XXI.

IM ZELT SAH ES AUS, als wären die jungen Leute vergiftet worden. Sie lagen ausgestreckt da, Beine übereinander, Arme nach außen gereckt. Es sah aus wie Jonestown.

Alan stürzte zu ihnen.

Cayley? Rachel? Brad?

Sie öffneten langsam die Augen. Sie lebten.

Die Klimaanlage hat ausgesetzt, brachte Rachel hervor.

Sie standen langsam auf, stöhnend.

Brad blickte auf die Uhr. – Haben eine gute Stunde geschlafen. Sorry.

Cayley sah mit glasigen Augen hoch. – Moment. Was haben Sie mit Ihrem Hals gemacht?

Alan erzählte von seinem Abstecher ins Krankenhaus. Er zeigte ihnen den Verband, erörterte die Prognose, und sie wirkten ebenso hoffnungsvoll, wie er es war – dass es für sein Unwohlsein eine medizinische Erklärung geben könnte.

– Sie glauben also, wenn Sie es entfernen lassen, geht es Ihnen besser?, fragte Cayley.

Eine unbehagliche Pause entstand.

Rachel kam ihr zu Hilfe. – Das Signal war heute stark, sagte sie und klappte ihren Laptop auf, stieß aber sogleich ein angewidertes Schnauben aus. Jetzt ist gar keins mehr da.

– Irgendeine Chance, dass der König sich heute blicken lässt?, fragte Brad.

– Leider nein. Er ist in Riad, sagte Alan.

Brad ließ sich wieder auf die Teppiche sinken. Rachel und Cayley taten es ihm gleich. Alan stand einige Augenblicke über ihnen, während alle überlegten, was sie zueinander sagen könnten, allesamt scheiterten und demzufolge nichts sagten.

Alan beschloss, sie den Tag verschlafen zu lassen. Er trat nach draußen und sah sich um, ohne irgendeine Idee, was er machen sollte.

Er ging die Promenade hinunter, bis sie an einer Düne aufhörte. Er drehte sich zum Wasser. Er wäre so gern auf den Sand gegangen, fürchtete aber, dass die anderen ihn sahen. Das Zelt hatte diese gazeartigen Fenster.

Ein Stück den Strand hinunter sah Alan einen hohen Sandberg mit einem unbemannten Traktor, einem Frontlader, daneben. Wenn er es an dem Berg vorbeischaffte und dahinter verschwand, könnte er das Wasser unbemerkt berühren.

Er ging eilig den Strand entlang, um den Sandberg herum und setzte sich in dessen Schatten. Sobald er da war, spähte Alan über den Berg, um sich zu vergewissern, dass er nicht zu sehen war von dem weißen Zelt aus, von der Black Box, von irgendwem in dem rosa Appartmenthaus. Er war unsichtbar für alle außer den Fischen im Meer.

Alan hinterfragte unablässig sein eigenes Verhalten. Kaum hatte er irgendwas getan, irgendwas in der Art wie sich hinter einem Sandberg am Roten Meer verstecken, fragte er sich: Wer ist dieser Mann, der das Präsentationszelt verlässt, um sich hinter einem Haufen Sand zu verstecken?

Er zog die Schuhe aus und ging näher ans Wasser. Ein leichter Wind kräuselte das Meer zu haarfeinen Wellen. Der Sand, bloß eine Schattierung entfernt von Weiß, war übersät mit Muschelstücken, als ob jemand seit hundert Jahren Geschirr zerdeppert hätte.

Der Strand war schmal, und bald spürte Alan die leichte Gischt der kleinen Wellen am Spann. Alan krempelte sich die Hosenbeine hoch und tauchte die Füße ins Wasser. Es war so warm wie die Luft darüber, aber je tiefer es wurde, desto kühler war es. Er stand jetzt, achtete darauf, nicht zu viel von sich zu zeigen. Wieder trat er aus seiner Haut heraus und zweifelte an seinem Verstand. Es war eine Sache, auf der Riesenbaustelle herumzuspazieren. Eine andere, an den Strand zu gehen. Aber die Schuhe auszuziehen, die Hosenbeine hochzukrempeln und ins Wasser zu waten?

Das Meer vor ihm wurde nicht vom Mast irgendeines Segelbootes, von irgendeinem Schiff durchbrochen. Es war offenbar ein bemerkenswert wenig benutztes Gewässer, zumindest nach dem, was er davon gesehen hatte. Auf den gut achtzig Meilen Fahrt hierher hatte Alan praktisch keine Bebauung gesehen. Wie konnte eine so lange Küste so wenig erschlossen sein? Er überlegte, eins von den Grundstücken hier zu kaufen. Er könnte eins oder zwei kaufen, sie die Hälfte des Jahres vermieten und trotzdem Profit rausschlagen. Er war mitten in den Berechnungen, als ihm bewusst wurde, dass er nicht der Mann war, der so etwas machen konnte. Er hatte kein Geld dafür.

Er griff ins Wasser, um sich eine Muschel anzuschauen, die heil aussah. Sie war ganz, makellos, eine Art Kammmuschel. Er steckte sie in die Tasche. Er fand noch eine, diesmal eine Kaurimuschel, glasig, hellbraun und leopardenfellartig, mit Dutzenden weißen Flecken. Er hatte früher schon Kaurimuscheln gehabt, und wahrscheinlich hatte er noch immer fünf oder sechs irgendwo in einer Dose. Aber er hatte noch nie eine einfach so im Wasser gefunden. Sie war noch dazu perfekt – er drehte sie wieder und wieder um und sah, dass sie intakt war, ohne einen Kratzer. Die Zähne waren glatt, unterschiedlich. Es gab keinen Grund dafür, warum sie so schön war.

Als kleiner Junge hatte er Muscheln gesammelt. Nicht sehr ernsthaft, aber er kannte die Namen von einigen der bekanntesten Sorten. Er hatte ein Buch, an dessen Aussehen und Gewicht er sich noch immer erinnerte, in dem die weltweit berühmtesten und wertvollsten Muscheln und Schnecken aufgelistet waren. Eine davon, die Conus gloriamaris, der Ruhm des Meeres, sollte Tausende wert sein. Er konnte sie sich heute vorstellen, ein länglicher Kegel, verziert mit Tausenden kleinen Windungen, zwanghaft und wie mit der Hand gezeichnet. Das Gehäuse war unglaublich selten. Angeblich kaufte 1792 ein Sammler, der eines der wenigen Exemplare weltweit besaß, ein weiteres auf einer Auktion, nur um es zu zerstören, damit sein erstes Exemplar noch wertvoller wurde. Alan hatte ständig in dem Buch geschmökert, und weil seine Mutter dachte, das Sammeln, das Einprägen von Zahlen, die obsessive Beschäftigung mit steigenden und fallenden Marktkursen würden seinen Geschäftssinn schärfen, kaufte sie ihm weitere Bücher, und er lernte die Namen auswendig und die Meere, in denen es sie gab.

Er krempelte die Hosenbeine bis zu den Knien hoch, bückte sich und benetzte sein Gesicht. Er leckte sich die Lippen, schmeckte das Salz.

Als Kit noch klein war, saßen sie oft am Strand, auf Cape Cod, an der Küste von Maine, manchmal in Newport. Sie hockte dann auf seinem Schoß, und zusammen harkten sie mit den Fingern durch die Steinchen und den Sand auf der Suche nach Seeglas und besonderen Muscheln und Sanddollars. Sie verglichen ihre Funde, warfen die besten in ein Marmeladenglas, aus dem sie das Kleingeld geschüttet hatten. Er vermisste sie in dem Alter. Ihre Größe damals, ihr Gewicht, wenn sie bei ihm auf dem Schoß saß. Sie war da drei oder vier Jahre alt, und er konnte sie hochheben, sie umhüllen. Er konnte sie an sich drücken, sie völlig bedecken, wenn sie weinte, ihr verfilztes Haar riechen, hinter ihrem Ohr schnuppern. Er schnupperte zu oft an ihr, das wusste er. Er hörte auch nicht damit auf, als sie sieben war, als sie zehn war. Ruby warf ihm missbilligende Blicke zu, aber er konnte nicht aufhören. Als sie vierzehn war, wollte er noch immer seine Nase an ihren Hals drücken, ihre Haut riechen.

