XX.

EIN WUST VON ERINNERUNGEN UND OFFENBARUNGEN stürmte den ganzen nächsten Morgen auf Alan ein, während er duschte und sich anzog und die Arab News las. Was stand da neben dem Waschbecken? Eine weitere Flasche mit illegalem Alkohol. Hanne hatte ihn mit einer nach Hause geschickt. Hanne lag was an ihm, dem Idioten. Er dachte an den Kuss auf ihren Kopf. Schrecklich, so etwas zu tun. Unausgeschlafen und mit einem Fuß noch immer in der nächtlichen Welt der dänischen Botschaft, wusste er, dass er an diesem Tag reizbar sein würde. Er trank seinen Kaffee und entdeckte beim Durchblättern der Zeitung ein kleines Foto von König Abdullah mit der Bildunterschrift, dass er zurück im Königreich war.

Damit war heute also der erste Tag, an dem der König KAEC tatsächlich besuchen könnte. So unwahrscheinlich es auch war, dass er in die Stadt kommen würde, und obwohl Alan sich fühlte, als hätte er die Nacht im Kofferraum eines Autos verbracht, mussten er und das Reliant-Team pünktlich sein, bereit und präsentabel.

– Yousef?

– Ich kann gar nicht glauben, dass Sie wach sind. Es ist noch nicht mal zehn. Moment. Es ist erst sieben!

– Möchten Sie nach KAEC fahren?

– Wann? Jetzt?

– Ich wäre gern um halb neun da.

– Sagen wir halb zehn. Vor neun ist da sowieso keiner. Und ich kann Sie vorher zu einem Arzt bringen, damit der sich das Ding in Ihrem Nacken ansieht.

Alan traf Yousef am Kreisel vor dem Hotel und stieg in den Caprice.

– Ihr Schlafrhythmus macht mir Sorgen.

– Ich hatte eine seltsame Nacht.

Alan wusste, dass er die Party in der Botschaft nicht erwähnen sollte, aber er hatte das unbändige Verlangen, Yousef davon zu erzählen. Yousef würde es lustig finden und wäre entweder erstaunt, dass sie überhaupt stattgefunden hatte, oder er würde sagen: Ach, solche Partys finden andauernd statt. Es wäre auf jeden Fall befriedigend. Aber er hatte all den Leuten, unter anderem auch dem Mann im Raumanzug, sein Versprechen gegeben, und er hatte in seinem ganzen langen Leben noch nie so ein Versprechen gebrochen, egal, wie klein.

Sie kamen an dem Mann auf dem Panzerwagen mit dem Sonnenschirm vorbei, und diesmal bog Yousef rechts ab, nicht links.

– Wo ist der Arzt?

– Ein paar Meilen. Nour kennt die Frau, die am Empfang arbeitet.

– Danke, dass Sie das machen, sagte Alan.

– Kein Problem, sagte Yousef und steckte sich eine Zigarette an.

– Ich hab gestern Abend einen guten Witz gehört.

– Das freut mich.

– Wissen Sie, was die Fremdenlegion ist?

– Klar. Wie die Französische Fremdenlegion?

– Genau. Also, ein Hauptmann in der Fremdenlegion wird zu einem Außenposten in der Wüste versetzt. Auf seiner Orientierungstour sieht er ein total erschöpftes, dreckiges Kamel, das hinter der Baracke seiner Soldaten angebunden ist. Er fragt den Unteroffizier, der ihn rumführt: »He, wofür ist das Kamel?« Der Unteroffizier sagt: »Nun ja, Sir, wir sind hier mitten in der Pampa, und die Männer haben schon mal ein natürliches sexuelles Verlangen, und für den Fall haben wir das Kamel.« Der Hauptmann ist sprachlos, aber er ist neu dort und will sich nicht gleich unbeliebt machen. Also sagt er: »Na, wenn das gut für die Moral ist, dann von mir aus.« Er tritt also seinen Dienst an, und nach etwa sechs Monaten hält er es nicht länger aus. Er sagt zu dem Unteroffizier: »Bringen Sie das Kamel rein!« Der Unteroffizier zuckt die Achseln und führt das Kamel in die Unterkunft des Hauptmanns. Der Hauptmann holt einen Schemel und stellt sich drauf, lässt die Hose runter und hat heftigen Sex mit dem Kamel. Als er fertig ist, steigt er vom Schemel runter, knöpft sich die Hose zu und fragt den Unteroffizier: »Machen die Männer das auch so?« Der Unteroffizier blickt auf seine Schuhe. Er weiß nicht, was er sagen soll. Schließlich sagt er: »Na ja, Sir, normalerweise benutzen sie das Kamel nur, um in die Stadt zu reiten und sich dort eine Frau zu suchen.«

– Oh Gott! Yousef lachte, schlug auf das Lenkrad ein. Zu Anfang hatte ich so meine Bedenken – ich dachte, das wird so ein antiarabischer Witz. Sie wissen schon, die Kamelfickerei und so. Aber der ist gut. Mein Lieblingswitz bisher. Nour wird ihn lieben.

Yousef fuhr auf ein großes Krankenhaus zu, umringt von einer hohen Mauer. Er hielt am Tor.

