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Die Freuden der Poesie
Heute Abend würde Helene Stephen Fairfax-Lacy verführen, und Bea hatte sich damit abgefunden. Immerhin war sie ja die Anstifterin. Sie hatte das beziehungsreiche Gedicht ausgesucht, das Helene vorlesen sollte. Und nicht nur das: Zusammen mit Esme hatte sie einen urkomischen Nachmittag lang versucht, Helene die Sprache des Fächers und andere Verführungskünste beizubringen.
Ich bin nur deswegen so niedergeschlagen, dachte Bea, weil ich niemanden zum Flirten habe. Warum nur hatte Arabella nicht mehr Männer zu dieser Gesellschaft eingeladen? Wenn Bea in dieser Hinsicht ausgelastet gewesen wäre, dann hätte sie ganz gewiss nicht die geringsten Skrupel gehabt, Helene zu helfen.
Ich bin lediglich ein wenig besorgt, versuchte sie sich einzureden, ob mein Schützling die Aufgabe geschickt lösen wird. Denn es war ihr Gedicht, das Helene vorlesen würde, und ihre Idee, Mr Stephen Fairfax-Lacy zu benutzen, um Helenes Gatten eifersüchtig zu machen. Folglich würden sowohl Helenes Erfolg als auch ihr Versagen auf Bea zurückfallen. Doch warum sie sich überhaupt in das Leben vollkommen Fremder einmischen musste, war ihr ein Rätsel.
Lord Winnamore war zum ersten Vortragenden bestimmt worden. Er stand vor dem Kamin und trug langatmig Vergils zweites Hirtengedicht vor. Bea langweilte sich zu Tode. Selbst wenn Shakespeare höchstpersönlich dieses Poem ins Englische übersetzt hatte – es war unerträglich.
»Nun, Winnamore«, meinte Arabella aufgeräumt, sobald er seinen Vortrag beendet hatte, »das war wirklich sehr lehrreich! Es ist dir gelungen, meine Nichte in Schlaf zu versetzen.«
Esme setzte sich erschrocken auf. Sie war in einen Tagtraum mit Sebastian versunken gewesen, in dem er sie … »Ich schlafe nicht«, verkündete sie strahlend. »Vergils Ekloge war faszinierend.«
Arabella schnaubte verächtlich. »Das kannst du deiner Großmutter erzählen! Ich habe jedenfalls geschlafen.«
Lord Winnamore grinste lediglich. »Kann dir nur guttun, ab und zu mal einen Klassiker zu hören«, sagte er launig.
»Nicht, wenn er so langweilig ist. Dann kann er mir gestohlen bleiben. Gehe ich recht in der Annahme, dass dieses Gedicht eine einzige Lobrede auf einen Toten ist?«
Als Lord Winnamore nickte, verdrehte Arabella die Augen. »Wie nett.« Sie wandte sich an die Runde. »Mal sehen … Wir lassen diese schmerzliche Übung ganz schnell hinter uns, ja? Wer möchte als Nächster vorlesen?«
Esme warf Helene einen aufmunternden Blick zu, die kerzengerade in einem Ohrensessel saß und reichlich beklommen wirkte. Eben reichte ihr Bea ein kleines, in Leder gebundenes Büchlein, das in der Mitte aufgeschlagen war.
Helene wurde wenn möglich noch blasser. Sie wirkte vor Angst wie erstarrt. »Helene!«, rief Esme. »Möchtest du ein Gedicht lesen oder sollen wir deine Darbietung auf morgen verschieben?« Aber neben ihrer Angst erkannte sie in den Augen ihrer Freundin noch etwas anderes: stahlharte, grimmige Entschlossenheit.
»Ich bin bereit«, sagte Helene. Und sie erhob sich und nahm Lord Winnamores Platz vor dem Kamin ein. Sie hob das Kinn und lächelte Stephen Fairfax-Lacy an. Esme hätte fast Beifall geklatscht. Als lasziv konnte man Helenes Lächeln beileibe nicht bezeichnen, aber es war reizend.
»Ich lese ›Die Klage der Schäferin‹.«
»Oje, wieder so ein verflixter Schäfer!«, brummte Arabella.
Lord Winnamore warf ihr einen belustigten Blick zu. »Lady Godwin hat Schäferin gesagt, nicht Schäfer.«
Ein Gefühl von Leichtsinn erfasste Helene. Nun war es zu spät, einen Rückzieher zu machen. Fairfax-Lacy würde in ihr Bett kommen, und dann würde sie es Rees unter die Nase reiben!
