XII.

MAHA TRANK EINEN EISTEE.

– Ah, da sind Sie ja wieder, Mr Clay.

– Hallo, Maha. Ist Karim al-Ahmad da?

– Nein, leider nicht.

– Soll ich hier warten? Wir haben einen Termin um drei.

– Ja, ich weiß. Aber er wird es heute nicht schaffen. Es tut mir leid, aber er wird in Dschidda aufgehalten.

– Er wird den ganzen Tag in Dschidda aufgehalten?

– Ja, Sir. Aber er hat gesagt, er wird morgen hier sein. Den ganzen Tag, und Sie können sich die Uhrzeit aussuchen, wann Sie ihn treffen wollen.

– Ist denn wirklich sonst niemand hier, mit dem ich jetzt schon sprechen kann? Bloß über das WLAN und Essen, solche Dinge?

– Ich denke, Mr al-Ahmad ist Ihr bester Ansprechpartner für all diese Dinge. Und jede Uhrzeit morgen ist ihm recht. Es wird sich alles klären lassen, da bin ich sicher.

Alan ging zurück zum Zelt, wo er die drei in ihren jeweiligen Ecken mit ihren Laptops vorfand. Rachel sah sich eine DVD an, irgendwas mit Kochen, einem bärtigen Koch. Alan teilte ihnen mit, dass Mr al-Ahmad an dem Tag nicht kommen würde.

Die Fahrt zurück nach Dschidda verging schnell, die jungen Leute plauderten die ganze Zeit wie Sommercamper. Alan schaute auf die Straße, halb wach, und sein Knöchel schmerzte. Als er in sein Zimmer kam, konnte er sich nicht erinnern, ob er sich von allen verabschiedet hatte. Er erinnerte sich aber, wie er die dunkle Lobby betreten, das Chlor gerochen hatte.

Er war zu lange in der Sonne gewesen und war froh über die Dunkelheit, über die Kühle, über das Künstliche und Hässliche. Doch als die schwere Tür seines Zimmers das Ende des Tages markierte, fühlte er sich gefangen und allein. Es gab keine Bar im Hotel, keine Ablenkung, die seine Bedürfnisse befriedigen würde, welche auch immer. Es war kurz nach sechs, und er hatte nichts zu tun.

Er überlegte, einen von den drei jungen Leuten anzurufen, aber sie zum Essen einzuladen, würde nicht gehen. Wäre nicht angemessen. Er konnte keine der beiden Frauen anrufen. Lüstern. Er könnte Brad anrufen, aber er mochte Brad nicht. Falls sie alle was essen gingen und ihn einluden, würde er essen. Falls sie anriefen, würde er kommen. Doch bis sieben hatte keiner angerufen. Er bestellte den Zimmerservice und aß Hähnchenbrust mit Salat.

Er duschte. Er rieb sich den Knoten im Nacken.

Er legte sich ins Bett und hoffte auf Schlaf.

Alan konnte nicht schlafen. Er öffnete die Augen und schaltete den Fernseher ein. Es lief ein Bericht über das BP-Leck. Noch immer keine erkennbaren Fortschritte. Sie hatten einen »Top Kill« versucht, irgendwas, wobei Zement auf das Loch gekippt wurde. Alan konnte sich das nicht ansehen. Das Leck machte ihn fertig. Seit Wochen sprudelte Öl in den Ozean, und er und alle anderen konnten die ganze Zeit nur zusehen. Alan befürwortete jede extreme Methode, dem ein Ende zu bereiten. Als er von der Idee hörte, die ein Navy-Mann vorschlug, das Loch mit einer Atombombe zu schließen, dachte er, ja, ja, macht das, ihr Säcke. Hauptsache, ihr stoppt das Öl. Alle sehen euch zu.

Er schaltete den Fernseher aus.

Er blickte zur Decke. Er blickte zur Wand.

Alan dachte an Trivole.

– Mit dem Einsatz einer von vier möglichen Methoden lässt sich alles verkaufen, hatte er gesagt.

