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Die Erfahrung, welche die Damen von den … Frauen unterscheidet

Esme schaute aus dem Fenster des Salons. Jetzt, am Frühjahrsende, gab es einen leichten Wintereinbruch. Die weißen Flocken ließen die gelben Krokusse auf dem Rasen in Hausnähe so blass wirken, als wären sie um ihre Blüte betrogen worden. Oder war sie es, die sich betrogen fühlte? Oder war sie selbst die Betrügerin?

Erstaunlich, in was für eine Verwechslungskomödie die Gäste des Hauses verwickelt waren! Sie und Mr Fairfax-Lacy gaben vor, heiraten zu wollen. Helene unterhielt mit dem gleichen Mann eine vorgetäuschte Liebschaft, doch wenn sie beabsichtigt hatte, ihren Gemahl damit vor den Kopf zu stoßen, hatte sie ihr Ziel offenbar verfehlt. Zwar wollte Rees am nächsten Morgen abreisen, aber soweit Esme es beurteilen konnte, genoss er den Zank mit Helene über ihre Neufassung von Beethoven und schenkte Stephen Fairfax-Lacys verschwenderischen Komplimenten für seine Frau nicht die geringste Aufmerksamkeit.

Heute waren ihre Rückenschmerzen noch schlimmer als gewöhnlich. Esme konnte sich kaum bewegen. Hinter ihr öffnete sich die Tür.

»Hallo«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Es war schon erstaunlich, wie genau ihre Ohren seinen Schritt erkannten und ihn von den vielen anderen Menschen im Haus unterschieden. Er trat hinter sie und drückte, ohne dass sie ihn darum bitten musste, seine Daumen in ihr Kreuz. Die Massage tat so gut, dass Esme die Knie zitterten.

»Ganz ruhig«, sagte er. »Wie geht es dem Baby heute Morgen?«

»Ich habe einen Brief von meiner Mutter bekommen«, sagte Esme und schaute zu ihm auf. »Fanny kommt mich nun doch besuchen. Das verdanken wir der Überzeugungskraft deiner Mutter. Auch wenn es mir widerstrebt, werde ich mich wohl bei der Marquise bedanken müssen.«

Sebastian kniff die Augen zusammen. Erriet Esme denn nicht, aus welchem Grund seine Mutter so mildtätig handelte? »Meine Mutter hat das nicht aus reiner Herzensgüte getan«, sagte er.

»Das weiß ich doch.« Ein frohes Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Aber ich freue mich so, dass Mama kommt. Es liegt wohl daran, dass ich ein Kind bekomme. Und natürlich an Miles’ Tod.«

Natürlich, dachte Sebastian zynisch. Er war es allmählich leid, dass Esme so oft von ihrem Ehemann sprach, als habe dieser in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt.

»Verstehst du nicht, dass deine Mutter einzig und allein deshalb kommt, damit du Fairfax-Lacy heiratest?«, fragte er brüsk. »Wenn du sie noch ein einziges Mal enttäuschst, lässt sie dich fallen wie eine heiße Kartoffel.«

»Es besteht immer noch die geringe Möglichkeit, dass ich sie nicht enttäusche«, gab Esme kühl zurück.

Sebastian schnaubte verächtlich. »Deine Mutter würde selbst dann noch etwas zu kritisieren finden, wenn du den Schleier nähmst.«

»Ich habe mir vorgenommen, eine anständige Frau zu werden, und das schaffe ich auch«, behauptete Esme. Doch ihren Worten fehlte der übliche Nachdruck: Ihr Rücken tat einfach zu weh.

»Du gibst vor, mich nicht zu lieben. Du bist eine Heuchlerin, Esme, und du machst einen furchtbaren Fehler.«

»Mir ist nicht wohl«, murmelte sie. Sie sagte das nicht nur, weil sie nicht über seine kränkende Bemerkung nachdenken wollte, sondern weil ihr Rücken nun derartig schmerzte, dass sie seine Stimme nur noch wie durch einen Nebel wahrnahm. »Vielleicht sollte ich lieber auf mein Zimmer gehen.«

In diesem Augenblick flog die Tür auf, und eine Schar schnatternder Hausgäste strömte herein. Lady Bonnington brauchte nur einen einzigen Blick auf Esme zu werfen, um zu verkünden: »Lady Rawlings wird jetzt ihr Kind bekommen.«

»Nun, du musst es ja wissen«, sagte Arabella leicht perplex. »Sag doch dem armen Mädchen, was sie tun muss.«

»Stell dich nicht dümmer, als du bist!«, fauchte Lady Bonnington. »Es ist doch ganz offensichtlich, dass sie jetzt am besten auf ihrem Zimmer aufgehoben ist.«

»Kein Grund, unhöflich zu sein«, gab Arabella gereizt zurück.

Esme atmete tief durch. Sie war von einem Kreis besorgter Gesichter umgeben. Dann wurde Arabella beiseitegeschoben, und Sebastian beugte sich über sie.