Er dachte sich einen Brief aus, den er ihr schreiben könnte. Er würde ihr sagen, dass ihre Erwartungen an ihre Mutter unfair seien. Er fragte sich, ob Kit wusste, dass Ruby sie auf natürlichem Weg zur Welt gebracht hatte, ohne Schmerzmittel, ohne Epiduralanästhesie. Würde Kit das beeindrucken? Wahrscheinlich erst, wenn sie es selbst versuchte.

»Kit, Du sagst, Deine Mutter hat sich nicht verändert, aber das hat sie. Sie hat sich zigfach verändert. Es ist wichtig zu wissen, dass es bei Erwachsenen zwar eine ständige Entwicklung gibt, aber nicht immer eine Verbesserung. Es gibt Veränderung, aber nicht unbedingt Wachstum.«

Das war wahrscheinlich keine Hilfe. Vielleicht täuschte er sich. Ruby hatte sich so gut wie gar nicht verändert. Sie war immer unmöglich gewesen. Zu stark und zu schlau und zu grausam und die ganze Zeit zu ruhelos, um mit einem Mann zufrieden zu sein, der Fahrräder verkaufte. Und alles nach ihrer ersten Begegnung war eine Enttäuschung.

Er war geschäftlich in São Paulo gewesen. Da war er bei Schwinn. Sie hatten vor, dort eine neue Fabrik aufzumachen, ein halbes Dutzend Modelle auf den Markt zu bringen, sie in Südamerika zu verkaufen, die Zölle zu umgehen, aber die Reise war ein Flop gewesen. Der Kontaktmann vor Ort war ein Spinner, ein Dieb. Er hatte gedacht, sie würden ihm ein astronomisches Honorar im Voraus bezahlen, und Alan war sicher, der Mann würde sich vom Acker machen, sobald er den Scheck eingelöst hätte. Daher rief er in Chicago an und sagte, sie würden da unten ganz von vorne anfangen müssen. Die Bosse quittierten das mit einem Achselzucken und legten die ganze Sache auf Eis. Aber Alans Heimflug ging erst acht Tage später.

Er hätte auf der Stelle fliegen können. Aber Alan hatte seit zwei Jahren keinen Urlaub mehr gehabt, und Schwinn hatte ohnehin damit gerechnet, dass er eine Woche oder mehr weg wäre, also fuhr er zurück ins Hotel, sah in der Lobby einen Hinweis auf eine Flussfahrt den Rio Negro hinunter und buchte sie. Er ging nach oben auf sein Zimmer und saß dann den Rest des Abends auf dem Balkon und beobachtete den Verkehr auf der Straße und den Bürgersteigen, die Kinder, die in ihren Schuluniformen bis elf Uhr draußen unterwegs waren. Eine Stunde lang hatte er ein Mädchen beobachtet, das höchstens acht war und mager wie eine streunende Katze. Die Kleine schob unbehelligt und allein einen Kinderwagen voll mit weißen Rosen durch die Gegend. Sie verkaufte nicht eine.

Am Morgen nahm er einen schnellen Flug nach Manaus an der Mündung des Flusses, der sich auf den ersten Blick nicht großartig vom unteren Mississippi oder überhaupt irgendeinem Fluss unterschied. Er war breit, er war braun. Alan hatte die Reise in der Erwartung eines dichten und überwucherten Dschungels gebucht, durch den sich ein schmaler Fluss wand, mit Affen, die vom Wasser aus zu sehen wären, schnappenden Krokodilen und Piranhas, springenden Amazonasdelfinen. Doch stattdessen musste er, als er am Flussufer eintraf, auf einem provisorisch aus Paletten gebauten Plankenweg eine Riesenfläche Schlamm überqueren, um dann einen alten Flussdampfer aus Holz zu besteigen, der drei Stockwerke hoch war und aussah, als würde er genauso wenig schwimmen können wie eine alte Schindelkirche.