Es war neun Uhr morgens, und sie standen auf der Straße vor einem baufälligen Haus. Es war nur ein paar Blocks entfernt von dem Haus, in dem Alan aufgewachsen war, aber er hatte dieses Haus mit Rechtsneigung nie eines Blickes oder Gedankens gewürdigt.

– Das Erste, was du machen musst, ist, die Kundinnen analysieren, okay?

Trivole trug einen zweireihigen Tweedanzug. Es war Anfang September und viel zu warm für so eine Kleidung, aber er schien kein bisschen zu schwitzen. Alan sah ihn nie schwitzen.

– Jede Kundin verlangt einen speziellen Ansatz, eine spezielle Strategie, sagte Trivole. Es gibt vier. Die erste ist Geld. Der ist einfach. Appellier an ihre Sparsamkeit. Sie sparen Geld mit Fuller-Produkten, da sie ihre Investitionen schützen – ihre Holzmöbel, ihr feines Porzellan, ihre Linoleumböden. Du erkennst auf Anhieb, ob jemand praktisch ist. Siehst du ein einfaches, gepflegtes Haus, ein praktisches Kleid, eine Schürze, eine Frau, die selber kocht und putzt, wendest du die erste Strategie an.

– Die zweite ist Romantik. Dabei verkaufst du den Traum. Du machst die Fuller-Produkte zu einer ihrer Sehnsüchte. Stellst sie direkt neben die Urlaube und Jachten. »Champagner!«, sage ich gern. Mit dem Fußspray bringe ich sie dazu, einen Schuh auszuziehen, und dann sage ich: »Champagner!«

Alan begriff nicht, was das sollte. – Einfach »Champagner!«, aus heiterem Himmel?, fragte er.

– Ja, und wenn ich das sage, fühlen sie sich wie Aschenputtel.

Trivole wischte sich mit einem Seidentaschentuch über die trockene Stirn.

– Die dritte ist Selbsterhaltung. Siehst du Angst in ihren Augen, verkaufst du ihnen Selbsterhaltung. Das ist leicht. Wenn sie Angst haben, dich reinzulassen, wenn sie mit dir durchs Fenster oder so sprechen, greifst du darauf zurück. Diese Produkte halten Sie gesund, schützen vor Bazillen, Krankheiten, sagst du ihnen. Kapiert?

– Ja.

– Gut. Die letzte Strategie ist Anerkennung. Sie will das kaufen, was alle anderen kaufen. Du nimmst vier oder fünf Namen von besonders angesehenen Nachbarn, erzählst ihr, diese Leute hätten die Produkte bereits gekauft. »Ich war eben bei Mrs Gladstone, und sie hat gesagt, ich soll unbedingt als Nächstes zu Ihnen gehen.«

– Das ist alles?

– Das ist alles.

Alan wurde ein guter Vertreter, und das schnell. Er brauchte das Geld, um aus seinem Elternhaus auszuziehen, was er einen Monat später tat. Sechs Monate danach hatte er einen neuen Wagen und mehr Geld, als er ausgeben konnte. Geld, Romantik, Selbsterhaltung, Anerkennung: Er hatte diese Kategorien auf alles angewandt. Als er bei Fuller aufhörte und bei Schwinn anfing, übertrug er dieselben Lektionen auf den Fahrradverkauf. Alle Prinzipien passten: Die Räder waren praktisch (Geld); sie waren schöne, glitzernde Dinge (Romantik); sie waren sicher und langlebig (Selbsterhaltung); und sie waren Statussymbole für jede Familie (Anerkennung). Und so war er auch bei Schwinn rasch aufgestiegen, vom Einzelhandel im Süden von Illinois ins regionale Verkaufsbüro, auf einen Platz am Tisch mit den Führungskräften in Chicago, zuständig für Strategie– und Expansionsplanung. Und dann die gewerkschaftsfeindlichen Maßnahmen. Dann Ungarn, Taiwan, China, Scheidung, das hier.

Er machte den Fernseher wieder an. Irgendein Bericht über das Space Shuttle. Einen der letzten Flüge. Alan machte den Fernseher aus. Auch das wollte er nicht sehen.