»Hoch mit dir«, sagte er viel zu vertraulich. Bevor Esme protestieren konnte, hatte er sie auf seine Arme gehoben und trug sie die Treppe hoch, wusste ganz genau, wohin er seine Schritte zu lenken hatte.

»Oh!« Esme umklammerte seinen Arm. Sie hatte das Gefühl, ihr Körper versuche, sein Innerstes nach außen zu kehren. Sie grub ihre Fingernägel in seinen Arm.

»Ruft die Hebamme!«, rief Sebastian über seine Schulter. Einen Augenblick später waren sie in einem der Gästezimmer und standen vor dem Bett, das für die Geburt vorbereitet war. Aber Esme wollte nicht, dass er sie aufs Bett legte.

»Warte!«, keuchte sie. Er machte Anstalten, sie niederzulegen. »Warte, verdammt noch mal!« Sie klammerte sich an ihn, während eine Wehe ihren Körper erfasste. In diesem Augenblick flog die Tür auf und Arabella, Helene, die Marquise Bonnington und nicht weniger als drei Dienstmädchen stürzten herein.

»Na schön, Bonnington«, sagte Arabella gewichtig. »Wenn Sie meine Nichte bitte aufs Bett legen würden, ab jetzt übernehmen wir. Die Hebamme wird gleich da sein – die dumme Person musste ja unbedingt ins Dorf gehen. Versuch einfach, das Kind bei dir zu behalten, bis sie kommt, ja?«

»Sei doch nicht so eine Gans!«, herrschte Lady Bonnington Arabella an. »Das Kind wird noch Stunden brauchen.«

»Oh Gott, das hoffe ich nicht!«, keuchte Esme.

»So ist das nun mal«, sagte die Marquise nicht ohne Mitgefühl.

Esme ließ Sebastians Hand los. Er beugte sich vor, drückte einen Kuss auf ihre Stirn, dann war er fort. Ihr war zum Weinen zumute, doch in diesem Augenblick brandete eine neue Welle von Schmerz heran und nahm ihr den Atem. »Verdammter Mist!«, stieß sie hervor und drückte Arabellas Hand mit aller Kraft. Die Wehe verebbte, und sie fiel erschöpft in die Kissen zurück.

»Fluchen hilft auch nicht«, konstatierte Lady Bonnington. »Meine Mutter pflegte zu sagen, der Unterschied zwischen einer Dame und einer Frau geringeren Standes bestehe darin, dass eine Dame den Schmerz gefasst erträgt.«

Esme hörte gar nicht zu. »Wie oft muss ich diese Schmerzen noch ertragen?«, fragte sie die Hebamme, die endlich auch gekommen war.

Mrs Pluck war eine untersetzte Person, die in fröhlicher Zuversicht »der Natur ihren Lauf« ließ, wie sie es nannte. »Natürlich ist’s jetzt ein bisschen unangenehm«, sagte sie und stapelte geschäftig Handtücher aufeinander. »Aber Sie haben Hüften, mit denen es schnell gehen müsste.« Sie kicherte ein wenig atemlos. »Wir müssen der Natur ihren Lauf lassen, wie ich immer sage.«

»Meine Nichte wird sich dieser Angelegenheit mit … Anstand entledigen«, tönte Arabella und schielte verstohlen auf die roten Male auf ihrer Hand, die Esme ihr beigebracht hatte. »Bring mir ein feuchtes Tuch!«, fuhr sie eine der Mägde an. »Esme, Darling, du bist ganz rot in Gesicht. Ich werde dir ein wenig die Stirn kühlen.«

»Ich habe mehr als sechs Stunden in den Wehen gelegen«, erzählte Lady Bonnington.

Esme beschloss sofort, ihr Kind in weniger als sechs Stunden auf die Welt zu bringen. Eine derart lang gezogene Marter würde sie nie überstehen. »Oh Gott!«, ächzte sie. »Es geht schon wieder los!«

Arabella ließ das feuchte Tuch fallen, Esme packte ihre Hand. Wie eine Flutwelle schlug die Wehe über ihr zusammen, zog sie hinab und schleuderte sie dann wieder an die Oberfläche, wo sie nach Luft schnappte. »Mir gefällt das alles nicht«, brachte sie heraus. Ihre Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern.

»Ich kenne keine Frau, der das gefallen hätte!«, ließ sich die Marquise von der anderen Seite des Bettes vernehmen. »Eine Dame kann es lediglich tapfer ertragen und sollte bestrebt sein, stets ihre gute Erziehung unter Beweis zu stellen.«

Esme reagierte mit einem Fluch.

Wenn sie nicht bereits gewusst hätte, dass Esme Rawlings eine vulgäre Person war, dachte die Marquise später, dann wäre es spätestens jetzt so weit gewesen. Das Mädel hatte einfach keine Vorstellung davon, wie sich eine Dame beim Gebären zu benehmen hatte.