Die Tage verliefen herrlich einfach. Die Passagiere wachten mit der Sonne auf, dösten eine Stunde und vertrödelten eine weitere nach Lust und Laune auf den Decks, blickten stumpfsinnig auf die vorbeiziehende Landschaft, plauderten träge, spielten Karten, schrieben Tagebuch, lasen Bücher über die Vegetation. Gegen acht wurde das Frühstück serviert, immer irgendwas Frisches – Eier, Kochbananen, Melone, frisches Brot, Saft von Orangen oder Mangos. Nach dem Frühstück kam wieder ein Block Freizeit, und um zehn oder elf legte das Schiff irgendwo an, wo etwas Interessantes geboten wurde. An einem Tag war es ein altes Dorf aus Strohhütten auf Stelzen in den Flussauen, an einem anderen Tag war es eine Wanderung durch den Dschungel, um nach Schlangen und Eidechsen und Spinnen zu suchen.

Auf dem Schiff schlief Alan mehr, als er für möglich gehalten hätte. Der höhere Sauerstoffgehalt in der Luft, meinten die von der Besatzung. Leute aus dem Norden schliefen viel in den ersten Tagen, sagten sie. Er schlief einfach überall – in seiner Kabine, auf dem zweiten Deck, auf seinem Stuhl, überall. Und immer war der Schlaf so wohltuend wie noch nie.

An Bord waren zwölf Herpetologen, die meisten von ihnen über sechzig, und Alan und eine junge Frau in seinem Alter. Das war Ruby. Sie war groß und schlank, hatte dicht gelocktes, kurzes dunkles Haar. Alle von der Besatzung waren in sie verliebt, und obwohl sie alle verheiratet waren, machten sie bei ihr Annäherungsversuche, und sie machte sie zur Schnecke. – Ihre arme Frau, sagte sie zu einem von ihnen, einem verheirateten Peruaner, als er während des Abendessens ihre Hand nahm. Sie haben sie nicht verdient, fuhr Ruby fort, wer immer sie ist, wo immer sie ist.

Von da an blieb Alan in ihrer Nähe, nur um sie reden zu hören.

Nach dem Tagesausflug legte das Schiff wieder ab und fuhr langsam den Fluss hinunter, und der Nachmittag zog sich ohne Plan oder Verpflichtung dahin. Das Abendessen war immer großartig und wurde mit Bier runtergespült. Nach dem Essen saßen sie an Deck und spielten Karten oder Domino und hörten sich Geschichten von Randy an, dem Kapitän mit zwei Ehefrauen, und Ricardo, dem zweiten Kapitän mit noch viel mehr Ehefrauen. Später verschwanden alle in ihre Kabinen, und Alan saß auf dem Oberdeck, fast ausnahmslos allein. Von dort oben konnte er das weite, unvorstellbare Himmelsgewölbe sehen, die Baumwipfel, die links und rechts vorbeizogen, das Klicken und Schwirren von Vögeln und versteckten Affen.

Alan hatte nicht mit irgendeiner Art von Romanze an Bord gerechnet, doch irgendwie ergab es sich, dass er bei den Mahlzeiten in Rubys Nähe saß und dann auf Wanderungen mit ihr zusammen ging, und schon bald waren sie Freunde, eine Art von Paar. Vielleicht lag es nur an der schlichten Tatsache, dass sie beide im gleichen Alter waren und auf einem Schiff voller älterer Leute. Und war er der Einzige, der bereit war, ihr zuzuhören, wenn sie Tag für Tag stundenlang redete? Irgendwas an der Flussluft, dem weithin offenen Himmel, brachte sie dazu, Reden zu schwingen, sagte sie lachend. – Macht es dir nichts aus, dir mein Geplapper anzuhören?, fragte sie, und er sagte, Nein, überhaupt nicht.

Sie stapften durch den Dschungel, und sie erzählte über die Arbeit, die sie gern machen würde und die sich anhörte, als wollte sie die Welt retten.

– Nein, nein!, sagte sie. Ich meine genau das Gegenteil. So etwas machen und sagen nur Spinner. Ich rede von etwas sehr viel Ernsterem.

Sie regte sich über Leute auf, die großes Können und Mitgefühl hatten und ihre Zeit mit Nebenschauplätzen vergeudeten, unbedeutenden Problemen, Belanglosigkeiten. Sie hatte sich auf Tierrechte eingeschossen. Dabei bereiteten ihr weniger die Pandas und Wale Sorgen als vielmehr die Katzensterilisierer, die Hamsterretter.

