XI.

ALS ALAN AUS DEM ZELT TRAT, um zur Black Box zu gehen, überfiel ihn die Hitze wie ein Raubtier. Er folgte der Promenade bis zu dem Glasgebäude, umschiffte noch unfertige Stellen, Sandhaufen oder Steinstapel, Gerätschaften. Er sprang über eine Palme, die darauf wartete, eingepflanzt zu werden, überquerte die Straße und stand vor dem Bürogebäude. Es waren etwa vierzig Stufen bis hinauf zur Eingangstür, und als er oben ankam, hatte er sein Hemd durchgeschwitzt.

Die Lobby war hell, poliert, klimatisiert, der Boden aus hellem Holz. Es sah aus wie ein skandinavischer Flughafen.

– Kann ich Ihnen helfen?

Eine junge Frau, die ein lockeres Kopftuch trug, saß zu seiner Rechten an einem Halbmondschreibtisch aus schwarzem Marmor.

– Hallo, sagte Alan. Wie ist Ihr Name?

– Mein Name ist Maha, sagte sie. Schwarze Augen, Adlernase.

– Hi, Maha. Mein Name ist Alan Clay von Reliant Systems. Ich habe um drei Uhr einen Termin mit Karim al-Ahmad und –

– Oh, Sie sind zu früh. Es ist erst kurz nach zwei.

– Ja, ich weiß. Aber ich bin bei Reliant, und wir sind da draußen in dem Zelt am Strand, und wir kriegen kein WLAN-Signal, das wir aber für unsere Präsentation unbedingt brauchen.

– Oh, über das WLAN da unten weiß ich nichts. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie in dem Zelt ein WLAN-Signal haben.

– Sehen Sie, das ist das Problem. Gibt es jemanden, mit dem ich das besprechen kann?

Maha nickte energisch. – Ja, ich denke, das wäre Mr al-Ahmad. Er ist zuständig für die Anbieter, die im Zelt präsentieren.

– Wunderbar. