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Eine Damenrunde … mit einem Hahn im Korb

Stephen Fairfax-Lacy band sein Halstuch zu einem komplizierten Knoten und fragte sich zum hundertsten Male, was in aller Welt er, während das Unterhaus tagte, auf einer ländlichen Gesellschaft zu suchen hatte. Im Übrigen war es nicht einmal eine richtige Gesellschaft. Lediglich eine Schar entarteter Weiber im Hause der berüchtigten Esme Rawlings, und während er hier weilte, verpasste er zweifelsohne wichtige Reden zu den Korngesetzen. Castlereagh erwartete, dass er den Verlauf der Sitzungen im Auge behielt, während sich der Außenminister auf dem Wiener Kongress befand, wo Europa wie eine Schnepfenpastete in handliche Stücke zerteilt wurde. An der kanadischen Grenze zu den verfluchten amerikanischen Kolonien – Verzeihung, ehemaligen Kolonien – braute sich Unheil zusammen, ganz zu schweigen von drohenden Volksaufständen gegen die Korngesetze. Er hatte das deutliche Gefühl, dass es schon bald zu gewalttätigen Ausschreitungen kommen würde, wenn die Bevölkerung gegen die steigenden Lebensmittelpreise protestierte.

Doch Stephen Fairfax-Lacy war im Lauf der zehn Jahre, in denen er für das Wohl des einfachen Mannes kämpfte, der Parlamentarierarbeit müde geworden. Um gewählt zu werden, hatte er sich mitnichten auf den Titel gestützt, den er als Nachfolger seines Cousins Camden, des Herzogs von Girton, trug. Nein, ins Unterhaus war er aufgrund seiner Verdienste gewählt worden. Aufgrund seiner tiefsten Überzeugungen.

Und wo waren seine Überzeugungen jetzt? Zehn Jahre zähen Ringens um Korn- und Flurbereinigungsgesetze hatten Stephen jeglicher Leidenschaft beraubt. Jahrelang hatte er seine eigene Partei davon zu überzeugen versucht, ihre Position hinsichtlich der Parzellierung der Allmende zu überdenken. Vor sechs Jahren hatte er ein glühendes Veto gegen eine geplante Flurbereinigung eingelegt. Inzwischen wurden derartige Gesetzesvorschläge wöchentlich vorgelegt. Er konnte sich kaum noch dazu bringen, seine Stimme abzugeben. Was auch immer er tat, mehr und mehr Familien wurden mit Gewalt von ihrem Ackerland vertrieben, damit reiche Grundbesitzer Zäune ziehen und Schafe züchten konnten. Stephen hatte versagt.

Er zerrte sich die hoffnungslos zerknitterte Krawatte vom Hals. Für gewöhnlich konnte er einen simplen Trône-d’amour-Knoten in weniger als acht Minuten binden, doch heute Abend war es ihm bereits zweimal misslungen. »Verzeihung, Winchett«, sagte er zu seinem Kammerdiener, der ihm ein frisch gestärktes Tuch reichte.

Einen Augenblick betrachtete sich Stephen im Spiegel, während er das gestärkte Tuch mit geschickten Bewegungen knotete. Wenn auch dieser letzte Versuch, den Trône d’amour zu knüpfen, von Erfolg gekrönt war … von seinem Leben konnte er das gewiss nicht behaupten. Zunächst einmal fühlte er sich alt, mit seinen dreiundvierzig Jahren bereits zum alten Eisen gehörig. Und einsam dazu, verflixt noch mal. Stephen kannte auch den Grund dafür. Es lag daran, dass er Cam besucht hatte. Sein Cousin war mit seiner Gemahlin vor Kurzem aus Griechenland zurückgekehrt. Die Herzogin war eine strahlende, kluge Person, die gerade ihr erstes Kind erwartete. Und Cam – der zu dieser Ehe gezwungen worden und zehn Jahre vor ihr geflohen war, indem er sich in Griechenland versteckte –, dieser Cam barst nun schier vor Stolz.

Gina und Cam bildeten eine Gemeinschaft, die Stephen seine Einsamkeit umso stärker empfinden ließ. Er hatte erlebt, wie Gina, die Duchesse von Girton, ihren Ehemann dazu gebracht hatte, zu schweigen, und zwar ohne ein Wort zu sagen! Und Cam hatte ihrem Wunsch entsprochen. Erstaunlich. Cam war mit seiner Frau befreundet.