– Schön, meinetwegen, behandelt sie gut, schäumte sie und meinte die Tiere. Aber das ganze Geld, die vielen Anwälte und Kampagnen und Proteste für Kaninchen und Laborratten! Wenn man all diese Energie darauf richten würde, das Leben der Hungernden dieser Welt zu retten!

Alan nickte bloß. Er wusste nicht, dass da eine Nullsummengleichung im Spiel war. Aber genau das behauptete sie. Die Energie, die für unwesentliche Dinge aufgewendet wurde, bremste jeden Fortschritt bei den dringlichsten Problemen. Alan bewunderte sie für ihren Scharfsinn und ihre Energie, aber nicht für ihren Zorn. Es brachte sie auf die Palme, dass sich globale Krisen, die ihr ohne Weiteres lösbar schienen, hartnäckig hielten. Sie schrieb Briefe an Senatoren, an Gouverneure, an einflussreiche Leute beim IWF. Sie bestand darauf, dass er jeden einzelnen las, während sie auf der anderen Seite des Raumes saß, mit einem eindeutig postkoitalen Ausdruck im Gesicht. Sie dachte jedes Mal, sie hätte die Magna Carta geschrieben. Anschließend war es seine Aufgabe, ihr zu sagen, dass Senator X oder Y verrückt wäre, wenn er die Logik ihrer Argumentation nicht einsehe, während er gleichzeitig versuchte, ihre Erwartungen zu mäßigen.

Aber das war unmöglich. Es gab keinen Mittelweg bei dem, was sie sich für die Welt, für sich selbst, für ihren Mann wünschte.

Eine Maschine sprang dröhnend an. Alan drehte sich um und sah einen Mann in einem kleinen Bulldozer. Daneben standen zwei weitere Männer. Sie wollten die Arbeit an dem nahe gelegenen Promenadenabschnitt fortsetzen.

Alan stellte sich vor, dass unter den Arbeitern in KAEC später eine Legende kursieren würde, die seltsame Geschichte von dem Amerikaner, der wie ein Geschäftsmann gekleidet war, aber ziellos am Strand herumlungerte, sich hinter Sandbergen und in leeren Fundamenten von Gebäuden versteckte. Das war ihm schon mal passiert – bei dem Versuch zu verschwinden hatte er sich erst recht auffällig gemacht.

Er ging zurück zum Zelt und fand die jungen Leute schlafend in der Plastikdunkelheit. Er rollte einen der kleinen Teppiche zusammen und legte den Kopf darauf.

Er war oben auf dem Flussdampfer. Es war kurz vor Mitternacht, unter einem sternenerstickten Himmel, während das Schiff sich leise durch einen schmalen Nebenarm schob, der Wind heiß und die Feuer fern. Ruby stand an der Reling in einer fadenscheinigen gelben Bluse, und Alan trat von hinten an sie heran. Doch noch ehe er ganz bei ihr war, lehnte sie sich rückwärts gegen ihn. Er schlang die Arme um ihren Oberkörper, und sie drehte sich rasch zu ihm um, und er fiel gegen sie. Ihr Mund schmeckte nach Bier. Sie landeten in ihrer Kabine und verbrachten den Großteil der restlichen Tage dort.

Sie heirateten in atemloser Hast, doch Alan hatte schon früh das Gefühl, dass sie ihn durchschaute. Wer war er? Er verkaufte Fahrräder. Sie passten nicht zueinander. Er war beschränkt. Er versuchte, ihr Niveau zu erreichen, seinen Horizont zu erweitern und die Dinge so zu sehen wie sie, aber er arbeitete mit groben Werkzeugen. Das rettende Element seiner Arbeit war das Reisen, die diversen Reisen für Schwinn zu neuen Märkten, und die wusste Ruby sehr zu schätzen. Auf diesen ersten Reisen nach Taiwan, nach Japan, nach China und Ungarn kam Ruby mit, und sie war wundervoll. Sie war wahnsinnig charmant, strahlend. Sie sah alles, lernte jeden kennen. Sie war ein umwerfender Gast, die eigenwilligste und interessierteste und temperamentvollste Amerikanerin, die jedem von ihnen je untergekommen war.

