ich lebe in Wiltshire als die tugendhafte Witwe, die ich ja auch bin. Was könnte sie sich mehr wünschen?«

»Fanny besitzt einen schwierigen Charakter. Sie hat einen großen Teil ihres Lebens damit verbracht, dir wegen deines Benehmens Vorhaltungen zu machten, was mir übrigens immer schon zuwider war.«

Esme lächelte reuig. »Und ich hatte es ja auch verdient. Ich bin die Erste, die zugibt, dass mein Ruf so schwarz war, wie sie immer gesagt hat.«

»Aber Fanny war bereits eine verbitterte Frau, bevor du ihr brauchbarer Prügelknabe wurdest. Als wir noch Kinder waren, hat sie auch immer an mir etwas zu beanstanden gefunden. Esme, meine Schwester ist ein zutiefst unzufriedener Mensch. Dein Großvater pflegte sie Fräulein Säuerlich zu nennen, weil sie stets mit einem Schmollmund im Hause umherstolzierte und an allem und jedem etwas auszusetzen fand.«

»Ich weiß, dass Mama ein schweres Leben hatte«, sagte Esme. Sie kitzelte William durch seine Decken hindurch, und er sah aus, als werde er jeden Moment anfangen zu lachen. »Aber ein Enkel könnte sie von ihrem Kummer heilen – besonders, wenn er sie so anlächelt wie jetzt. Lach mal, William! Lach für Mama! Und er ist wunderschön. Selbst Sebastian hat gestern Nacht gesagt, dass er –« Sie brach ab und wandte sich zu Arabella um, die sie nur kopfschüttelnd betrachtete.

»Du bist eine Frau ganz nach meinem Herzen«, sagte sie. »Habe ich dir nicht gesagt, dass es mit Mann viel netter ist als ohne?«

Esme biss sich auf die Lippen. »Sebastian hat lediglich –«

»Du brauchst nicht ins Detail zu gehen. Aber was ist nun mit Fairfax-Lacy? Wann willst du dieses lächerliche Theater aufgeben?«

»Nicht, solange Mama da ist! Sie kommt doch nur wegen meiner Verlobung.«

»In diesem Falle rate ich dir, Bonnington stets sehr spät zu empfangen. Wenn Honoratia Bonnington herausfindet, dass ihr Sohn dich heimlich in deinem Schlafzimmer besucht, und das während des Wochenbettes, wird sie Zeter und Mordio schreien.«

Esme feixte. »Der Marquise wegen mache ich mir keine Sorgen. Aber Mutter sollte es lieber nicht erfahren.«

»Selbstverständlich nicht«, stimmte Arabella zu. »Wir wollen gewiss nicht, dass die heilige Fanny erfährt, dass du in den Stunden vor Morgengrauen einen Mann in deinem Schlafgemach empfängst.«

»Seine Besuche sind in gar keiner Weise anstößig«, beeilte sich Esme zu versichern.

Arabella beugte sich über die Wiege. »Mein erster Ehemann Robbie hat mich auch immer so angesehen wie Marquis Bonnington dich.«

»Ich glaube nicht, dass ich mich an ihn erinnere«, meinte Esme. »Und Sebastian sieht mich nicht so an.«

»Robbie ist gestorben, als du noch sehr klein warst. Vermutlich hast du ihn gar nicht kennengelernt. Wie er deinen Vater verabscheut hat!«

»Warst du sehr verliebt in ihn?«, fragte Esme.

»Zu sehr«, erklärte Arabella. Sie drehte sich mit strahlendem Lächeln zu Esme um. »Verlieb dich niemals, Darling. Das macht Abschiede so trostlos.«

Esme sagte nichts zu diesem Unsinn, gab ihrer Tante jedoch einen Kuss.

»Ich kann deiner Mutter gar nicht so böse sein, wie ich möchte«, wechselte Arabella wieder einmal sprunghaft das Thema, »weil ich so viel Glück mit meiner ersten Ehe hatte und sie dagegen so viel Pech. Robbie war ein herzensguter Mensch. Er ist lachend gestorben, weißt du? Wir waren ausgeritten, und er lachte über etwas, das ich gesagt hatte. Er passte nicht auf, und sein Pferd ist über ein Kaninchenloch ins Stolpern geraten.«

»Oh, Arabella«, sagte Esme und umarmte ihre Tante.

»Ich erzähle dir das nur, um auf den Unterschied zu deinem Vater hinzuweisen«, fuhr Arabella fort. »Der Mann hat sein Lebtag nicht gelacht. Die Ehe mit ihm muss die reinste Hölle gewesen sein, auch wenn deine Mutter das nie zugeben wird. Einfach furchtbar. Ich durfte mir meinen Ehemann aussuchen, weil ich die hässliche Schwester war, Fanny aber wurde an den Höchstbietenden losgeschlagen.«

»Meinst du nicht, dass William ihren Schmerz ein wenig lindern wird?«

»Ich hoffe es, Darling. Ich hoffe es wirklich.«