Stephens Mund bildete eine grimmige Linie, während er dem Leinentuch einen letzten Kniff gab. In London gab es keine Frauen wie Gina, klug und dennoch unberührt, die eine tiefe Unschuld besaßen. Eigenschaften, die er sich bei einer Ehefrau wünschte. Doch er zählte bereits dreiundvierzig Jahre, war also zu alt für eine blutjunge Debütantin.

Endlich zog Stephen seinen Rock an und schritt die Treppe hinab. Vielleicht würde er Arbeit vorschützen und morgen in aller Herrgottsfrühe nach London abreisen. Er könnte vielleicht sogar einen Ball bei Almack’s besuchen und ein frisches junges Ding aufgabeln, das sich an seinem Alter nicht stören würde. Immerhin war er, vulgär ausgedrückt, ein guter Fang. Er verfügte über beachtlichen Grundbesitz.

Natürlich wusste er kaum noch, in welchem Zustand sich sein Besitz befand, denn seine Tätigkeit als Abgeordneter ließ ihm wenig Zeit für andere Aufgaben. Plötzlich überfiel ihn eine Sehnsucht nach den müßigen Tagen seiner Jugend, als er mit Cam Schiffchen geschnitzt und stundenlang vergeblich nach Forellen geangelt hatte. Heutzutage fing er lediglich Stimmen.

Was ich brauche, dachte er unvermittelt, ist eine Geliebte, denn auf Brautschau zu gehen ist furchtbar langwierig und mühselig. Eine Mätresse würde seine derzeitige Missstimmung beheben. Zweifellos kam ihm sein Leben nur deshalb so mühselig vor, weil er seit einer Ewigkeit keine Geliebte mehr gehabt hatte.

Stephen blieb stehen und überlegte. War es tatsächlich ein volles Jahr her, seit er zuletzt das Schlafgemach einer Frau betreten hatte? Wie hatte es nur so weit kommen können? Zu viele Abende, an denen er in Zigarrenrauch und Whiskynebel über Stimmenfang diskutiert hatte. War es wirklich schon ein Jahr her, seit Maribell ihm einen Abschiedskuss gegeben hatte und mit Lord Pinkerton auf und davon gegangen war? Mehr als ein Jahr. Verdammt.

Kein Wunder, dass er ständig schlechter Laune war. Im Grunde wäre Esme Rawlings’ Haus ein ausgezeichnetes Jagdrevier für eine Mätresse. Mit neu erwachter Begeisterung betrat Stephen den Salon und beugte sich über die Hand seiner Gastgeberin.

»Ich muss für mein aufdringliches Erscheinen um Verzeihung ersuchen, Mylady. Lady Withers versicherte mir, sie betrachte Ihr Haus als ihr eigenes. Ich hoffe doch nicht, dass sie die Tatsachen verdreht?«

Lady Rawlings gab das volltönende, kehlige Lachen von sich, das die Hälfte der Männerherzen Londons verzaubert hatte. Zugegeben, die Schwangerschaft hatte sie unförmig werden lassen, und sie war gewiss nicht auf Verführung aus. Dennoch war sie eine hinreißende Frau. Sie war viel üppiger, als Stephen sie in Erinnerung hatte. Der Anblick ihrer Brüste verursachte einem Mann Schmerz in den Lenden. Eigentlich … Stephen rief sich rasch zur Ordnung, bevor das Bild in seiner Vorstellung Gestalt annehmen konnte. Ich muss wirklich verzweifelt sein, dachte er, während er ihr die Hand küsste.

Ein gewisser Ausdruck in Lady Rawlings’ Augen ließ ihn befürchten, sie könne seine Gedanken gelesen haben, deshalb wandte er sich rasch der Dame neben ihr zu. Es war schändlich, über eine Frau Fantasien zu entwickeln, die kurz vor ihrer Niederkunft stand.