Aber Alan war ihr peinlich. Er kannte nicht mal die Hälfte der Leute, von denen sie sprach – Dissidenten und Philosophen und Exilpolitiker. Er suchte sich lieber einen Industriellen am Tisch, einen von den Ehegatten, der sich mit Stückkosten und Lieferfristen auskannte und weniger mit den Chancen für eine Zivilgesellschaft in Sri Lanka. Manchmal hatte er Glück und sie versteckten sich zusammen vor dem Licht der Idealisten, die sich über die Details undurchführbarer Pläne und nicht finanzierbarer Mandate stritten.

Rubys idealer Partner, wie Alan da schon wusste, wäre ein Kennedy gewesen, ein Rockefeller. Vielleicht Aristoteles Onassis oder George Soros. Sie brauchte einen reichen Mäzen, der politischen Einfluss hatte, der den Vorhang der Macht beiseiteziehen und ihr die Hebel und Knöpfe zeigen konnte. Der ihre Pläne finanzieren konnte. Wenn sie frustriert war, wenn sie ihn als Sand in ihrem Getriebe sah, wurde sie gemein.

– Es gibt nicht den »Richtigen« oder die »Richtige«, sagte sie einmal. Sie waren in Taipei und aßen mit einem Zulieferer und seiner Frau zu Abend. Das Paar war seit vierzig Jahren verheiratet. Der Gedanke, dass es auf der Welt nur einen einzigen Menschen gibt, der für dich bestimmt ist, ist unlogisch, sagte sie. Sie hatte ein paar Drinks intus, und es machte ihr Spaß, laut zu denken. Die Rechnung geht einfach nicht auf! Bei wem du landest, hängt lediglich von zufälliger Nähe ab.

Alan schlug die Augen in dem Zelt am Meer auf. Die jungen Leute schliefen immer noch. Sie hielten ihn für ein Nichts, einen unwichtigen Mann. Wussten sie, dass er im Rio Negro geschwommen war, wo es von Krokodilen wimmelte? Dass er eines Morgens beinahe in Stücke gerissen worden wäre und seine grundsätzlich grausame Exfrau die Einzige war, die sich für ihn einsetzte, damals und überhaupt?

Alan hatte beobachtet, dass einige von der Besatzung ab und an in den Fluss sprangen, und das hatte eine Diskussion über Krokodile ausgelöst, und es hatte sofort und auch später Vorträge darüber gegeben, wie selten Krokodile angriffen, dass sie kein Interesse an Menschenfleisch hatten, außer das Wasser war sehr niedrig, außer es herrschten ungewöhnliche Bedingungen und ihre üblichen Nahrungsquellen waren knapp oder nicht mehr vorhanden.

Als das Schiff also an dem Dorf angelegt hatte, gab eine Handvoll Passagiere der Versuchung nach, und sie schwammen ganz unbesorgt. Es ist toll, sagten sie. Sie standen im seichten Wasser, und Dorfkinder planschten in der Nähe, alle waren im Fluss, und niemand wurde von riesigen Reptilien verschlungen. Es schien sogar, als gäbe es in dem Abschnitt des Flusses gar keine, bis es einige Minuten später auf der anderen Seite des Schiffes unruhig wurde. Ein Besatzungsmitglied hatte gefischt und soeben ein Babykrokodil gefangen, so groß wie ein Schuh. Alan und Ruby eilten hin, um es sich anzusehen, und es sah tatsächlich ganz genau so aus wie die, die er in Büchern gesehen hatte. Es hatte einen unglaublichen Unterbiss und sah apoplektisch aus.

Alan hatte nicht die Absicht zu schwimmen. Aber für Ruby waren der Anblick des Tieres, wie es da auf dem Deck zappelte, und das Wissen, dass es so nahe bei den Passagieren und den Kindern im Wasser gewesen war, der Beweis dafür, dass keine Gefahr bestand, und so sprang sie in den Fluss, planschte herum und versuchte, auch Alan hereinzulocken. Er weigerte sich, und anschließend stand sie bei ihm an Deck, ein Handtuch um die Schultern, und lehnte sich gegen ihn.

– Du solltest es machen, sagte sie.

