14

Noch stehen Bücher in der Bibliothek …

Bea schlich gerade über den Korridor Richtung Haupttreppe und Bibliothek, als sie hinter einer Tür ein herzhaftes Lachen vernahm. Sie hätte es überall erkannt. In ganz London gab es keinen Mann mit einer so schönen, tiefen Stimme wie Mr Fairfax-Lacy, der steife Puritaner.

Es war nicht so, dass Bea Helene und Mr Fairfax-Lacy ihr Vergnügen missgönnte. Sie wünschte ihnen von ganzem Herzen Erfüllung. Immerhin hatte sie die beiden zusammengebracht, nicht wahr? Bea strebte schnurstracks auf die Treppe zu und versuchte, nicht daran zu denken, was den Puritaner zu einem so freudigen, schallenden Gelächter veranlasst hatte. Was hatte Helene getan? War sie ebenso wie sie bewandert in der Kunst, einen Mann zu erfreuen? Bea glaubte es nicht.

Vielleicht war es das Lachen zweier Menschen gewesen, die sehr unerfahren waren und gemeinsam nie gekannte Freuden entdeckten. Bea konnte sich allerdings nicht entsinnen, je mit einem Mann gelacht zu haben. Sie rief sich die entsprechenden Anlässe ins Gedächtnis. Da hatte es eine Menge heftiges Atmen und Getue gegeben … aber Lachen? Das nicht.

Bei der Erinnerung an ihre Verflossenen wurde ihr ein wenig übel, und sie schritt umso entschlossener die Treppe hinab. Als sie in der Bibliothek war, strich sie an den Regalen entlang und hielt ihre Kerze hoch, um die Titel lesen zu können. Doch sie fand kein Buch, das sie zu fesseln vermochte.

Die Vorstellung, in ihr kaltes Bett zurückzukehren, war bedrückend. Und die Aussicht, eines dieser törichten Bücher zu lesen, reichte aus, um eine Frau in den Wahnsinn zu treiben. Bea ließ sich auf eine kalte Polsterbank fallen, zog die Füße unter ihr Nachthemd (ein köstliches, duftiges Fabrikat aus Brüsseler Spitzen, das hübsch anzusehen war, jedoch kaum wärmte) und überlegte, wann ihr Leben derart aus den Fugen geraten war.

Die Gesellschaft hätte darauf, ohne zu zögern, geantwortet, dass es in dem Moment geschehen war, als Lady Ditcher ein Zimmer betrat und vor Schreck erstarrte, als sie eine der Töchter des Herzogs von Wintersall in den Armen eines Gentleman ertappte. Und schlimmer noch, man hatte die weißen Schenkel und violetten Seidenstrümpfe der jungen Dame sehen können. Das hatte Lady Ditcher vollends empört.

Die traurige Wahrheit war jedoch, dass die Probleme schon lange davor angefangen hatten. Nämlich als Bea fünfzehn war und sich in den Ersten Lakaien ihres Vaters verliebte. Es war ihr gleichgültig, dass Ned die dreißig bereits überschritten hatte. Sie betete ihn an. Leider hielt sie mit ihrer glühenden Verehrung nicht hinter dem Berg, und binnen kürzester Zeit wusste die ganze Familie Bescheid. Schließlich schickte ihr Vater den feschen Lakaien auf eines seiner fernen Landgüter. In Zorn geriet er deshalb noch lange nicht. Doch als er entdecken musste, dass seine Tochter dem Diener Briefe schrieb, lange, leidenschaftliche Briefe, und das Tag für Tag …

Und das war ihr großer Irrtum in Bezug auf Ned gewesen.

Denn Ned der Lakai hatte sie gar nicht haben wollen. Bea hatte sich ihm in ihrer knospenden Mädchenblüte und glühenden Liebe angeboten, und er hatte sie nicht gewollt. Es war ihm nicht einmal um seine Stellung gegangen, nein, Ned der Lakai war schlicht und ergreifend nicht interessiert gewesen. Nachdem Beas Vater ihn aufs Land geschickt hatte, beantwortete er keinen einzigen von Beas Briefen. Zunächst hatte sie sich einzureden versucht, Ned könne nicht lesen, doch später musste sie sich eingestehen, dass er einfach kein Interesse hatte. Ihm war sie nur lästig gewesen.

Seit jener Zeit schien sie einem Ned nach dem anderen nachgejagt zu sein … nur leider waren sämtliche Neds, die sie danach fand, von ihr begeistert und deshalb tödlich langweilig.

