IV.
VIELLEICHT WAR ES FÜR KIT BESSER, ein Jahr zu Hause zu bleiben. Ihre Zimmergenossin im Studentenwohnheim war ein komischer Vogel, eine spindeldürre Frau aus Manhattan, eine Merkerin. Die Zimmergenossin merkte zum Beispiel, dass Kit unruhig schlief, und sie hatte ein paar Ansichten darüber, was das bedeutete, wie es behandelt werden könnte, die tieferen Ursachen für so ein Verhalten. Wenn sie irgendwas bemerkt hatte, folgten Fragen, Vermutungen, welche diversen Probleme Kit haben könnte. Sie bemerkte, dass Kit kleine blaue Flecken an den Armen hatte, und wollte wissen, welcher Mann ihr das angetan hatte. Sie bemerkte, dass Kit eine hohe, recht dünne, fast kindliche Stimme hatte, und das, so erklärte die Zimmergenossin, sei häufig ein Zeichen für sexuellen Missbrauch in der Kindheit, weil die Stimme des Opfers quasi in dem Alter einfror, in dem es das Trauma erlebte. Hast du schon mal gemerkt, dass du eine Kinderstimme hast?, fragte sie.
– Machen Sie das oft?, fragte Alan.
– Leute durch die Gegend fahren? Das mach ich bloß nebenher. Ich studiere.
– Was denn?
– Ich studiere das Leben!, sagte Yousef, lachte dann. Nein, ich erzähl Scheiß. Wirtschaft, Marketing. Die Richtung. Keine Ahnung, warum.
Sie kamen an einem großen Spielplatz vorbei, und zum ersten Mal sah Alan Kinder. Sieben oder acht, die an den Klettergerüsten hingen und auf die Rutschen stiegen. Und bei ihnen waren drei Frauen in Burkas, kohlrabenschwarz. Burkas waren ihm nicht fremd, aber beim Anblick dieser Schatten, die sich über den Spielplatz bewegten, die Kinder verfolgten, lief es Alan kalt über den Rücken. War das nicht albtraumhaft, von einer schwebenden Gestalt in Schwarz mit ausgestreckten Händen gejagt zu werden? Aber Alan wusste nichts und sagte nichts.
– Wie lange dauert die Fahrt?, fragte Alan.
– Zur King Abdullah Economic City? Fahren wir da hin? Alan sagte nichts. Yousef schmunzelte. Diesmal machte er einen Scherz.
– Ungefähr eine Stunde. Vielleicht ein bisschen mehr. Wann sollten Sie da sein?
– Acht. Halb neun.
– Tja, Sie werden gegen Mittag da sein.
– Mögen Sie Fleetwood Mac?, fragte Yousef. Er hatte den iPod ans Laufen gekriegt – das Ding sah aus, als wäre es jahrhundertelang im Sand vergraben gewesen und dann zutage gefördert worden – und ging jetzt seine Songs durch.
Sie ließen die Stadt hinter sich und waren schon bald auf einer schnurgeraden Straße, die durch raue Wüste verlief. Es war keine schöne Wüste. Es gab keine Dünen. Es war eine erbarmungslose Fläche. Eine hässliche Straße durchschnitt sie. Yousefs Wagen passierte Tankwagen, Lastwagen. Dann und wann war in der Ferne ein kleines Dorf aus grauem Zement zu sehen, ein Labyrinth aus Mauern und Stromkabeln.
Alan und Ruby waren mal quer durch die Vereinigten Staaten gefahren, von Boston nach Oregon, zur Hochzeit einer Freundin. Solche absurden Möglichkeiten stehen einem zur Verfügung, bevor man Kinder hat. Sie hatten sich mehrfach gestritten, lautstark, meistens wegen ihrer jeweiligen Expartner. Ruby wollte über ihre sprechen, ausführlich. Sie wollte Alan vermitteln, warum sie sie verlassen und sich für ihn entschieden hatte, und Alan wollte nichts davon hören. War ein Neuanfang zu viel verlangt? Bitte hör auf, bat er sie. Sie redete weiter, suhlte sich in ihrer Vergangenheit. Aufhören, aufhören, aufhören, brüllte er schließlich, und sie sprachen kein Wort mehr zwischen Salt Lake City und Oregon. Jede stumme Meile verlieh ihm mehr Kraft und stärkte, so stellte er sich vor, ihren Respekt vor ihm. Seine einzigen Waffen gegen sie waren Schweigen, Trotz; er kultivierte eine gelegentliche grüblerische Intensität. Er war nie so stur gewesen wie bei ihr. Das war die Version von ihm in den sechs Jahren, die er mit ihr zusammen gewesen war. Diese Version von Alan war feurig, eifersüchtig, immer auf Trab. Nie hatte er sich lebendiger gefühlt.
