XIX.
ER NAHM EIN TAXI ZUR BOTSCHAFT und wurde zwanzig Minuten später Zeuge, wie zwei Frauen einem Mann die gepiercten Nippel leckten, rittlings auf ihm wie barbarische Gefährtinnen. Es gab Leute in Unterwäsche und Unmengen Pillen. Fässerweise Schwarzgebrannten. Es war verzweifelt und gestört und zeitweilig sogar vergnüglich.
Ein dicker Mann tanzte am Pool, tanzte gut. So eine enge Hose für einen massigen Mann. Hanne war verschwunden, an die Bar.
Alan war allein und schlenderte herum. Er brauchte keinen Drink.
Die Hose des dicken Mannes glitzerte wie Fischschuppen. Alan hatte dem Mann misstraut, sich gefragt, wieso Frauen ihm so nahe waren, offensichtlich fasziniert von ihm, doch dann hatte der dicke Mann angefangen zu tanzen, und alles erklärte sich. Er war fantastisch. Und Kanadier. Ein dickes kanadisches Tanzphänomen.
Im Pool wurde ein Spiel gespielt. Leute tauchten nach Pillen. Marihuana gab es nicht auf der Party – das hätten Nachbarn zu leicht wittern können, den Geruch im Wind –, deshalb gab es stattdessen Pillen. Es gab unendlich viele Pillen und Wein und Hochprozentiges in Flaschen ohne Etiketten. Es war ein Paradies für Alkoholschmuggler.
Ein großer Mann, gebaut wie ein Wikinger, das strohfarbene Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, warf Pillen ins Wasser, Hunderte. Er warf sie hinein, und Leute tauchten. Ihr müsst sie so essen, dass ich es sehen kann, sagte er zu den Partygästen, die in ihrer Unterwäsche hineinsprangen. Wer mitspielte, musste erst wieder auftauchen und die Pille vor seinen Augen schlucken. Und so sprangen Leute in Unterwäsche in den Pool, tauchten nach den Drogen – weiße und blaue Pillen, die auf dem Grund des Pools bei Nacht sehr schwer zu sehen waren. Was für welche waren das?
Irgendwer sagte Viagra, irgendwer sagte Ambien, aber das konnte nicht stimmen. Schon bald tauchte jemand nackt aus dem Pool auf, und das löste einen Tumult aus. Im Pool waren Männer und Frauen ineinander verschlungen, Haut schimmerte im Licht und bewegte sich rhythmisch, und es gab Pillen und Schnaps, aber der Mann, der nackt aus dem Pool stieg, überschritt anscheinend eine Grenze. Er wurde rasch mit einem Handtuch verhüllt und ins Haus bugsiert.
Wo war Hanne?
Noch nie hatte er gesehen, dass sich Leute in diesem Alter so benahmen. Alte Leute, Leute in seinem Alter, in Unterwäsche. Alte Leute, die sich die Pillen in den Mund warfen und sie mit riesigen Flaschen Schnaps runterspülten. Etwas Aufgestautes war entfesselt worden. Und die Frau mit dem tiefen Ausschnitt? Sie trug ihr Dekolleté vor sich her wie ein Tablett. Spazierte einfach auf der Party herum, herum und herum, ohne Plan oder Ziel, wie es schien. Schien nie mit irgendwem zu reden. Als wäre sie dafür engagiert worden, das zu tun, was sie tat, herumspazieren, bewundert werden. So etwas machte man in New York und Vegas, aber hier?
Alan trank aus einem Dutzend klarer Flaschen, deren Inhalt immer aussah wie Wasser und schmeckte wie kaputte Maschinen.
Alan kam mit einem amerikanischen Architekten ins Gespräch. Er sagte, er habe einen Teil von KAEC entworfen, das Finanzzentrum. Er hatte immerhin ein paar der größten Gebäude der Welt entworfen. Er stammte aus irgendeiner Gegend, die sehr überraschend war, sehr flach. Iowa? Er war herzlich gewesen, bescheiden, vielleicht ein bisschen verhärmt. Sie tauschten ihre Erfahrungen mit Schlafmangel aus. Der Architekt war frisch aus Schanghai gekommen, wo er einen neuen Turm baute, größer als alles andere, was er gemacht hatte. Er arbeitete seit zehn Jahren in Dubai, Singapur, Abu Dhabi, in ganz China.
– In den Staaten arbeite ich schon lange nicht mehr, seit, wow, ich hab vergessen, seit wann, sagte er.
Alan fragte, warum, obwohl er die Antwort kannte. Es hatte mit Geld zu tun, klar, aber auch mit Vision, Mut, sogar ein bisschen mit Konkurrenz und Ego.
– Es geht nicht darum, das Größte und Höchste zu bauen, aber wissen Sie, in den Staaten gibt es solche Träume zurzeit nicht. Alles liegt auf Eis. Die Träume werden vorerst woanders geträumt, sagte der Architekt. Dann verließ er die Party.
– Los, unterhalten Sie sich mit mir.
Es war Hanne.
– Wo haben Sie gesteckt?, fragte sie.
Alan wusste es nicht.
Sie nahm Alans Hand. Er ließ sich mitziehen.
– Machen wir einen Fehler, sagte sie.
Sie gingen in die Garage. Drei Kühlschränke noch in der Verpackung.