Bea krümmte ihre Zehen und schaukelte auf der kalten Bank vor und zurück. Sie war nicht das wollüstige Luder, für das ihr Vater sie hielt. Auch sie begehrte all das, was andere Frauen wollten: einen Ehemann, ein Kind, zwei Kinder, Liebe … Wahre Liebe, nicht die Art von Liebe, die man durch ein ausgestopftes Mieder einfangen konnte.

Du hast es vollkommen falsch angefangen, warf sie sich zornig vor. Und jetzt war es zu spät. Sie konnte nicht einfach Rouge Rouge sein lassen und schwören, nie mehr lästerliche Worte zu gebrauchen. Denn sie mochte sich, wie sie war. Nur, dass … sie sich manchmal sehr einsam fühlte.

»Ach, verflucht noch mal!«, rief Bea aus und rieb sich heftig die Nase, um nicht in Tränen auszubrechen. »Zur Hölle damit! Und zur Hölle mit Ned!«

Ein leises Geräusch ließ sie aufblicken, und da stand er in der Tür: Mr Lachender Liebhaber persönlich, ein hochgewachsener, breitschultriger und ungemein aristokratisch aussehender Mann. Jeder Zoll ein Gentleman, beileibe kein Lakai. Nicht einmal von Ned hatte sie sich so kalte und missbilligende Blicke gefallen lassen müssen. Und natürlich war Mr Fairfax-Lacy nach seinem mitternächtlichen Ausflug in die Gemächer der Gräfin befriedigt. Allein das würde ihn für ihre wie auch immer gearteten Reize unempfänglich machen.

»Ned?«, fragte er erstaunt. »Dieser Gentleman wird wohl nicht hier erwartet, sondern lebt einzig und allein in Ihren Gedanken?«

»Korrekt«, antwortete Bea, schmiegte ihr Kinn an die Knie und redete sich ein, dass es ihr nichts ausmachte, dass er eben bei Helene gewesen war. »Und wie ist Ihr Befinden, Mr Fairfax-Lacy? Können Sie nicht schlafen?«

»Etwas in der Art«, erwiderte er und machte ein Gesicht, als könne ihn kein Wässerchen trüben.

Was in aller Welt tat er hier in der Bibliothek, statt sich an den dürren Körper seiner Geliebten zu schmiegen? Das war ein gemeiner Gedanke, schalt sie sich. Du bist doch die Frau mit dem wattierten Busen. Aber ihre Eigenschelte trug nicht gerade zu besserer Laune bei.

»Nun, was haben Sie in der Bibliothek zu suchen?«, fuhr Bea fort. »Ich dachte, Sie hätten Wichtigeres zu tun.«

Er antwortete nicht sogleich, sondern trat näher und drehte den Docht der Petroleumlampe herunter. »Eigentlich bin ich hier, um den Lyrikband zu suchen, den Sie Lady Godwin zum Vorlesen gaben.«

»Warum – wollen Sie etwa eine private Lesung abhalten?«, erkundigte sie sich.

Das kleine Luder hatte es sich auf der Polsterbank bequem gemacht, sich zusammengerollt wie ein Kätzchen. Eigentlich hätte sie mit den offenen Haaren kindlich wirken müssen, doch dieser Eindruck wurde von dem Grübchen zunichtegemacht, das ihr einen wissenden Ausdruck verlieh. Außerdem hatte sie die Angewohnheit, einen Schmollmund zu ziehen, als erwarte sie einen Kuss.

Er ging auf sie zu. »Warum haben Sie Lady Godwin ausgerechnet dieses Gedicht zum Vorlesen gegeben?«

»Hat es Ihnen nicht gefallen?«, fragte sie dagegen.

Von Nahem betrachtet, hatte sie weiß Gott nichts Kindliches mehr. Ihr Haar war so rot wie glühende Kohlen. Wie ein Wasserfall ergoss es sich über ihren Rücken. »Sie haben Ihr Gesicht gewaschen«, stellte er fest. Und ohne auf die Warnsignale zu achten, ging er vor der Bank in die Hocke, um ihr gerade in die Augen schauen zu können. »Ja, was ist denn das?«, spottete er. »Ich glaube gar, Ihre Augenbrauen sind so gelb wie Gänseblümchen!«

»Eher rötlich«, berichtigte sie ihn. »Ich verabscheue sie. Und falls Sie zu meinen Wimpern auch etwas bemerken möchten: Die haben genau die gleiche Farbe.«

»Das ist eigentlich seltsam. Wieso sind sie nicht rot wie Ihr Haar?«

Bea zog die Knie enger an sich und krauste das Näschen. »Wer weiß das schon? Eine meiner Schwestern hat rote Haare und wunderbare Wimpern. Meine aber wären unsichtbar, wenn ich sie nicht tuschen würde.«

»Sie sind aber dennoch sehr lang.« Er musste sich beherrschen, um sie nicht zu berühren.

