III.
DAS TELEFON KLINGELTE.
– Wir hatten ein Problem mit dem ersten Fahrer. Wir haben einen zweiten gerufen. Er ist auf dem Weg. Er müsste in zwanzig Minuten da sein.
– Danke, sagte Alan und legte auf.
Er setzte sich, atmete bedächtig, bis er sich wieder ruhiger fühlte. Er war ein amerikanischer Geschäftsmann. Er schämte sich nicht. Er konnte heute etwas bewirken. Er konnte besser sein als ein Idiot.
Sie hatten Alan keine festen Zusagen gegeben. Der König ist sehr beschäftigt, hatten sie ihm wiederholt in E-Mails und Telefonaten erklärt. Selbstverständlich, hatte Alan wieder und wieder entgegnet und erneut zum Ausdruck gebracht, dass er bereit war, sich überall mit dem König zu treffen, wann immer es Seiner Majestät beliebte. Aber so einfach war das nicht; der König war nämlich nicht nur sehr beschäftigt, sondern sein Terminplan änderte sich obendrein kurzfristig und häufig. Der Terminplan musste sich häufig und kurzfristig ändern, da es viele gab, die den Wunsch haben könnten, dem König Schaden zuzufügen. Daher änderte sich der Terminplan des Königs nicht nur aufgrund der Staatsgeschäfte häufig, sondern er musste sich auch zum Wohle des Königs und des Königreichs häufig ändern. Die Vertreter von Reliant, so wurde Alan gesagt, sollten daher, ebenso wie eine Reihe anderer Anbieter, die daran interessiert waren, Dienstleistungen für die King Abdullah Economic City zu erbringen, ihre Produkte vorbereiten und sie an einem Ort präsentieren, der noch festgelegt werden würde, irgendwo im küstennahen Herzen der entstehenden Stadt, und sie würden kurz vor der Ankunft des Königs verständigt. Das könne jeden Tag der Fall sein, und es könne zu jeder Uhrzeit der Fall sein, so wurde Alan gesagt.
– Also Tage, Wochen?, fragte er.
– Ja, sagten sie.
Und so hatte Alan diese Reise geplant. Er machte so etwas nicht zum ersten Mal – den Ring küssen, die Produkte präsentieren, ein Geschäft abschließen. Kein unmögliches Unterfangen, normalerweise, wenn du die richtigen Mittelsmänner hattest und den Kopf einzogst. Und für Reliant zu arbeiten, den größten IT-Anbieter der Welt, war dabei kein Hindernis. Abdullah wollte vermutlich den Besten, und Reliant hielt sich für den Besten, sicherlich für den Größten, zweimal so groß wie ihr schärfster US-Konkurrent.
Ich kenne Ihren Neffen Jalawi, würde Alan sagen.
Vielleicht: Ich stehe Ihrem Neffen Jalawi nahe.
Jalawi, Ihr Neffe, ist ein alter Freund.
Anderswo spielten Beziehungen keine Rolle mehr, das wusste Alan. Sie spielten in Amerika keine Rolle, sie spielten so gut wie nirgends eine Rolle, aber hier, bei den Angehörigen eines Königshauses, hoffte er, dass Freundschaft etwas zählte.
Es waren drei weitere Leute von Reliant mitgekommen, zwei von der Technik und eine Marketingdirektorin – Brad, Cayley und Rachel. Sie würden demonstrieren, wozu Reliant fähig war, und Alan würde grob die Zahlen überschlagen. Der Auftrag, die IT für KAEC zu liefern, würde Reliant für den Anfang mindestens ein paar Hundert Millionen einbringen, mit Aussicht auf mehr, und, was noch entscheidender war, er würde Alan ein Leben im Luxus bescheren. Vielleicht kein Leben im Luxus. Aber er könnte einen drohenden Bankrott abwenden, hätte etwas für den Ruhestand, Kit könnte auf dem College ihrer Wahl bleiben und wäre nicht mehr so enttäuscht vom Leben und ihrem Vater.
Er verließ das Zimmer. Die Tür schloss sich wie ein Kanonenschuss. Er ging den orangefarbenen Flur hinunter.
Nichts an dem Hotel deutete darauf hin, dass es sich im Königreich Saudi-Arabien befand. Der ganze Komplex, abgeschottet von der Straße und vom Meer, war frei von Inhalt oder Kontext, bar jedes arabischen Ornamentes. Dieses Hotel, Palmen und Lehmziegel, wohin das Auge blickte, hätte in Arizona stehen können, in Orlando, überall.
Alan spähte hinunter ins Atrium, zehn Stockwerke tief, wo Dutzende Männer herumwuselten, alle in traditioneller saudischer Kleidung. Alan musste sich die Terminologie merken: Die langen weißen Gewänder hießen Thawbs. Das Tuch, das Haare und Hals bedeckte, war die Ghutra, die durch die schwarze, runde Kordel namens Iqal gehalten wurde. Alan sah die Männer herumwuseln, und die Thawbs ließen ihre Bewegungen beinahe schwerelos wirken. Eine Versammlung von Geistern.
Am Ende des Flurs bemerkte er eine sich schließende Fahrstuhltür. Er trabte hin und schob im letzten Moment eine Hand in die Lücke. Die Türen öffneten sich zuckend, erschrocken und kleinlaut. In dem Glasfahrstuhl waren vier Männer, alle in Thawbs und Ghutras. Ein paar blickten kurz zu Alan hoch, richteten die Augen dann aber rasch wieder auf einen neuen Tablet-Computer, den sie zwischen sich hielten. Der Besitzer führte die Keypad-Funktion vor und drehte das Gerät unentwegt, wobei sich die Tasten brav neu konfigurierten, was seinen Freunden großen Spaß bereitete.
Der Glaskasten, der sie alle barg, sackte durch das Atrium in die Lobby, lautlos wie Schnee, und die Türen öffneten sich vor einer falschen Felswand. Chlorgeruch.
Alan hielt für die Saudis die Tür auf, keiner von ihnen dankte ihm. Er folgte. Springbrunnen warfen Wasser in die Luft, grundlos und unrhythmisch.
Er setzte sich an einen kleinen gusseisernen Tisch in der Lobby. Ein Kellner erschien. Alan bestellte Kaffee.
In der Nähe saßen zwei Männer zusammen, einer schwarz, der andere weiß, beide in identischen weißen Thawbs. Laut Alans Reiseführer herrschte in Saudi-Arabien ein ausgeprägter, sogar unverhüllter Rassismus, und jetzt das. Vielleicht kein Beweis für gesellschaftliche Harmonie, aber dennoch. Ihm fiel kein einziges Beispiel dafür ein, dass eine in einem Reiseführer beschriebene Sitte oder Behauptung je in der Praxis bestätigt worden wäre. Die Vermittlung von kulturellen Normen war wie die Durchsage von Verkehrsmeldungen. Wenn du sie bekannt gabst, waren sie schon nicht mehr relevant.
Jetzt stand jemand in der Nähe von Alan. Alan blickte auf und sah einen rundlichen Mann, der eine sehr dünne weiße Zigarette rauchte. Er hob eine Hand, als wollte er winken. Alan winkte, verwirrt.
– Alan? Sind Sie Alan Clay?
– Der bin ich.
Der Mann drückte seine Zigarette in einem Glasaschenbecher aus und gab Alan die Hand. Seine Finger waren lang und dünn, weich wie Fensterleder.
– Sind Sie der Fahrer?, fragte Alan.
– Fahrer, Reiseführer, Held. Yousef, sagte der Mann.
Alan stand auf. Yousef war klein, und der cremeweiße Thawb verlieh seiner stämmigen Statur die Silhouette eines Pinguins. Er war jung, kaum älter als Kit. Sein Gesicht war rund, faltenlos, mit dem flaumigen Schnurrbart eines Teenagers.
– Sie trinken Kaffee?
– Ja.
– Wollen Sie ihn austrinken?
– Nein danke.
– Gut. Dann hier lang.
Sie gingen nach draußen. Die Hitze war ein lebendiges Raubtier.