Sie schenkte Stephen ein weiteres Lächeln, das beinahe schon als Einladung zu bezeichnen war. Er würde dafür sorgen, dass etwas geschah. Was für ein wunderbarer Mann!
»Nun lesen Sie schon«, sagte Arabella ungeduldig. »Wollen wir auch diese Schäferin hinter uns bringen, was? Meine Güte, wer hätte gedacht, dass Gedichte so langweilig sein können!«
Helene schaute wieder zu Stephen Fairfax-Lacy hinüber, um ihn spüren zu lassen, dass dieses Gedicht an ihn gerichtet war. Dann begann sie mit dem Vortrag.
Wenn’s Sünde ist, zu lieben einen hübschen Knaben,
Des’ bernsteinfarb’ne Locken, hoch gefasst im Netz,
Munter sich ringeln um die schöne Wange …
»Hoch gefasst im Netz?«, unterbrach Arabella. »Wie bitte? Was zum Teufel soll denn das bedeuten?«
»Der Mann hat sein Haar in einem Netz hochgebunden«, erklärte Winnamore. »Solche Netze haben Fischer benutzt …« Nun bedachte Helene ihn ebenfalls mit einem ungehaltenen Blick. Sie kam sich beinahe wie eine Lehrerin vor. Ein freundlicher Blick zu Stephen: Komm in mein Zimmer! Ein anderer Blick zu Lord Winnamore: Ruhe auf den hinteren Bänken! »Ich fahre nun fort«, verkündete sie.
Sein sonniges Haar geschmückt mit Perl’ und Blüte.
Wenn’s Sünde ist, zu lieben einen hübschen Knaben,
So will ich sündigen, dass seine Liebe mich behüte.
Helene musste lächeln. Das war genau das Richtige! Sie warf Bea einen dankbaren Blick zu, doch die drehte den Kopf fast unmerklich zu Stephen. Gehorsam richtete Helene ihren Blick auf ihn. Stephen anzulächeln fiel ihr von Mal zu Mal leichter. Und diese Verse über die Sünde mussten ihm einfach deutlich machen, worauf sie hinauswollte.
Oh, gebe Gott, dass ich den Lohn verdiene.
Meine Lippe sei der Honig, und dein Mund die Biene,
Dann sollst du saugen meinen Honig und …
und meine …
Helene verstummte abrupt. Brennende Röte kroch ihr den Hals hoch. Sie konnte … so etwas … nicht lesen! Das schickte sich einfach nicht!
»Das ist doch mal was Saftiges!«, rief Arabella. »Lady Godwin, ich entdecke ja ganz neue Seiten an Ihnen!«
Doch Esme war aufgestanden und nahm der Freundin, die wie erstarrt dastand, das Buch aus den Händen. »Diese neuen Seiten sind aber zu viel für mich«, betonte sie und schob Helene sanft zu ihrem Stuhl. »Für mich als ehrbare Witwe.« Sie warf Bea einen verstohlenen Blick zu und beschloss, diesem kleinen Biest nicht den Gefallen zu tun, sie zum Vorlesen aufzufordern. »Ich würde sagen, für ein Gedicht haben wir noch Zeit.« Nicht, dass es sie drängte, so bald wie möglich auf ihr Zimmer zu gehen … aber vielleicht wartete Sebastian bereits auf sie. Eine Dame ließ einen Gentleman niemals warten.
»Mr Fairfax-Lacy«, wandte sie sich an Stephen, »haben Sie in meiner Bibliothek ein Gedicht gefunden, das Ihnen zusagt?«
»Das habe ich. Und es wird mir ein großes Vergnügen sein, es vorzutragen.« Er stand auf. »Wie es der Zufall will, könnte auch dieses Gedicht von einem Schäfer stammen.«
»Wer hätte gedacht«, brummte Arabella mürrisch, »dass Schäfer so poetisch sind?«
Helenes Herz klopfte vor Scham. Wieso hatte sie sich dazu verleiten lassen, so … unanständige Worte vorzulesen? Warum – warum nur? – hatte sie das Gedicht nicht vorher gelesen? Sie hätte doch wissen müssen, dass ein Gedicht, das die kecke Bea aussuchte, auf jeden Fall unschicklich war. Sie atmete tief durch und wagte es endlich, Stephen anzuschauen.
Doch seine Augen blickten gütig, und sogleich fühlte sie sich besser. Tatsächlich lächelte er sogar.