– Das Tor ist nur für mich ein Problem, nicht für Sie.

Yousef begrüßte den Wachmann, und wie immer deutete er mit wiederholtem Nicken auf Alan, wobei er mehrmals das Wort Amriika benutzte, bis er durchgewinkt wurde.

Sie parkten und gingen in das Krankenhaus, und bald darauf saß Alan in einem avocadofarben gestrichenen Raum. Die Zeitschriften waren eine Mischung aus amerikanischen und saudischen. Nach kurzer Zeit kam eine Krankenschwester herein, allein, und nahm seinen Puls und den Blutdruck. Sie ging wieder und sagte, die Ärztin würde bald kommen.

Alan blickte zu Boden, überlegte, wie er seine Entscheidung erklären sollte, mit einem Steakmesser eine OP an sich selbst vorzunehmen. Er sah keinen Sinn darin zu lügen. Nur ein Tier konnte diese Wunde verursacht haben.

Ein Schatten verdunkelte den Boden unter ihm, und als Alan aufschaute, sah er eine kleine Frau in einem weißen Kittel.

– Mr Clay?

– Ja.

– Ich bin Doktor Hakem.

Sie hielt ihm die Hand hin. Er schüttelte sie. Sie konnte nicht viel größer als eins fünfzig sein. Sie trug ihren Hidschab eng, und er bedeckte ihr Haar bis auf eine einzelne Strähne, die entwichen war und ihr verwegen über die Wange wehte. Ihre Augen schienen fast ihr ganzes Gesicht einzunehmen und füllten den Raum. Wieder war sein Reiseführer fehlerhaft gewesen. Der hatte unmissverständlich erklärt, dass es zwar sehr viele weibliche Ärzte im Königreich gab, dass sie aber Abajas trugen und selten, wenn überhaupt, Männer behandelten. Nur in absoluten Notfällen, wenn es um Leben oder Tod ging und kein männlicher Arzt in der Nähe war. Vielleicht, dachte er, war ihre Gegenwart der Beweis dafür, dass er todkrank war.

– Sie haben eine Geschwulst auf dem Rücken?

– Genau genommen im Nacken. Ich weiß nicht genau, ob …

Während er sprach, trat sie näher, huschte hinter ihn, und ihre Hände waren an ihm, ehe er seinen Satz beenden konnte. Sie umfasste seine Wunde mit den Fingern. Seine Fassung brach zusammen.

– Autsch, sagte sie. Haben Sie etwas damit angestellt?

Ihr Akzent war nicht direkt saudisch. Er schien sich mit einem halben Dutzend anderer zu vermischen, von Französisch bis Russisch.

Er entschied sich, nicht zu lügen. – Ich hab sie ein bisschen untersucht.

– Womit?

– Einem Messer.

– War das ein Selbstmordversuch?

Alan lachte. Er konnte nicht genau sagen, ob sie ihn auf den Arm nahm.

– Nein, sagte er.

– Nehmen Sie irgendwelche Medikamente? Prozac oder –

– Ich habe keine Depressionen. Ich war neugierig. Ich wollte bloß sehen, ob –

– Es sieht aus, als wäre es eine gezackte Klinge gewesen.

– War es auch.

– Haben Sie sie sterilisiert?

– Ich hab’s versucht.

– Hm. Sie haben eine leichte Infektion.

Sie trat wieder vor ihn, um ihm in die Augen zu sehen. Ihr Gesicht war herzförmig, ihr Kinn klein, ihre Lippen üppig und rosa. Es kam ihm falsch vor, sie anzusehen. Er wollte zu viel von ihr.

– Also, es ist bloß ein Lipom, vermutlich.

– Und das ist nicht schlimm?

Er blickte auf ihr Namensschildchen: Dr. Sahra Hakem.

– Nein, es ist bloß eine Geschwulst. Wie eine Zyste.

– Und es ist …

– Gutartig.

– Sind Sie sicher?

Während er jetzt auf ihre Hände schaute, klein und mit kurzen, abgebissenen Fingernägeln, fragte er nach der Nähe der Geschwulst zu seinem Rückgrat, der Wahrscheinlichkeit, dass sie der Grund für seine Unbeholfenheit war, seine Trägheit, seine Antriebsschwäche, all die anderen Wehwehchen und Schwächen, die er gespürt hatte.

– Nein. Ich sehe da keinerlei Zusammenhang.

– Ich möchte bloß ganz sicher sein. Es würde so manches erklären. Er zählte seine Beschwerden auf, seine vielen diffusen Sorgen.

– Und Sie haben das Gefühl, dieser Knoten ist die Ursache für das alles? Sie sah ihn an, studierte ihn, mit einem warmen Lächeln.

– Ist das unwahrscheinlich?

– Ich würde sagen, es ist unwahrscheinlich.

– Ich muss einfach von jemandem hören, dass mir nichts fehlt.

– Ihnen fehlt nichts.

– Aber Sie waren noch nicht da drin.

– Nein, aber ich weiß, was es ist.

Als wollte sie seine Besorgnis würdigen, sah sie sich den Knoten noch einmal an, betastete ihn, schien ihn mit den Fingern zu messen.

– Es kann wirklich nichts anderes sein als ein Lipom.

– Okay, sagte er.

Sie trat wieder vor ihn und setzte sich dann. Sie blickte ihn direkt an, die Augen weit offen, und sah ihm eindringlich ins Gesicht.

– Das hat Ihnen wirklich Sorgen gemacht, was?

Er räusperte sich. Irgendwas saß ihm plötzlich im Hals.

– Ich mache mir überhaupt viele Sorgen, sagte er.

Sie stand auf und notierte sich etwas auf dem Krankenblatt.

Alan hatte plötzlich einen Gedanken, der zuvor nicht hochgekommen war, aber schon die ganze Zeit da gewesen sein musste: Falls der Knoten Krebs war und er bald sterben würde, dann bräuchte er sich keine Sorgen mehr zu machen. Finanzieller Ruin wäre keine Sorge mehr. Kits Studiengebühren und Zukunft wären keine Sorgen mehr. Bestimmt wurden Studiengebühren erlassen, wenn Väter starben.

Dr. Hakem nahm Verbandsmaterial aus einer Schublade und widmete sich wieder seinem Nacken. Sie stand hinter ihm, und er atmete tief ein. Er hoffte auf einen luftigen, sonnigen Duft, aber ihrer war etwas anderes. Er konnte ihn nicht einordnen. Er dachte an Bäume, Erde. Der Duft war moschusartig, satt. Er dachte an einen Wald nach Regen, einen Hauch von Wildblumen.

– Ich hatte genau das Gleiche vor ein paar Jahren, sagte sie. Ein Engegefühl in der Brust. Wie eine Panikattacke, ein Gefühl wie bei einem Herzinfarkt. Und ich war sicher, nach einem EKG und so weiter würde ich erfahren, dass ich ein Herzgeräusch hätte oder Rhythmusstörungen, etwas, das meine Erschöpfung und alles erklären würde.

Sie gab etwas Salbe auf einen Wundverband, klebte ihn auf seinen Nacken und kehrte zu dem Hocker vor ihm zurück.

– Und?, fragte er.

– Und es war nichts.

– Schade, sagte Alan, und sie lachten beide.

– Wir haben unsere blöde gute Gesundheit am Hals, sagte sie, und er lachte lauter. Aber im Ernst, ich kann verstehen, dass Sie besorgt waren. Die Position der Geschwulst muss einem ja Sorgen machen. Also werden wir sie entfernen, und dann wissen wir es ganz genau. Was meinen Sie?

Er blickte noch immer zur Wand. Er wusste nicht, ob er sich zu ihr umdrehen sollte. Er warf einen Blick in ihre Richtung und sah, dass sie ihn direkt anschaute, die Augen unverwandt, riesig. Sie waren braun, mit grünen und grauen und goldenen Speichen. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie konnte irgendwo zwischen vierzig und fünfzig sein, vielleicht ein bisschen älter. Unfähig, ihrem ruhigen Blick standzuhalten, schaute er nach unten. Ihre Schuhe waren modisch, mit niedrigen Absätzen und Riemchen. Er wandte sich wieder ab, konzentrierte sich auf die Wand, auf ein Bündel Kabel dort, verschlungen wie Arterien, die den Raum verließen und den Flur hinunterstrebten.

– Ich kann die OP in etwa einer Woche machen. Passt Ihnen das?

Alan hatte mit großer Inbrunst gehofft, in einer Woche aus diesem Land verschwunden zu sein, doch er stimmte automatisch zu. Sie vereinbarten einen Termin, und sie stand auf.

– Dann bis bald, Alan.

– Danke.

– Keine Sorge.

– Okay.

– War nett, Sie kennenzulernen.

– Ganz meinerseits.

Im Empfangsbereich tigerte Yousef auf und ab wie ein werdender Vater. Als er Alan sah, wurden seine Augen groß.

– Und was ist es?

– Gutartig. Es ist harmlos. Ein Lipom.

– Es ist kein Krebs.

– Sie meint, nein.

Yousef schüttelte Alan die Hand. – Ich bin sehr froh.

– Ich auch.

– Abdullah ist in Riad. Hab ich im Radio gehört.

Alan wusste nicht, ob er erleichtert war oder nicht.

Sie verließen das Gebäude.

– Und Sie hatten eine Ärztin? Wo kam sie her?

– Keine Ahnung.

– Saudi-Arabien?

– Ich hab sie nicht gefragt.

– Araberin?

– Ich glaube, ja. Genau kann ich das nicht sagen.

– Aber wahrscheinlich eine Araberin?

– Ich würde schätzen, ja.

Yousef fand das faszinierend. Es gab viele Ärztinnen, erklärte er, aber trotzdem grenzte es an ein Wunder, dass Alan gleich beim ersten Mal an eine geraten war.

– War sie verschleiert?

– Bloß ein Hidschab.

– Hat sie Sie allein behandelt?

– Ja, hat sie.

Sie erreichten den Wagen, wo Yousef seine Schlüssel wirbeln ließ. Er wirkte erfreut.

– Interessant, interessant.