– Da drüben, sagte Yousef, und sie hasteten über den kleinen Parkplatz zu einem alten pfützenbraunen Chevy Caprice. Das ist meine große Liebe, sagte Yousef, präsentierte ihn wie ein Zauberer einen Strauß falscher Blumen.
Der Wagen war eine Schrottkiste.
– Sind Sie startklar? Haben Sie keine Tasche oder so?
Alan hatte keine. Früher trug er immer eine Aktentasche bei sich, Schreibblocks, aber er hatte sich die Notizen, die er auf irgendwelchen Meetings machte, kein einziges Mal angesehen. Jetzt saß er in Meetings, ohne irgendwas aufzuschreiben, und diese Praxis war eine Kraftquelle geworden. Die Leute setzten bei jemandem, der sich keine Notizen machte, große Scharfsinnigkeit voraus.
Alan öffnete die hintere Tür.
– Nein, nein, sagte Yousef. Ich bin kein Chauffeur. Setzen Sie sich nach vorn.
Alan gehorchte. Der Sitz stieß eine kleine Staubwolke aus.
– Sind Sie sicher, dass uns der Kasten ans Ziel bringt?, fragte Alan.
– Ich fahre andauernd damit nach Riad, sagte Yousef. Er hat mich noch nie im Stich gelassen.
Yousef stieg ein und drehte den Zündschlüssel. Der Motor blieb stumm.
– Ah, Moment, sagte er und stieg aus, öffnete die Motorhaube und verschwand dahinter. Nach einem Moment schloss er die Motorhaube, stieg wieder ein und startete das Auto. Es erwachte hustend zum Leben, klang wie die Vergangenheit.
– Motorprobleme?, fragte Alan.
– Nein, nein. Ich musste die Batterie abklemmen, bevor ich in die Lobby gegangen bin. Ich muss einfach sichergehen, dass keiner sie verdrahtet.
– Verdrahtet?, fragte Alan. Für eine Sprengladung?
– Es ist nichts Terroristisches, sagte Yousef. Bloß so ein Typ, der glaubt, ich vögele seine Frau.
Yousef legte den Rückwärtsgang ein und setzte zurück.
– Könnte sein, dass er versucht, mich umzubringen, sagte er. Los geht’s.
Sie verließen den Kreisel vor dem Hotel. An der Ausfahrt fuhren sie an einem wüstenfarbenen Panzerwagen mit einem aufmontierten Maschinengewehr vorbei. Ein saudischer Soldat saß daneben auf einem Liegestuhl, die Füße in ein aufblasbares Planschbecken getaucht.
– Das heißt, ich sitze in einem Auto, das explodieren könnte?
– Nein, jetzt nicht. Ich hab es ja gerade überprüft. Haben Sie doch gesehen.
– Ist das Ihr Ernst? Jemand versucht, Sie umzubringen?
– Könnte sein, sagte Yousef und bog auf die Schnellstraße, die parallel zum Roten Meer verlief. Aber sicher weiß man das erst, wenn es passiert, hab ich recht?
– Ich hab eine Stunde gewartet, um einen Fahrer zu bekommen, dessen Auto in die Luft fliegen könnte.
– Nein, nein, sagte Yousef, der jetzt abgelenkt war. Er versuchte, seinen iPod zu aktivieren, ein älteres Modell, das zwischen ihnen in der Getränkehalterung lag. Irgendetwas stimmte nicht mit der Verbindung zwischen dem iPod und der Stereoanlage des Wagens.
– Kein Grund zur Besorgnis. Ich glaube nicht, dass er weiß, wie man einen Wagen für so was verdrahtet. Er ist kein harter Bursche. Er ist bloß reich. Er müsste schon jemanden dafür engagieren.
Alan starrte Yousef an, bis der junge Mann sich klarmachte, was er da gerade gesagt hatte: Ein reicher Mann könnte nämlich durchaus jemanden dafür engagieren, den Wagen des Mannes zu verdrahten, der seine Frau vögelt.
– Scheiße, sagte Yousef und sah Alan an. Jetzt haben Sie mir aber Angst eingejagt.