»Und von Natur aus geschwungen. Ich sollte dankbar sein für ein Material, mit dem ich arbeiten kann. Wenn ich sie schwärze, sehen sie ganz annehmbar aus. Natürlich erlaube ich nie einem Mann, mich ungeschminkt zu sehen.«

»Und was bin ich dann für Sie?«, fragte Stephen. Im Grunde war sie jetzt viel verführerischer, als wenn sie versuchte, verführerisch zu sein. Sie duftete nach Limonen und nicht nach einem schweren französischen Parfüm. Und ihre Lippen hatten einen bezaubernden Rosaton, die Farbe von Blumen in einem Sommergarten.

»Ich halte Sie durchaus für einen Mann. Aber Männer, die bereits befriedigt sind, haben mich noch nie interessiert.«

»Wie außerordentlich grob Sie sich ausdrücken! Und vulgär dazu.«

»Was erstaunt Sie daran?«, gab sie zurück, offenbar von seiner Kritik unbeeindruckt. »Sicherlich haben Sie schon das eine oder andere Mal mit einer Frau geredet, die nicht gerade ein Muster von Anstand war.«

»Ehrlich gesagt haben Bordelle mich nie interessiert. Ich habe stets andernorts willige Gefährtinnen gefunden.«

Bea zuckte lediglich die Achseln. Stephen war nicht der Erste, der ihr durch die Blume zu verstehen gab, dass sie eine Dirne war. Sie fand jedoch, dass diese Einschätzung nicht gerade für seine Intelligenz sprach. Es gab einen gewaltigen Unterschied zwischen ihr, die sie gelegentlich die Gesellschaft eines Mannes erfreute, und jenen Dämchen, die es für Geld taten, und wenn er diesen Unterschied nicht sah, dann war er ebenso beschränkt wie die meisten anderen Männer.

»Woher haben Sie denn nun das Gedicht?« Er stand auf und trat vor die Bücherregale.

»Ich hatte es mitgebracht.«

Stephen fuhr herum. »Sie reisen mit einer Sammlung unzüchtiger Gedichte?«

»Ich habe Richard Barnfield erst vor Kurzem entdeckt und mag ihn sehr. Das Gedicht, das Helene vorgelesen hat, ist das sinnlichste von allen. Und es hat doch Wirkung gezeigt, nicht wahr? Sie haben sich wie ein Hühnerhund an ihre Spur geheftet!«

»Ich bin nicht nur ein Hund, sondern auch noch ein Hühnerhund?« Er kehrte zu der Bank zurück und setzte sich neben sie. Sein Verstand riet ihm, sofort damit aufzuhören, sich wie besagter Hund zu benehmen. Doch er sehnte sich mit jeder Faser seines Körpers nach ihrer Nähe.

»Wenn Sie das Gedicht lesen wollen – Lady Godwin hat es dort auf dem Tisch liegen lassen.«

Stephen holte das Buch und setzte sich wieder. Er wollte Bea nicht mehr anschauen. Ihre dichten goldenen Wimpern fingen das Licht aus dem Kamin ein. »Ich werde es mir ausleihen, wenn Sie gestatten«, sagte er, während er in dem Band blätterte.

»Ich war überrascht, dass Sie Daniel kannten, auch wenn Sie ein furchtbar scharfzüngiges Beispiel ausgesucht haben. Sie hätten wissen müssen, dass Lady Arabella Ihnen ein Poem verargen würde, in dem Frauen für ihr Älterwerden kritisiert werden.«

»Es lag mir fern, das Alter zu kritisieren«, entgegnete er. Wider besseres Wissen streckte er die Hand aus und berührte eine ihrer Locken. Sie war seidenweich und ließ sich leicht um seinen Finger wickeln. »Dieses Gedicht war an Sie gerichtet. Es sollte eine Rüge sein für die Art, wie Sie Ihr Gesicht bemalen.«

»So viel habe ich auch begriffen.« Bea hatte ein Gefühl, als zögen Feuerranken an ihren Armen und Beinen, um sie in seine Arme zu locken. Sie legte ihren Kopf auf die Knie und schaute ihn an. Er war in das Buch vertieft. Wer hätte gedacht, dass Mr Fairfax-Lacy Gedichte mochte? Ein solch vollkommener englischer Gentleman? Selbst nachdem er (vermutlich) das Bett mit Helene geteilt hatte, war er untadelig gekleidet. Nur seine fehlende Krawatte verriet, wo er sich aufgehalten hatte.