Yousef zündete sich wieder eine Zigarette an.
– Keine besonders männliche Marke, bemerkte Alan.
Yousef lachte. – Ich versuche aufzuhören, deshalb hab ich von der normalen Größe auf diese umgestellt. Die sind halb so dick. Weniger Nikotin.
– Aber eleganter.
– Elegant. Elegant. Das gefällt mir. Ja, sie sind elegant.
Einer von Yousefs zwei Vorderzähnen stand schief, kreuzte seinen Zwilling. Dadurch wirkte sein Lächeln irgendwie besonders irre.
– Sogar die Schachtel, sagte Alan. Sehen Sie sich die an.
Sie war silbern und weiß und klein, wie ein Minicadillac, der von einem Insektenzuhälter gesteuert wurde.
Yousef öffnete das Handschuhfach und warf die Schachtel hinein.
– Besser?, sagte er.
Alan lachte. – Danke.
Zehn Minuten lang sprachen sie kein Wort.
Alan überlegte, ob dieser Mann ihn überhaupt zur King Abdullah Economic City brachte. Ob er ein charmanter Kidnapper war.
– Mögen Sie Witze?, fragte Alan.
– Sie meinen Witze, die man sich merkt und erzählt?
– Ja, sagte Alan. Witze, die man sich merkt und erzählt.
– Das ist nicht typisch saudisch, solche Art von Witzen, sagte Yousef. Aber ich hab schon welche gehört. Ein britischer Typ hat mir den über die Queen und den dicken Schwanz erzählt.
Ruby konnte seine Witze nicht ausstehen. – Wie peinlich, sagte sie, wenn sie abends ausgegangen waren und er einen oder zehn erzählt hatte. Alan kannte Unmengen Witze, und jeder, der Alan kannte, wusste, dass er Unmengen Witze kannte.
Er war sogar mal auf die Probe gestellt worden – eine Gruppe Freunde, vor ein paar Jahren, hatte ihn angestiftet, zwei Stunden hintereinander Witze zu erzählen. Danach dachten sie, er hätte alle durch, aber er war gerade erst richtig in Fahrt gekommen. Wieso er sich so viele merken konnte, war ihm ein Rätsel. Doch sobald er einen zum Besten gegeben hatte, fiel ihm der nächste ein. Unweigerlich. Jeder Witz war mit dem nächsten verknüpft, wie die Tücherkette eines Zauberers.
– Sei nicht so ein Trottel, sagte Ruby zu ihm. Du hörst dich an wie ein Variété-Künstler. Kein Mensch erzählt heutzutage noch Witze.
– Ich aber.
– Leute erzählen Witze, wenn sie nichts zu sagen haben, sagte sie.
– Leute erzählen Witze, wenn es nichts mehr zu sagen gibt, sagte er.
In Wahrheit hatte er das nicht gesagt. Es war ihm viele Jahre später eingefallen, aber da sprachen er und Ruby nicht mehr miteinander.
Yousef klopfte aufs Lenkrad.
– Okay, sagte Alan. Eine Frau hat einen kranken Mann. Er liegt monatelang im Koma, aber sie sitzt Tag für Tag an seinem Bett. Als er wieder wach wird, bedeutet er ihr, näher zu kommen. Sie rückt mit ihrem Stuhl ganz dicht an ihn ran. Seine Stimme ist schwach. Er nimmt ihre Hand. »Weißt du was?«, sagt er. »Du hast alle schlechten Zeiten mit mir durchgestanden. Als ich gefeuert wurde, warst du meine Stütze. Als meine Firma den Bach runterging, warst du bei mir. Als wir das Haus verloren, hast du mir Mut gemacht. Als es mit meiner Gesundheit bergab ging, warst du noch immer an meiner Seite … Weißt du was?« »Was denn, Schatz?«, fragt sie sanft. »Ich glaube, du bringst mir Unglück!«
Yousef schnaubte, hustete. Er musste seine Zigarette ausdrücken.