»Das ist Lady Beatrix Lennox«, stellte Lady Rawlings ihm eine Unbekannte vor. In ihrer Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit, als erwartete sie, dass er die junge Frau erkennen würde. »Lady Beatrix, das ist Stephen Fairfax-Lacy, Earl of Spade.«

»Ich mache von meinem Titel keinen Gebrauch«, sagte er und verbeugte sich. Lady Beatrix war offensichtlich unverheiratet, aber ebenso offensichtlich nicht als Ehefrau geeignet. Eine Ehefrau musste ein engelsgleiches Wesen besitzen, musste unschuldig und zerbrechlich sein. Lady Beatrix hingegen machte Stephen den Eindruck einer erfolgreichen Kurtisane. Ihr Mund war eine schmollende Rosenknospe in einer Farbe, die von der Natur nicht vorgesehen war. Und da ihre Haut sehr weiß war und ihre Haare rot, mussten die samtschwarzen Wimpern offensichtlich ebenso falsch sein.

Eine Schönheit, die auf Verführung durch künstliche Mittel setzte. Fast hätte Stephen laut gelacht. War sie nicht genau das, worauf er gehofft hatte? Eine Frau, die das vollkommene Gegenstück zu seiner zukünftigen Gattin bildete? Eine Frau, die er am Morgen danach mutmaßlich nicht mehr erkennen würde, sollte er jemals so töricht sein, eine Nacht in ihrem Bett zu verbringen. Zu schade, dass diese junge Dame, die von hoher Geburt und unverheiratet war, für ihn nicht infrage kam.

»Mr Fairfax-Lacy«, sagte sie, und in ihrer Stimme schwang das geübte heisere Timbre der Kokotte mit. »Sehr erfreut.«

Er streifte mit den Lippen ihren Handrücken. Natürlich trug sie ein französisches Parfüm von der Sorte, die manche Frauen anstelle eines Nachthemdes bevorzugten.

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte er. Sie hatte feine, hochgewölbte Brauen, die sie schwarz nachgezogen hatte, was ihr irgendwie gut zu Gesicht stand.

Da erschien Lady Arabella an seiner Seite. »Aha, wie ich sehe, haben Sie meine dame de compagnie bereits kennengelernt«, sagte sie. »Bea, Mr Fairfax-Lacy ist sozusagen der Inbegriff guter Werke. Stell dir nur vor – er ist Mitglied des Parlamentes! Er sitzt im Unterhaus.«

»Zurzeit«, hörte Stephen sich sagen und fragte sich sofort, was in aller Welt ihn dazu bewogen hatte.

Lady Beatrix wirkte ob dieser Enthüllung eher gelangweilt, daher verneigte er sich und ließ sie stehen. Er hatte soeben die Gräfin von Godwin auf der anderen Seite des Salons erspäht. Sie wäre durchaus eine Möglichkeit, da sie seit Jahren nicht mehr mit ihrem Gatten zusammenlebte. Zudem war sie auf eine blasse, distinguierte Art schön. Stephen gefiel auch, dass sie ihr Haar in um den Kopf gewundenen Zöpfen trug. Dies zeugte von einer ungeheuerlichen Missachtung der derzeitigen Mode, die vorschrieb, einzelne Locken vor den Ohren herabhängen zu lassen.

Leider besaß Lady Godwin auch einen untadeligen Ruf. Sie wäre eine Herausforderung. Aber war das nicht genau das, was er suchte? Stephen schritt durch den Salon auf die Dame zu.

Ein glücklicher Zufall, wie er nur allzu selten zwischen den Geschlechtern auftritt, bewirkte, dass die fragliche Dame eben etwas ganz Ähnliches gedacht hatte.

Helene, Gräfin von Godwin, hatte Stephen den Salon betreten sehen und sogleich gedacht, wie bemerkenswert gut Mr Fairfax-Lacy aussah. Er hatte das lange, schmale Gesicht und die hohen Wangenknochen des englischen Aristokraten. Zudem war er untadelig gekleidet, eine Eigenschaft, der sie höchste Bedeutung zumaß, denn ihr Richtwert in solchen Dingen war ihr Gemahl. Stephen beugte sich gerade über Esmes Hand und lächelte sie charmant an. Aber er konnte doch wohl nicht an einer Liebelei mit Esme interessiert sein? Unter diesen Umständen! Alle Männer fliegen auf Esme, dachte Helene, plötzlich mutlos geworden. Doch dann wurde sie gewahr, dass Mr Fairfax-Lacy die Gastgeberin stehen gelassen hatte und quer durch den Salon auf sie zukam.