»Wo ist denn Ihre Krawatte?«, fragte Bea – und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Sie wollte die Antwort doch gar nicht wissen, warum also fragte sie?

»Ich habe das Gedicht gefunden.« Seine Augenbrauen hoben sich beeindruckt. »Meine Güte, Bea, Sie sind wirklich eine erstaunliche junge Frau!«

»Nur in meinen lichten Momenten. Also, wo ist Ihre Krawatte?« Zweifellos auf dem Boden von Lady Godwins Zimmer, nachdem er sie sich vom Halse gerissen hatte, um rasch zu der keuschen – oder vielleicht doch nicht so keuschen – Gräfin ins Bett zu steigen. »Haben Sie sie auf dem Boden liegen lassen?«, fragte sie. Eifersucht strömte wie flüssiges Feuer durch ihre Adern.

»Nein, durchaus nicht«, erwiderte er, immer noch in das Buch vertieft. Der missbilligende Ausdruck seiner Augen gab ihr wieder einmal zu verstehen, dass sie vulgär war.

Bea warf ihm einen Blick glühender Leidenschaft zu, nur um ihn wütend zu machen. Das Manöver gelang.

»Ich hasse es, wenn Sie mich als Übungsobjekt benutzen.« Er funkelte sie wütend an. »Sie wollen mich doch gar nicht, Bea, also lassen Sie das Theater.«

Sie schenkte ihm einen weiteren leidenschaftlichen Blick, und wenn er nicht so beschränkt gewesen wäre, hätte er begriffen, dass … sie es ernst meinte. Denn das heiße Verlangen, das sie durchströmte, war stärker als alles, was sie je empfunden hatte.

Doch natürlich merkte er es nicht. Er runzelte lediglich die Stirn, griff in seine Tasche und zog seine Krawatte heraus.

»Ach, da ist sie ja«, sagte sie, ein wenig albern.

»Ein Gentleman vergisst seine Krawatte nicht«, sagte er und rutschte unvermittelt auf sie zu.

Bea hob den Kopf, denn sie glaubte, er werde sie jetzt endlich – endlich! – küssen. Doch einen Augenblick später war die Krawatte über ihre Augen geknotet. Sie spürte, wie er sich wieder zurückzog, und hörte die Seiten des Buches rascheln.

»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie auf Ihr Zimmer gehen möchten«, sagte er höflich und zugleich belustigt. »Ich glaube, so ist es für uns beide angenehmer.«

Einen Moment saß Bea wie betäubt da. Immer noch hatte sie die Arme um ihre Knie geschlungen. Doch sie konnte nichts mehr sehen. Ihre anderen Sinne entfalteten sich. Sein Bein war nur wenige Zoll von ihr entfernt, und vor ihrem geistigen Auge sah sie es genau vor sich: wie seine Muskeln die fein gesponnene Wolle seiner Hose strafften. Sie sah seinen Hosenbund, der glatt anlag, ohne dass ein Bauchansatz das Bild verunstaltet hätte. Und sie sah sogar – und keine anständige Frau hätte dies bemerken dürfen – die Schwellung zwischen seinen Beinen vor sich, die höchstes Vergnügen versprach.

Bea rutschte unruhig auf der Polsterbank herum. Es war schlimmer, als wenn sie ihn sehen konnte. Erregung durchströmte sie, sammelte sich zwischen ihren Beinen. Vielleicht half es, wenn sie sich an die Rückenlehne sinken ließ und sich ein wenig streckte. Vielleicht würde ihr Nachthemd aus hauchzarter Spitze, von Exil-Parisern hergestellt, das bewirken, was sie selbst anscheinend nicht fertigbrachte: ihn zu verführen. Vielleicht konnte sie ihm eine Ahnung der Sehnsucht vermitteln, von der sie ergriffen war.