»Ich fürchte, mein Gedicht ist wohl kaum so interessant wie das Lady Godwins«, sagte er mit einer Verneigung in ihre Richtung, »aber das bin ich ja auch nicht.«
Das ist ein Kompliment!, dachte Helene.
Mr Fairfax-Lacy hatte eine überaus angenehme Stimme. Sie war tief und weithin tragend. Man konnte sich gut vorstellen, wie er vor dem Unterhaus sprach.
Schöne Sirene, holder Zauberschatz,
Süß schweigende Beredsamkeit gewinnender Augen …
Er hielt inne und sah Helene an. Sie verspürte einen untrüglichen Triumph. Er hatte sie verstanden! Sogleich begann sie angestrengt zu überlegen, welches Nachthemd sie tragen sollte. Denn Helene besaß keine dieser sinnlichen französischen Kreationen, wie Esme sie vermutlich trug, wenn sie einen Mann becircen wollte.
Das Gedicht nahm wieder ihre Aufmerksamkeit gefangen, und sei es auch nur wegen Stephens schöner Stimme. Er betonte jedes einzelne Wort, als berge es eine ganz eigene wunderbare Bedeutung.
So war einst ich, war Herrin meiner Schönheit,
Kein künstlich’ Rot, wie es bankrotte Schönheit ziert,
Wenn neu entdeckte Scham, als Sünde uns noch unbekannt,
Die verdorbene Schönheit einer gefälschten Wange …
»Ich glaube, das gefällt mir auch nicht besser als das erste Gedicht«, bemerkte Arabella verstimmt Lord Winnamore gegenüber. »Ich komme mir vor wie ausgescholten. Verfälschte Wange, soso! Und was bitte soll eine bankrotte Schönheit sein? So etwas haben wir hier nicht!«
»So war es doch gar nicht gemeint, Lady Arabella«, beschwichtigte sie Stephen und vergewisserte sich mit einem Blick auf Bea, dass sie zuhörte. Sie hatte sich auf dem Stuhl zusammengerollt wie eine kleine Katze, was ihm einen Ausblick in ihr betörendes Dekolleté gewährte. Und natürlich hatte ihr Mieder wieder einmal die Größe seines Taschentuches!
Die verdorbene Schönheit einer gefälschten Wange,
Ein schnöder Makel auf der Ehre und auf jeder Frau,
Die Zeit wird unser Welken zum Vorschein bringen
Und mit Kunst unsre Makel gnädig bedecken.
»Nun ist es aber genug!«, erklärte Arabella. »Einen Vortrag über die verheerende Wirkung der Zeit auf meine Haut kann ich wirklich nicht gebrauchen. Sie haben Glück, Mr Fairfax-Lacy, dass ich es Ihnen nicht nachtrage, dass Sie in meiner Gegenwart von ›welken‹ gesprochen haben!«
»Es tut mir unendlich leid«, beteuerte Stephen. »Meiner Meinung nach trifft dieses Gedicht auf keine der anwesenden Damen zu.« Er verneigte sich und küsste ihr die Hand. »An Ihrer Schönheit vermag ich keinerlei Welken zu erkennen, Mylady.« Und er sah sie vollkommen zerknirscht an – es war jener Blick, den er einzusetzen pflegte, wenn seine Partei ihm zürnte, weil er für die Opposition gestimmt hatte.
»Hmmm«, machte Arabella, schon wieder einigermaßen besänftigt.
Stephen hatte sein Ziel erreicht: Er war einigermaßen sicher, in Lady Beatrix’ Augen einen Zornesfunken gesehen zu haben. Nun aber beabsichtigte er, das zweite und wichtigere Ziel des Abends zu verfolgen.
Helene sah sich zu ihrer Verblüffung Stephen Fairfax-Lacy gegenüber, der ihr die Hand reichte. »Darf ich Ihnen einen Lyrikband zeigen, den ich gefunden habe, als ich nach einem passenden Gedicht suchte?«, fragte er und nickte zum anderen Ende der Bibliothek hinüber.
»Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Helene ein wenig nervös. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Der war ebenso lang und muskulös wie Rees’ Arm. Waren alle Gentlemen unter ihren feinen Röcken so gut gebaut?
Sie schritten durch die Bibliothek auf die hohen Regale zu. Helene schaute fragend zu Stephen hoch, doch der machte keine Anstalten, ein Buch aus dem Regal zu ziehen.