– Der ist gut. Damit hatte ich nicht gerechnet. Kennen Sie noch welche?
Alan war so froh. Er hatte seit vielen Jahren nicht mehr einem dankbaren jungen Menschen einen Witz erzählt.
– Ja klar, sagte Alan. Mal überlegen … Au ja, der ist gut. Okay, es war einmal ein Mann, der hieß Seltsam. John Seltsam. Und er konnte seinen Nachnamen nicht leiden. Dauernd machten die Leute sich drüber lustig, nannten ihn »Seltsamer Vogel« oder »Dr. Seltsam« oder so. Schließlich kommt er in die Jahre und schreibt sein Testament. Und in dem Testament verfügt er, dass er einen Grabstein ohne seinen Namen drauf haben möchte. Er will in einem anonymen Grab beerdigt werden, mit einem einfachen Grabstein, ohne Namen oder sonst was drauf. Als er stirbt, respektiert seine Frau seinen Wunsch. Und da liegt er dann, in diesem anonymen Grab, aber jedes Mal, wenn Leute an dem Grab vorbeigehen und den unbeschrifteten Grabstein sehen, sagen sie: »Seht mal, ist das nicht Seltsam?«
Yousef lachte, musste sich die Augen wischen.
Alan mochte diesen Typen. Selbst Kit, seine eigene Tochter, schüttelte jedes Mal den Kopf, Nein, bitte nicht, wenn er versuchte, einen Witz zu erzählen.
Alan fuhr fort. – Okay. Frage: Wie nennt man einen Typen, der achtundvierzig Liebestechniken kennt, aber keine einzige Frau?
Yousef zuckte die Achseln.
– Einen Consultant.
Yousef lächelte. – Nicht schlecht, sagte er. Ein Consultant. Das sind Sie.
– Das bin ich, sagte Alan. Zumindest für eine Weile.
Sie kamen an einem kleinen Vergnügungspark vorbei, bunt bemalt, aber anscheinend verlassen. Ein Riesenrad, rosa und gelb, stand allein da und wartete auf Kinder.
Alan überlegte sich noch einen Witz.
– Okay, der hier ist besser. Ein Polizist ist zu einem schrecklichen Autounfall gerufen worden. Als er ankommt, liegen überall Körperteile von den Opfern herum. Hier ein Arm, dort ein Bein. Er schreibt alles in sein Notizbuch: »Kopf auf Bullevard«, aber er schreibt es B-u-l-l, und er weiß, dass das falsch ist. Also streicht er es durch, versucht es noch einmal. »Kopf auf Bouelevard.« Wieder schreibt er es falsch, zu viele »e«. Also noch mal durchgestrichen. Nächster Versuch. »Kopf auf Buhlevard«, B-u-h-l. »Verdammt!«, sagt er. Er blickt sich um und sieht, dass keiner guckt. Er stupst den Kopf ein bisschen mit dem Fuß an, greift wieder zum Bleistift. »Kopf in Rinnstein.«
– Der ist gut, sagte Yousef, obwohl er nicht gelacht hatte.
Sie fuhren schweigend ein oder zwei Meilen. Die Landschaft war platt und leer. Alles, was hier in der erbarmungslosen Wüste gebaut wurde, war ein schierer Willensakt, der einem Terrain aufgezwungen wurde, das zur Besiedlung ungeeignet war.
Als sie Charlies Körper aus dem See zogen, sah er aus wie Abfall. Er trug eine schwarze Windjacke, und Alans erster Gedanke war, dass da ein Haufen Blätter in eine Plane eingewickelt lag. Nur seine Hände waren unverkennbar menschlich.
– Brauchen Sie irgendwas von mir?, fragte Alan die Polizisten.
Sie brauchten nichts. Sie hatten alles gesehen. Vierzehn Polizisten und Feuerwehrleute hatten zugesehen, wie Charlie Fallon im Laufe von fünf Stunden in dem See starb.