Doch all das hatte sie ja schon versucht. Es war nachgerade beschämend, wie sehr sie es darauf angelegt hatte, einen Funken des Verlangens in seinen Augen zu entzünden. Sie hatte sich an ihm gerieben wie eine Katze und sich so oft vorgebeugt und ihr Dekolleté präsentiert, dass er glauben musste, sie litte unter Rückenschmerzen. Doch keines dieser Manöver hatte auch nur das geringste Interesse in dem Mann wachgerufen. Nur einmal, als sie vom Regen durchweicht und mit Schlamm bedeckt war, da hatte er sie küssen mögen.

Bea biss sich auf die Lippen. Sie sollte sich lieber zurückziehen. Doch sie musste sich eingestehen, dass sie ebenso wenig Neigung verspürte, auf ihr Zimmer zu gehen wie das Atmen einzustellen. Nicht, wenn noch eine winzige Möglichkeit bestand, dass er sie küsste, dass er verstand, dass er …

Oh, gib, dass das Gedicht ihn erregt, da ich es anscheinend nicht vermag, betete sie zu einer beliebigen heidnischen Göttin. Bitte gib, dass es ebenso wirkt wie bei Helene.

»Wenn’s Sünde ist, zu lieben einen hübschen Knaben«, las er.

Seine Stimme war so tief, so sinnlich, dass Bea erbebte. Auf sie wirkte das Gedicht, keine Frage. Sie spürte, dass er sich vorbeugte. Doch sie selbst verbot sich jede Bewegung.

»Des’ bernsteinfarb’ne Locken, hoch gefasst im Netz, munter umspielen die schöne Wange …«

Bea zitterte heftig, als seine Hand ihren Kopf berührte.

»Ihr Haar ist dunkler als Bernstein, Lady Beatrix. Es hat eher die Farbe von …«

»Wein?«, fragte Bea mit nervösem Kichern. Es verunsicherte sie zutiefst, nichts sehen zu können. Sonst war sie diejenige, die eine Unterhaltung dominierte.

»Rostfarben würde ich es nicht nennen. Vielleicht … eine Farbe wie Rote Bete?«

»Wie poetisch! Mir wäre ein Vergleich mit Rosen oder Flammen lieber.«

»Aber Rote Bete hat genau diesen Ton aus tiefem Rot und kräftigem Orange.«

»Na, wunderbar! Bea, die Rote Bete.«

»Das wäre viel zu lieblich«, stimmte er zu. »Natürlich sähe es weniger betenartig aus, wenn Sie Perlen oder Blumen einflechten würden, so wie der Knabe in dem Gedicht. Denn seine bernsteinfarbenen Locken sind – lassen Sie mich kurz nachschauen – mit Perlen und Blumen durchwirkt.«

»Blumen sind derzeit nicht modern«, sagte Bea verächtlich. »Vielleicht eine Feder. Und Perlen sind so altbacken.«

»Wenn’s Sünde ist, zu lieben eine hübsche Dame«, las er. »So will ich sündigen, dass ihre Liebe mich behüte

Bea verschlug es fast den Atem. Sie wollte diese Stimme trinken – sie wollte, dass diese Stimme sie trank. Sie wollte zärtliche Worte hören … »Sie haben da etwas verändert«, mahnte sie. »Es heißt: Wenn’s Sünde ist, zu lieben einen hübschen Knaben

»Es gibt in meinem Leben keinen Knaben, den ich liebe«, erwiderte Stephen schlicht. Nun musste er sie berühren – er konnte sich nicht länger zurückhalten. Er klappte das Buch zu und legte es neben sich. Bea saß immer noch zusammengerollt wie ein Kätzchen da und wirkte merkwürdig hilflos ohne die Waffe ihrer blitzenden Augen, die ständig Einladungen in alle Richtungen aussandten. Eigentlich vermisste er ihre Blicke sogar.

Vage nahm er das Zittern seiner Hände wahr, bevor er sie berührte. Er hob ihr Kinn an und streifte ihren Mund mit den Lippen. Sie seufzte – war es möglich, dass sie sich ebenso nach seinen Küssen sehnte? Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken.

Doch nun gefiel es Stephen nicht mehr, dass ihre herrlichen Augen bedeckt waren. Und wenn sie schon hundert Männer vor ihm so leidenschaftlich angeschaut hatten – was machte das? Mit einer raschen Bewegung streifte er ihr die Krawatte ab, und bevor sie die Augen aufmachen konnte, umschloss er ihr zartes Gesicht mit seinen Händen und küsste sie wieder, drängender diesmal. Herrisch forderte er eine ehrliche Antwort, die sie noch keinem Mann gegeben hatte.