Ohne zu überlegen, wählte er die Nummer seines Vaters. Internationales Ferngespräch, es würde ein Vermögen kosten. Aber das Shuttle hatte ihn an Ron denken lassen, und das hatte ihn auf den Gedanken gebracht, ihn anzurufen.

Es war ein Fehler. Er wusste, dass es ein Fehler war, sobald er das Klingeln am anderen Ende hörte.

Er stellte sich seinen Vater in seinem Farmhaus in New Hampshire vor. Als Alan ihn das letzte Mal gesehen hatte, gut ein Jahr zuvor, hatte er so kräftig gewirkt wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Sein Gesicht war frisch, seine Augen quicklebendig.

– Guck dir den Köter an, sagte Ron an dem Tag.

Sie saßen auf der Veranda, tranken Scotch, schauten Rons Hunden zu, drei an der Zahl, alle lautstark und schmuddelig. Sein Liebling war eine Art australischer Schäferhund, der ständig in Bewegung war.

– Das ist ein Köter für jedes Alter, sagte Ron.

Ron wohnte auf einer Farm nicht weit von White River Junction. Er hielt Schweine, Ziegen, Hühner und zwei Pferde, eines, das er ritt, und eines, das ein Freund bei ihm untergestellt hatte. Ron verstand nichts von Landwirtschaft, doch nachdem er in Rente gegangen und Alans Mutter gestorben war, kaufte er 120 Morgen Land in einem feuchten Tal nicht weit von der Stadt. Er klagte ständig darüber – Diese Scheißfarm bringt mich noch um –, aber allem Anschein nach hielt sie ihn am Leben.

Alan war mit der Zeit langsamer geworden, zusammengeflickt und narbig, aber sein Vater war irgendwie kräftiger geworden. Alan wünschte sich ein weniger kontroverses Verhältnis zu ihm, war das denn zu viel verlangt? Er konnte gut auf die Sticheleien verzichten. Alan, Hunger auf Gulasch? Er genoss es, ihn wegen des Ungarn-Debakels zu ärgern. Ron war Gewerkschaftler gewesen. Bei Stride Rite produzierten sie fünfzigtausend Schuhe am Tag!, sagte er gern. In Roxbury! Ron konnte gar nicht genug von dem Laden schwärmen, von den vielen Neuerungen dort. Das erste Unternehmen, das für seine Arbeitnehmer eine Kinderbetreuung zur Verfügung stellte. Später auch Seniorenbetreuung! Er hatte mit einer vollen Rente aufgehört. Aber das war, bevor das Unternehmen die Gewerkschaften abservierte und die Produktion nach Kentucky verlagerte. Das war 1992. Fünf Jahre später wurde die gesamte Produktion nach Thailand und China verlagert. Das alles machte Alans Rolle bei Schwinn für Ron noch unsympathischer. Dass Alan zum Management gehört hatte, mitgeholfen hatte, für Schwinn einen neuen, gewerkschaftsfreien Standort zu erkunden, sich mit Zulieferern in China und Taiwan getroffen hatte, nicht unwesentlich – Rons Worte – bei all dem mitgewirkt hatte, was den Untergang von Schwinn und die Entlassung der 1200 Beschäftigten zur Folge hatte, tja, das machte die Kommunikation schwierig. Die meisten Themen führten zu ihren unterschiedlichen Ansichten darüber, woran die Nation krankte, und waren daher tabu. Also sprachen sie über Hunde und Schwimmen.

Ron hatte einen kleinen See angelegt, in dem er jeden Tag schwamm, von April bis Oktober. Das Wasser war kalt und voller Algen, und Ron roch ständig danach. Der Sumpfmann, nannte Alan ihn, obwohl Ron nicht gelächelt hatte.

– Willst du mir helfen, ein Schwein zu schlachten?, hatte er gefragt.

Alan lehnte ab.

– Frischer Schinken, Junge, sagte er.

Alan wollte in die Stadt, um mal anständig essen zu gehen. Ron schauspielerte dieses ganze Farmer-Ron-Getue bis zu einem gewissen Grad. Er verstand eine Menge von französischem Essen, Wein, und jetzt zog er diese Fleisch-und-Kartoffeln-Masche ab. In der Stadt warf er Frauen lüsterne Blicke zu – Sieh dir die an! Ich wette, die hat ’ne tolle Möse.

Das alles war neu, diese Höhlenmenschnummer. Alans Mutter hätte solche Primitivitäten niemals geduldet. Aber wer war der wirkliche Ron? Vielleicht der, der er jetzt war und der er gewesen war, bevor seine Frau, Alans Mutter, ihn kultivierte, verbesserte? Er war wieder in seine ursprüngliche Form zurückgefallen.

Das Telefon hörte auf zu klingeln.

– Hallo?

– Hey, Dad.

– Hallo?

– Dad. Hier ist Alan.

– Alan? Du hörst dich an, als wärst du auf dem Mond.

– Ich bin in Saudi-Arabien.

Was hatte Alan erwartet? Erstaunen? Lob?

Schweigen am anderen Ende.

– Ich hab gerade an das Shuttle gedacht, sagte Alan. Den Ausflug, den wir gemacht haben, um uns den Start live anzusehen.

– Was machst du in Saudi-Arabien?

Es klang wie eine Eröffnung, eine Aufforderung, ein bisschen anzugeben, also wagte Alan einen Versuch.

– Na ja, die Sache ist ziemlich interessant, Dad. Ich bin hier mit einem Team von Reliant, um König Abdullah ein IT-System zu verkaufen. Wir haben so eine fantastische Telekonferenzanlage, und wir machen für den König persönlich eine Präsentation, ein dreidimensionales holografisches Meeting. Einer von unseren Kollegen ist in London, aber es wird aussehen, als wäre er im Raum, mit Abdullah –

Schweigen.

Dann: – Weißt du, was ich mir gerade im Fernsehen anschaue, Alan?

– Nein. Was denn?

– Ich schau mir einen Bericht darüber an, wie eine riesige neue Brücke für Oakland, Kalifornien, in China gebaut wird. Kannst du dir das vorstellen? Jetzt bauen die schon unsere gottverdammten Brücken, Alan. Ich muss sagen, alles andere hab ich kommen sehen. Als sie Stride Rite dichtgemacht haben, hab ich das kommen sehen. Als ihr angefangen habt, die Fahrräder nach Taiwan auszulagern, hab ich das kommen sehen. Ich hab alles andere kommen sehen – Spielzeug, Elektronik, Möbel. Macht Sinn, wenn du so ein mieser, blutrünstiger Manager bist, der nur drauf aus ist, für seinen eigenen Profit die Wirtschaft zu unterhöhlen. All das macht Sinn. Liegt in der Natur der Sache. Aber die Brücken hab ich nicht kommen sehen. Großer Gott, wir lassen von anderen unsere Brücken bauen. Und jetzt bist du in Saudi-Arabien und verkaufst den Pharaonen ein Hologramm. Das schießt den Vogel ab!

Alan überlegte aufzulegen. Wieso konnte er das nicht?

Er ging auf den Balkon und schaute übers Meer, sah ein paar winzige Lichter in der Ferne. Die Luft war so warm.

Ron sprach noch immer. – Jeden Tag, Alan, in ganz Asien, verlassen Hunderte Containerschiffe ihre Häfen, vollgestopft mit allen möglichen Gebrauchsgütern. Dreidimensionaler geht’s nicht, Alan. Das sind reale Dinge. Die stellen da drüben reale Dinge her, und wir machen Webseiten und Hologramme. Tag für Tag machen unsere Leute ihre Webseiten und Hologramme, während sie auf Stühlen made in China sitzen, an Computern made in China arbeiten, über Brücken made in China fahren. Hört sich das für dich nachhaltig an, Alan?

Alan rieb sich den Knoten im Nacken.

– Alan, bist du noch dran?

Herrje, er könnte behaupten, sie wären unterbrochen worden. Alan drückte eine Taste an seinem Telefon und legte auf.