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Ein Geschmack an Verführung
Am nächsten Morgen stapfte Bea den Pfad hinunter, um der Ziege einen Besuch abzustatten. Aus purer Langeweile hatte sie sich angewöhnt, das teuflische Geschöpf allmorgendlich zu besuchen. Natürlich hätte sie stattdessen mit dem Puritaner flirten können. Aber ärgerlicherweise übten er und Helene ausdauernd ein vierhändiges Klavierstück ein. Wenn sie Helenes helle Zöpfe dicht neben Stephens dunklem Schopf sah, während die beiden in die Tasten griffen, befiel Bea eine seltsame Sehnsucht, die ihr das Herz abdrückte. Solche Gefühle kannte sie überhaupt nicht.
Einmal, ein einziges Mal, war sie nach dem Frühstück kurz mit ihm allein gewesen. Da hatte er sie mit kühlem Lächeln gemustert und gefragt: »Gehe ich recht in der Annahme, dass du beschlossen hast, nicht um mich zu werben?«
Und sie hatte geantwortet: »Ich werbe nie um einen Mann«, und heimlich gehofft, er werde sie küssen oder sie so anlächeln, wie er Esme und Helene anlächelte. Doch er hatte sich stumm verneigt und war gegangen. Erst in diesem Augenblick war Bea bewusst geworden, dass sie nichts lieber täte, als ihn zu umwerben. Stephen seinerseits zeigte sich wenig geneigt, ihre Bekanntschaft zu vertiefen. Wie denn auch? Er hatte ja gar keine Zeit dazu! Wenn er nicht mit seiner Geliebten Klavier spielte, erzählte er seiner Verlobten derbe Witze. Und Gott allein mochte wissen, wo er seine Nächte verbrachte. Bea knirschte vor Wut mit den Zähnen. Sie dachte mittlerweile mit schöner Regelmäßigkeit an Stephen Fairfax-Lacy und schalt sich ebenso oft dafür. Sie hielt dem Ziegenbock ein Zweiglein hin, das sie mitgebracht hatte, und sah gedankenverloren zu, wie er es zermalmte.
In der Tat, Lady Beatrix Lennox hatte einen gewaltigen Verlust an Selbstvertrauen zu beklagen. Zuerst hatte Mr Fairfax-Lacy sie nicht als Geliebte haben wollen und statt ihrer Helene zu seiner Gespielin erkoren. Und der Marquis Bonnington hatte von Anfang an kein Interesse an ihr gezeigt. Bea musste heftig blinzeln, um ihre Tränen zurückzuhalten.
Der Ziegenbock kaute so geräuschvoll, dass es kein Wunder war, wenn sie nichts anderes hören konnte. »Hast du keine Angst, diesem Spenzer fressenden Untier zu nahe zu kommen?«, fragte mit einem Mal eine Stimme nahe an ihrem Ohr.
Allmählich wird meine Ähnlichkeit mit einem dressierten Hund allzu offenkundig, dachte Bea niedergeschlagen. Sie brauchte nur seine Stimme zu hören, und schon wurden ihr die Knie weich.
»Die Ziege stört mich nicht«, erwiderte sie, ohne sich zu ihm umzudrehen. Denn welchen Sinn hätte das gehabt? Er lehnte neben ihr am Zauntritt, offenbar völlig unbeeindruckt von ihrem ungnädigen Empfang.
»Wir sollten auch die anderen mit dieser faszinierenden Kreatur bekanntmachen«, meinte er müßig. »Ich glaube nicht, dass Esme überhaupt etwas von ihrer Existenz weiß. Ich hingegen ertappe mich zwanghaft dabei, das Tier jeden Tag zu besuchen.«
Bea rüstete sich zur Offensive. »Ich dachte, Sie verbrächten jede Minute mit Lady Godwin«, sagte sie in rüdem Ton. »Oder beansprucht etwa Lady Rawlings den Großteil Ihrer Zeit?«
»Nicht meine ganze Zeit. Bist du etwa eifersüchtig?« Seine Stimme hatte diesen dunklen, lässigen Ton angenommen, der Bea regelmäßig zur Raserei trieb.
»Überhaupt nicht!«, schleuderte sie ihm entgegen und sah ihn zum ersten Mal an. Er war … so gut sah er doch gar nicht aus! Er hatte Fältchen in den Augenwinkeln. Und sein Kinn war zu lang. Herrgott, wie sehr sie Männer mit langem Kinn verabscheute!
»Da bin ich aber froh«, sagte Stephen. Sie konnte den Ausdruck seiner Augen nicht deuten. Machte er sich etwa über sie lustig? Nein, es war wohl eher Mitleid. Ach, zur Hölle damit.
»Denn Esme und ich …« Er zögerte.
»Sie brauchen mir nichts zu erzählen«, äußerte Bea. »Ich kann es durchaus selbst erkennen. Und ich versichere Ihnen, dass ich keine anderen Gefühle hege als den Wunsch, Sie beide glücklich zu sehen.«
»Das freut mich zu hören.« Es war so unfair – stets bewirkte sein Lächeln, dass Schmetterlinge in ihrem Magen flatterten. Langes Kinn, langes Kinn, redete sie sich ein.