Ihre Lippen schmeckten süß und wild und öffneten sich mit einem erfreuten Keuchen. Er tauchte in ihren Mund ein, nur um ihr zu zeigen, dass er Begierde dann verspürte, wenn er es wollte, und nicht, wenn sie ihn dazu verleiten wollte.

Doch sie schmeckte nach Limonen, bittersüß, und erwiderte seinen Kuss mit einer Bereitwilligkeit, die nicht vorgetäuscht sein konnte. Ebenso wenig wie das Zittern, das sie überlief, als er sie an sich drückte, und die Heftigkeit, mit der sie ihn umarmte. Oh, sie war … hinreißend, jeder weiche, nachgiebige Zoll von ihr war hinreißend. Es verlangte ihn danach, ihren ganzen Leib zu küssen, zu erkunden, ob diese bittere Süße auch in ihren Kniekehlen, auf ihrem Bauch und zwischen ihren Beinen … ja, ja, auch dort … zu finden war. Denn sie würde ihm alles erlauben, das wusste er. Keine der anständigen Frauen, mit denen er bislang geschlafen hatte, Ehefrauen und Witwen, hätte auch nur im Traum daran gedacht.

Und er hatte es nie ausprobiert, denn er wusste, solche Freiheiten wurden einem nur von Dirnen gewährt, die dafür bezahlt wurden, jegliche Verirrung sinnlicher Art zu gestatten. Aber Bea … die süße, unverheiratete Bea …

Meine Güte, was tat er da?

Er riss sich von ihr los, doch sie folgte seiner Bewegung, die Lippen von seinen Küssen geschwollen, die Augen geschlossen. Er küsste sie noch einmal, ganz zart, leckte nur sanft über ihre Lippen, doch sie öffnete ihren Mund und sog seine Zunge ein. Seine Hände an ihren Schultern wurden zu stählernen Klammern, und das Verlangen pochte in seinen Lenden. Im gleichen Augenblick aber fühlte er, wie Zorn in ihm aufwallte.

»Wo zum Teufel haben Sie diesen Trick gelernt?« Er zog sich zurück.

Bea öffnete die Augen. Für einen Moment war Stephen verwirrt und wusste nicht, was er glauben sollte, denn der Ausdruck ihrer Augen war weich und nachgiebig, geradezu unschuldig. Doch noch während er sie ansah, veränderte sich der Ausdruck, obwohl eine gewisse Sehnsucht darin zurückblieb.

»Welchen Trick?«, fragte sie leise und beugte sich vor. Beinahe hätte sie ihn wieder eingefangen, doch er zuckte zurück.

Bea seufzte. Offensichtlich hatte sich der Wüstling wieder in den Puritaner verwandelt. Da er eindeutig nicht beabsichtigte, sie noch einmal zu küssen – oder etwas anderes zu tun –, konnte sie ebenso versuchen, ihn in Rage zu versetzen. »Ich glaube, von Billy Laslett«, antwortete sie. Jetzt wollte sie wirklich auf ihr Zimmer gehen. Wie furchtbar peinlich das alles war! »Jetzt Lord Laslett, da sein Vater vor einigen Monaten gestorben ist.«

»Laslett hat Ihnen beigebracht, so zu küssen, und Sie nicht geheiratet?«, fragte Stephen fassungslos.

»Oh, gefragt hat er schon«, räumte Bea ein und stand mühsam auf. Immer noch zitterten ihre Knie. »Er hat mich mehrmals gefragt, falls es Sie beruhigt.«

Stephen war nun wirklich zornig. Er erhob sich, ragte drohend vor Bea auf. »Wenigstens erinnern Sie sich an seinen Namen!«

Bea verdrehte die Augen. »So viele Anträge habe ich ja auch noch nicht bekommen, Mr Fairfax-Lacy. Ich bin doch erst dreiundzwanzig. Erkundigen Sie sich wieder danach, wenn ich fünfzig bin. Aber darf ich sagen, dass Sie über ein beeindruckendes Stehvermögen verfügen? Es ist doch gewiss nicht leicht für einen Mann in Ihren Jahren, sich zuerst mit einer Gräfin zu vergnügen und mir danach … einen so beeindruckenden Empfang zu bereiten.« Und sie schaute beziehungsreich auf seine Hose.

Dann lächelte sie zärtlich in sein zorniges Gesicht und huschte davon, ließ Stephen Fairfax-Lacy in der Bibliothek mit einem unzüchtigen Lyrikband allein.

Und mit seinem beeindruckenden Empfang.