»Das war nur ein Vorwand, um allein mit Ihnen sprechen zu können«, gestand er mit einnehmendem Lächeln. »Es sah so aus, als seien Sie über Ihr Gedicht entsetzt, und da dachte ich mir, Sie wollten der Gesellschaft vielleicht für eine Weile entrinnen.«
Helene spürte schon wieder jenes verräterische Erröten, das ihren Hals emporkroch. »Nun ja, wer wäre bei diesem Gedicht nicht entsetzt gewesen?«, fragte sie.
»Lady Beatrix Lennox vielleicht?« Sein verschwörerischer Ton wirkte Wunder gegen ihr Erröten.
»Sie hat es mir zum Vorlesen gegeben«, gestand sie.
»Das hatte ich mir schon gedacht.« Er nahm ihre Hand. »Sie haben wunderbare Finger, Lady Godwin. Die Hände einer Pianistin.«
Ihre Hände wirkten in den seinen geradezu zerbrechlich. Aber es gefiel ihr. Denn das Gefühl, eine zarte, zerbrechliche Frau zu sein, war ihr sonst ganz fremd.
»Und Ihr Walzer war nach meinem Dafürhalten ganz vorzüglich.« Er strich mit dem Daumen über ihre Finger. »Sie verfügen über großes Talent, wie Sie sicherlich wissen.«
Helenes Herz schmolz dahin. Noch nie hatte jemand ihre Musik gelobt. Allerdings spielte sie auch selten in der Öffentlichkeit, deshalb erhielt kaum jemand Gelegenheit dazu. »Es ist ein sehr gewagtes Stück«, murmelte sie, während sie ihre Hände in den seinen betrachtete.
»Wieso?«
»Weil es ein Walzer ist«, erklärte sie. Er schien nicht zu verstehen, deshalb wurde sie deutlicher. »Der Walzer wird allgemein als Tanz angesehen, der geradezu fahrlässig schnell ist. Sie wissen doch, dass er bei Almack’s noch nicht eingeführt ist?«
Er zuckte die Achseln. »Ich bin seit Jahren nicht mehr bei Almack’s gewesen und vermisse es keineswegs.«
»Ehrbare Frauen tanzen ihn nicht, und es schickt sich erst recht nicht, einen Walzer zu komponieren.«
»Mir hat er sehr gefallen.« Er lächelte auf sie hinunter. Helene spürte ein Kribbeln bis in die Zehenspitzen. »War das der erste Walzer, den Sie komponiert haben?«
»Nein.« Sie zögerte. »Aber der erste, den ich in der Öffentlichkeit gespielt habe.«
»Dass ich ihn tanzen durfte, betrachte ich als große Auszeichnung«, sagte er mit einer eleganten Verbeugung.
Mr Fairfax-Lacy war wirklich … wirklich höchst bewundernswert. »Könnten Sie erwägen«, fragte sie hastig, »heute Nacht auf mein Zimmer zu kommen?«
Er blinzelte, und einen furchtbaren Moment lang beschlich Helene der eisige Verdacht, sich geirrt zu haben.
Doch er lächelte schon wieder und verneigte sich. »Sie haben meine Frage vorweggenommen.« Er küsste ihre Fingerspitzen. »Darf ich Sie später am Abend auf Ihrem Zimmer besuchen?«
»Es wäre mir eine große Freude«, stammelte Helene. Sein Lächeln wurde tiefer. Er war wirklich ein schöner Mann!
»Ich glaube, die Gäste ziehen sich allmählich zurück, Lady Godwin. Unsere Gastgeberin scheint uns Gute Nacht wünschen zu wollen.«
»Ja, wunderbar!«, stieß Helene atemlos hervor. So also ging das vonstatten! So simpel! Sie forderte ihn auf … und er nahm ihre Einladung an. Fast wäre sie an seinem Arm durch die Bibliothek getänzelt. Esme zwinkerte ihr zu. Bea küsste sie auf die Wange und flüsterte etwas, das Helene nicht verstand. Vermutlich war es ein guter Rat. Arabella wirkte ein wenig mürrisch: Vermutlich hatte sie begriffen, dass ihre Pläne, Esme mit Mr Fairfax-Lacy zu verheiraten, in Gefahr geraten waren.
Helene schwebte auf einer Woge des Triumphes dahin. Sie hatte soeben den begehrtesten Mann im Haus ausgewählt und auf ihr Zimmer bestellt! Sie war keine frigide, kalte Frau, wie ihr Mann immer behauptete.
Sie hatte einen Liebhaber!