Helene spürte, wie eine verräterische Röte ihr den Hals hochkroch. Selbstverständlich hätte sie den Mann nicht anstarren dürfen wie eine Debütantin. Doch es wäre gewiss von Vorteil, ihn näher kennenzulernen, wenn auch nur aus dem Grund, weil er einer der gewissenhafteren Abgeordneten war. Helenes Vater pflegte zu sagen, dass Fairfax-Lacy sich von allen Abgeordneten am besten auf Getreide verstünde. Doch wichtiger war, dass er so bemerkenswert gut aussah. Sein Haar berührte eben seinen Hals, während Rees es zottelig über die Schultern wachsen ließ, als wäre er ein wildes Tier. Ach, hätte sie doch nur einen Mann wie Mr Fairfax-Lacy und nicht Rees geheiratet!

Doch nicht in einer Million Jahren hätte Stephen Fairfax-Lacy ein so junges, dummes Ding entführt, wie sie eines gewesen war. Es schien vielmehr wahrscheinlicher, dass er niemals heiraten würde. Der Mann musste doch hoch in den Vierzigern sein.

Sie sank in einen Knicks. »Ich bin hocherfreut, Sie wiederzusehen, Mr Fairfax-Lacy. Was tun Sie denn hier auf dem Land, während das Parlament tagt? Sie, Sir, sind ja als der resoluteste ›Einpeitscher‹ bekannt!« Sie gestattete Stephen, sie zu einer Polsterbank zu geleiten und neben ihr Platz zu nehmen.

Er lächelte sie an, doch sein Lächeln reichte nicht bis zu seinen Augen. »Die können mich schon mal für eine Woche entbehren«, sagte er leichthin.

»Es muss doch sehr kompliziert sein, mit diesen vielen verschiedenen Themen Schritt zu halten«, fuhr Helene fort. Mr Fairfax-Lacy hatte wirklich wunderschöne blaue Augen. In ihnen lagen Klarheit und Offenheit, ganz anders als in dem verschlagenen, finsteren Blick ihres Mannes.

»Es fällt mir nicht allzu schwer, viele Themen im Auge zu behalten. Aber immer schwerer, sie mir zu Herzen zu nehmen, wie ich es früher getan habe.« Stephen ging es von Minute zu Minute besser. Was er brauchte, war eine Frau, die ihn von dem Gefühl erlöste, die Welt sei grau und ohne Sinn. Lady Godwins leicht verlegener Charme war das perfekte Heilmittel.

»Oje«, sagte Helene mitfühlend und berührte leicht seine Hand. »Das tut mir aber leid. Ich finde nämlich, dass Sie unter den Tories der Redner sind, der die Dinge am klarsten zu benennen weiß. Ich für meinen Teil, Sir, scheine mich der Partei der Whigs näher zu fühlen.«

»Das finde ich alarmierend. Was zieht Sie denn in das Lager des Feindes?«

Wenn er sie anlächelte, bildeten sich kleine Fältchen um seine Augen. Helene hätte fast den Faden verloren. Er besaß sehr lange, schlanke Finger. Hieß das nicht … hatte Esme ihr nicht einmal etwas über Männerhände anvertraut? Sie verbot sich jeden weiteren unzüchtigen Gedanken. »Ich habe die letzten Jahre der Tory-Regierung nicht sonderlich zufriedenstellend gefunden«, sagte sie mit Nachdruck.

»Ach ja?«

Seine Augen schienen ehrliches Interesse an ihren Ansichten auszudrücken. Helene gab sich Mühe, etwas Kluges zu sagen. »Um die Wahrheit zu sagen, glaube ich, dass die Regierung einen gewaltigen Fehler macht, wenn sie die vielen Menschen im Land vergisst, die keine Arbeit haben. Die heimatlosen, arbeitslosen Soldaten, die auf unseren Straßen umherziehen, sind ein lebender Vorwurf für uns alle.«

Stephen nickte und strengte sich an, wie ein gewissenhafter und teilnahmsvoller Politiker zu klingen. »Ich weiß. Ich wünschte nur, ich wäre überzeugt, dass ein Regierungswechsel das Problem der entlassenen Soldaten ändern würde.« Sie war so schlank, dass man sich fragen musste, ob sie überhaupt ein Korsett trug. Ihm hatte dieses Bekleidungsstück ja nie sonderlich gefallen, auch wenn Frauen es offenbar für unverzichtbar hielten.