Und ihr Gesicht an seiner Brust, dann die kleinen Augen, die zu ihm hochschauten und versuchten, sinnlich zu sein, aber eher so etwas wie suchend zustande brachten. Er fühlte sich gefunden und sah weg.
Aber sie küssten sich einen Augenblick lang, und dann hörte er auf. Er tat so, als wäre es eine Sache von Ritterlichkeit. Eine Frage von Würde.
– Ist irgendwie albern, dieses Überstürzte, nicht?, sagte er.
Sie trat zurück, sah ihn an, als hätte er ein schreckliches Geheimnis enthüllt, dass er in seiner Jugend Mitglied der SS gewesen war. Dann lachte sie. Bewundernswerte Vorsicht in deinem Alter, Alan!
Er zog sie fest an sich und hielt sie lange. Er küsste sie oben auf den Kopf. Das ging zu weit, und er wusste es. Jetzt war er ihr Vater. Ihr Priester? Er war ein Idiot.
Sie wich zurück. – Behandle mich nicht so gönnerhaft.
Er entschuldigte sich und sagte ihr, wie sehr er sie mochte, weil das stimmte.
– Du kannst mir nicht wehtun, weißt du, sagte sie. Ich bin nicht kleinzukriegen.
Das war das Startsignal, eine Frau, die einem Mann erzählt, dass sie sehenden Auges an die Sache rangeht und er nicht befürchten muss, dass sie sich in ihn verliebt oder ihn auch nur in Erinnerung behält.
War sie absichtlich gemein? Kein Mensch hat es gern, wenn ihm das, was er will, vorenthalten wird. Erst recht nicht, wenn es zum Greifen nahe scheint. Das macht einen doppelt wütend. Hanne dachte offenbar, sie würde Alan einen Gefallen tun. Und dann hatte er sie probiert und Nein gesagt. Den Rest des Abends sprach sie kein Wort mehr mit ihm.
Aber inzwischen war die Party ohnehin so gut wie vorüber. Folgendes passierte am Ende, kurz vor Ende, zumindest kurz vor Ende der Zeit, die Alan dort war. Der Raumfahrer! Ein Mann in einem Raumanzug. Es war ein Kostüm, aber es war sehr gut, sehr realistisch. Eine Art Kreuzung zwischen Apollo-Anzug und Kubricks 2001, genauso ungelenk, die geriffelten Arme und Beine. Er ging einfach in dem Anzug umher, simulierte Schwerelosigkeit, und dann ging er wieder hinein. Später kam er ohne den Helm heraus und entpuppte sich als jemand um Mitte sechzig. Was hatte er getrunken oder genommen? Ein über sechzigjähriger Mann, der in Zeitlupe auf einer Party herumspazierte, sich mit Leuten pantomimisch unterhielt, so tat, als würde er die Brüste der Dekolletéfrau begrapschen.
Im Keller lief Musik, eine Art Tanzfläche, eine aus Alufolie gebastelte Discokugel. Ausschließlich Motown, Diana Ross und The Shirelles. The Jackson 5. Männer und Frauen in den Vierzigern rieben sich aneinander, Hintern am Schritt. Es war verstörend, wie sie das machten. Alan hatte den Keller verlassen müssen.
Es waren fröhliche junge Leute da. Draußen am Pool.
Sie hatten ihren Schwarzgebrannten in der Hand, in roten Bechern, und sie gingen für einen oder zwei Songs auf die Tanzfläche, und Alan saß irgendwann neben ihnen, auf Liegestühlen, und schaute beim Pillentauchen zu. Sie waren zu dritt. Die einzige Frau unter ihnen war Äthiopierin, sprach aber wie eine Amerikanerin, in Miami geboren. Sie arbeitete jetzt für die äthiopische Botschaft. Ihr Haar stand in allen Richtungen vom Kopf ab, sie hatte eine dünne, gerade Nase, riesige Augen und Augenlider, die aussahen wie mit blauem Rauch bemalt. Bei ihr waren zwei ernste junge Männer. Sie sahen aus wie sechzehn, die Gesichter reife Früchte, die Augen klein und leuchtend. Einer war Holländer, der andere Mexikaner. Sie interessierten sich für Alan, für KAEC, für alles.
– Hier wird es bald knallen, sagte die Äthiopierin.
– Hier wird es bald knallen? Alan dachte, sie meinte irgendeine Art Krieg. Irgendeine Art Terror. Irgendwas wie das Massaker 1979 in Mekka, mit so vielen toten Pilgern.
– Nein, nein, sagte sie. Die Frauen. Den saudischen Frauen reicht es. Sie haben die Nase voll von dem ganzen Mist. Abdullah versucht, Türen zu öffnen, und hofft, die Frauen gehen hindurch, sehen dann weiter. Er hält sich für Gorbatschow. Er stellt die Dominosteine auf. Das gemischte College war der erste. KAEC ist der nächste.
Alan wandte sich an die anderen beiden. – Seht ihr das auch so?
Die anderen beiden nickten. Sie wussten wahrscheinlich mehr als er.
Es wurde Kicker gespielt. Irgendein Turnier, sehr ernst, mit Namen auf einer Kreidetafel, K.-o.-System. Auf einem großen Flachbildfernseher liefen die Filme von Russ Meyer. Der Astronaut sah sich einen an, vorgebeugt, seinen Helm auf dem Schoß.