Und mehr brauchte er nicht. Er beschloss jedoch, noch einen Schritt weiter zu gehen, und als er auf dem Schiff ein Ruderboot entdeckte, ließ er es zu Wasser und kletterte hinein. Er hatte vor, ein Stück hinaus auf den Fluss zu rudern und vom Boot ins tiefe Wasser zu springen.

Das Ruderboot war sehr klein, eher ein Kajak, so wenig Tiefgang hatte es. Alan ruderte, die Beine gerade ausgestreckt, und das kam ihm ganz normal vor. Doch schon bald schaute eine Menschenmenge, die gesamte Besatzung, von dem Deck unterhalb von Ruby aus zu, und sie schienen seinen Ausflug höchst amüsant zu finden. Also schaute Ruby genauer hin und sah sehr schnell, was die Besatzung so lustig fand. Das Boot, das Alan sich ausgesucht hatte, war nicht seetüchtig, war voller Löcher, und es sank. Das Gelächter der Besatzung wurde stärker, während sie zusahen, wie Alan langsam in den Fluss sank, und als er selbst merkte, dass er sank, und dann hastig versuchte, zu wenden und zum Schiff zurückzurudern, ehe das Boot ganz unterging, lachten sie sogar noch lauter.

Alan war versichert worden, dass die Krokodile absolut keine Gefahr darstellten und nur dann einen Menschen angriffen, wenn sie ausgehungert waren und der Wasserstand sehr niedrig war, aber dennoch gab es bei jedem Waffenstillstand zwischen Tier und Mensch auch Anomalien – jede Woche verlor irgendein Hilfstierpfleger einen Arm im Maul eines Tigers, trampelten Elefanten ihre Dompteure tot –, und nun sank Alan nach und nach in den Rio Negro, gut dreißig Meter vom Schiff entfernt, garantiert zu weit, als dass irgendwer vom Schiff noch rechtzeitig bei ihm sein könnte, falls doch etwas schieflief, falls die Krokodile ihn doch für essbar hielten.

Alan versuchte, nicht panisch zu wirken, versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, wie unwahrscheinlich, ja unmöglich ein Angriff wäre, aber andererseits: Was wäre, wenn? Als er noch rund zwanzig Meter entfernt war, erreichte das Wasser den Rand des Bootes und strömte beängstigend schnell herein. Alans Vorwärtsbewegung erstarb, der Großteil des Bootes verschwand rasch im rostbraunen Wasser, und gleich darauf sank er in den Fluss, in dem es von Krokodilen und was sonst noch allem nur so wimmelte.

Er wäre am liebsten zum Schiff zurückgeschwommen, und zwar schnell, aber er fürchtete, das spritzende Wasser würde Zähne zu seinen wild strampelnden Armen und Beinen locken. Gleichzeitig wollte er das Kanu zurück zum Schiff bringen, denn es war ja seine Idee gewesen, eine Runde rudern zu gehen, eine wahnsinnig bescheuerte Idee, wie er jetzt wusste. Er wollte das Boot, das er mittlerweile zwischen den Beinen festhielt, nicht auf den Grund sinken lassen. Und die ganze Zeit wusste er, dass seine baumelnden Beine wahrscheinlich mit großem Interesse von den Fleischfressern des Flusses beäugt wurden. Und noch immer lachten die Gesichter. Es gab sogar ein paar Gesichter darunter, die das Ganze allmählich langweilig fanden. Sie wandten sich von ihm ab.

Es gab einen Moment, in dem Alan den Flussdampfer anschaute und dachte, Tja, das könnte es echt sein. Das könnte das Letzte sein, was ich im Leben sehe. Es ist ein hübsches Schiff, und ganz oben steht die reizende Ruby, die sich jetzt über die Reling beugt und plötzlich losschreit.

– Helft ihm!

Sie sprang praktisch rein. Sie hing über die oberste Reling und versuchte, die Besatzung auf dem Deck unter ihr auf sich aufmerksam zu machen.

– Nun helft ihm doch endlich, ihr verdammten Arschlöcher!, brüllte Ruby und wiederholte diese und andere Versionen dieser Anweisung, bis eine Minute später drei von der Besatzung in einem Ruderboot saßen und dann bei Alan waren und ihn ins Schlepptau nahmen.