»Ich sollte nicht ausgerechnet Sie schelten«, sagte Helene. »Habe ich nicht kürzlich eine Rede von Ihnen zu dem Thema gelesen, eine Rede, die in der Times abgedruckt wurde? Darin schilderten Sie sehr beredt die Lage der hungrigen Arbeiter.«

Es war schon erschreckend, wie gering Stephens Interesse an der Misere der hungrigen Arbeiter geworden war. »Ich danke Ihnen«, sagte er, »aber ich fürchte, meine Reden zerrinnen wie Wasser auf Fels: Sie zeigen wenig Wirkung.«

Sie beugte sich eifrig vor. »Sagen Sie das nicht! Wenn nicht gute Männer wie Sie für die Armen und Geschlagenen aufstehen, wer sollte es dann tun?«

»Ich habe mir unzählige Male das Gleiche gesagt, doch ich muss gestehen, Lady Godwin, dass diese Ermunterung viel besser klingt, wenn ich sie aus dem Mund einer klugen Frau vernehme.« Sie trug doch ein Korsett. Er merkte es daran, dass sie sich ein wenig steif vorbeugte wie eine Marionette. Warum in aller Welt trug sie so ein Marterinstrument, wenn sie keine große Leibesfülle einsperren musste?

Helene lief rosa an und merkte, dass sie in der Aufregung Mr Fairfax-Lacys Hand ergriffen hatte. Verlegen versuchte sie sie zurückzuziehen, doch er hielt sie einen Moment fest.

»Es ist wahrlich eine Freude, eine Frau kennenzulernen, die sich für das politische Leben unserer Nation interessiert.«

Er hat eine schöne Stimme, dachte Helene. Kein Wunder, dass seine Reden so viele Zuhörer finden! Zu ihrem Glück (denn sie hätte in dem Moment nichts darauf zu antworten gewusst) servierte Slope nun den Sherry, der die merkwürdige Intimität ihrer Stimmung unterbrach.

Sie saßen einen Augenblick schweigend da, und ein unbeteiligter Beobachter hätte gesehen, dass Lady Godwins Wangen rosig überhaucht waren. Und derselbe Beobachter hätte festgestellt, dass Mr Fairfax-Lacy verstohlen auf Lady Godwins Gesicht schielte, während sie alle Aufmerksamkeit ihrem Sherryglas widmete.

Ein scharfsinniger Beobachter von der Art, die in eines Menschen Herz sehen kann, hätte sogar Erwartungen erkannt. Zügellose Erwartungen, die alsbald zu Konsequenzen führten.

Denn Gräfin Godwin beschloss für sich, dass Mr Fairfax-Lacy wunderbar schmale Wangen hatte. Seine Schenkel gefielen ihr ebenfalls, doch dergleichen Gedanken hätte sie niemals in Worte gefasst. Außerdem versuchte sie sich verzweifelt daran zu erinnern, was Esme ihr über Männer mit langen Fingern erzählt hatte.

Wie der Zufall es wollte, weilten auch Mr Fairfax-Lacys Gedanken bei Fingern. Diejenigen der Gräfin Godwin waren schlank, hatten rosa Spitzen und waren auffallend feminin. Da er ein Mann war, ließ er diese Beobachtung sofort in sein Interesse einfließen. Ihm gefiel das leichte Erröten der Gräfin, wenn sie ihm in die Augen sah. Und diese Finger …

Eine Überlegung überwog alle anderen: Wie würden sich diese schlanken Finger auf seinem Körper anfühlen? Diese Vorstellung brachte ihm gewisse vernachlässigte Teile seiner Anatomie wieder zu Bewusstsein. Vielleicht war ein Korsett ja gar nicht so hinderlich … er stellte sich eine nordische Göttin vor: helles, wehendes Haar über zarten Schultern, während schlanke Hände das Korsett aufschnürten …