»Esme und ich haben ja so vieles gemeinsam.« Offenbar war er zum Plaudern aufgelegt, weil er glaubte, all ihre Illusionen ausgeräumt zu haben. »Ich hatte schon fast vergessen, wie gern ich Wortspiele und Scherze habe.«
»Wie schön«, sagte Bea teilnahmslos. Sie war von einer dicken Hochschwangeren ausgestochen worden. Und dass sie Esme (und Helene) ehrlich mochte, machte die Sache auch nicht besser.
Stephen schaute auf seine kleine Bea. Falls er sich nicht sehr irrte, ging seine Strategie auf: Sie loderte geradezu vor Eifersucht. »Findest du Gefallen an Witzen?«, erkundigte er sich.
Offensichtlich sollte sie sich auf einen Witzwettbewerb einlassen, um der Ehre teilhaftig zu werden, eine weitere Henne in seinem Hühnerhof zu sein. So etwas Entwürdigendes würde Bea nie tun. »Mir fällt da etwas ein«, sagte sie jedoch, ihrem Vorsatz sogleich untreu werdend. »Kennen Sie diese Ballade: Im Bette wie ein Holzscheit seit ein oder zwei Jahren er liegt, und kann mir gar nichts nützen, weil stets seine Faulheit obsiegt? Darauf folgen ein paar ähnlich gestrickte Verse.«
Stephen lachte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Ballade unter Männern viel zitiert wird.« Sein Blick wärmte sie bis ins Innerste, doch ihr Herz schlug warnend.
»Ich erwäge, nach London zurückzukehren, Mr Fairfax-Lacy«, sagte Bea und beschloss, es umgehend zu tun. »Ich muss unbedingt meine Schneiderin aufsuchen. Immerhin ist mein Lieblingsjäckchen von diesem Tier verzehrt worden.« Der Ziegenbock verdrehte die Augen.
»Oh«, machte Stephen. »Du willst mich also nicht mehr umwerben?«, fragte er dann.
»Wie oft wollen Sie mich das noch fragen?!«, fauchte Bea. Es war nachgerade unglaublich, wie eingebildet Männer waren. Unglaublich! Bea schielte ihn unter den Wimpern hervor an. Er sah beinahe – nun ja – besorgt aus.
»Meine schlimmste Sünde ist der Hochmut«, gestand er. »Obwohl mir das bis vor Kurzem nicht klar war. Ich entschuldige mich von ganzem Herzen, wenn ich dein Interesse an mir beim Billardspiel falsch verstanden habe.«
»Das hast du nicht!«, hätte sie am liebsten gerufen. Warum warb er nicht um sie? Warum versuchte er nicht, sie zu verführen?
Wieder riskierte sie einen Blick. Es hatte keinen Zweck. Auch wenn er das längste Kinn im ganzen Abendland besaß, würde sie ihn trotzdem küssen wollen. Oder vielmehr von ihm geküsst werden wollen. Und wie es schien, blieb ihr noch eine Gelegenheit dazu, bevor Esme ihn für die nächsten vierzig Jahre einfing. Doch Bea schaffte es einfach nicht, Stephen einen ihrer lockenden Blicke zuzuwerfen. Sie fühlte sich geradezu gelähmt und elend schüchtern, und überdies war da die dumme Ziege und …
»Ich werde darüber nachdenken«, murmelte sie.
»Wie? Verzeihung, ich habe dich nicht recht verstanden.« Er lehnte sich gegen den Zaun. Er war der ehrbarste, prüdeste Puritaner der ganzen Welt. Überhaupt nicht ihr Typ. Zum einen war er zu alt. Und zu sehr von sich überzeugt. Und zu … zu begehrenswert.
»Ich habe gesagt, ich werde heute noch entscheiden, ob ich um Sie werben möchte«, sagte sie mühevoll, Wort für Wort.
»Oh, gut.«
Der Mann war so gelassen, als ginge es um einen Ausflug zu einem Römerdenkmal. Bea wollte nichts mehr einfallen, was sie einander hätten sagen können, daher verabschiedete sie sich, schritt lustlos den Weg hinunter und schlug mit ihrem Sonnenschirm auf einen Stein, der den Fehler begangen hatte, mitten auf dem Weg zu liegen. Nur vor Stephen hatte sie so getan, als ob sie eine Entscheidung treffen müsste, und das auch nur, weil sie als Frau instinktiv den Wunsch hegte, sich zu schützen.
Heute Abend aber, heute Abend würde sie eine Stunde lang baden, zwei Stunden mit Ankleiden verbringen und noch länger vor dem Spiegel sitzen und ihr Gesicht anmalen. Und dann würde sie den Mann verführen, oh ja, bei Gott, wenn er denn überhaupt zu verführen war.