Alan erwog ernsthaft, die Tür zu öffnen und sich aus dem Wagen fallen zu lassen. Das erschien ihm klüger, als mit diesem Mann zu fahren.
Derweil holte Yousef eine weitere dünne Zigarette aus einer weißen Packung und steckte sie an, spähte dabei mit zusammengekniffenen Augen auf die Straße vor ihnen. Sie fuhren an einer langen Reihe riesiger bonbonfarbener Skulpturen vorbei.
– Scheußlich, was?, sagte Yousef. Er nahm einen langen Zug, und jedwede Besorgnis wegen möglicher Auftragsmörder schien wie weggeblasen. Also, Alan. Wo kommen Sie her?
Irgendetwas an Yousefs lässigem Verhalten färbte auf Alan ab, und er hörte auf, sich Sorgen zu machen. Mit seiner Pinguinfigur und seinen dünnen Zigaretten und seinem Chevy Caprice war Yousef nicht die Sorte Mann, für die sich Meuchelmörder interessieren würden.
– Boston, sagte Alan.
– Boston. Boston, sagte Yousef und klopfte aufs Lenkrad. Ich war mal in Alabama. Ein Jahr College.
Wider besseres Wissen unterhielt Alan sich weiter mit diesem Irren.
– Sie haben in Alabama studiert? Wieso Alabama?
– Sie meinen, weil ich der einzige Araber im Umkreis von ein paar Tausend Meilen war? Ich hatte ein Stipendium für ein Jahr. Das war in Birmingham. Ziemlich anders als Boston, vermute ich?
Alan mochte Birmingham und sagte das auch. Er hatte Freunde in Birmingham.
Yousef lächelte. – Die große Vulkanstatue, was? Unheimlich.
– Stimmt. Ich finde die Statue toll, sagte Alan.
Das Jahr in Alabama erklärte Yousefs amerikanisches Englisch. Er sprach nur mit einem ganz schwachen saudischen Akzent. Er trug handgemachte Sandalen und eine Oakley-Sonnenbrille.
Sie brausten durch Dschidda, und es sah alles sehr neu aus, nicht viel anders als Los Angeles. Los Angeles mit Burkas, hatte Angie Healy mal zu ihm gesagt. Sie hatten eine Weile zusammen bei Trek gearbeitet. Er vermisste sie. Noch eine tote Frau in seinem Leben. Es waren zu viele, Freundinnen, die alte Freundinnen wurden, dann alte Freundinnen, Freundinnen, die heirateten, die ein wenig alterten, deren Kinder inzwischen erwachsen waren. Und dann waren da die Toten. Gestorben an Aneurysmen, Brustkrebs, Non-Hodgkin-Lymphomen. Es war Wahnsinn. Seine Tochter war jetzt zwanzig und würde bald dreißig sein, und bald danach setzten die Gebrechen ein wie Regen.
– Vögeln Sie denn nun die Frau von dem Typen oder nicht?, fragte Alan.
– Nein, nein. Das ist die Frau, die ich heiraten wollte. Vor gut zehn Jahren. Sie und ich waren total verliebt, aber ihr Vater …
Er blickte Alan an, um seine Reaktion so weit abzuschätzen.
– Hört sich an wie eine Seifenoper, ich weiß. Jedenfalls, ich war dem Vater nicht gut genug. Also verbietet er ihr, mich zu heiraten, bla, bla, und sie heiratet prompt einen anderen. Jetzt langweilt sie sich und simst mir andauernd. Sie schreibt mir auf Facebook, überall. Ihr Mann weiß das, und er denkt, wir haben eine Affäre. Wollen Sie was essen?
– Sie meinen, sollen wir anhalten und was essen?
– Wir könnten zu einem Lokal in der Altstadt fahren.
– Nein, ich hab gerade gefrühstückt. Wir sind spät dran, wissen Sie noch?
– Ach. Wir haben es eilig? Davon hat mir keiner was gesagt. Wir sollten nicht diese Route fahren, wenn wir spät dran sind.
Yousef wendete und gab Gas.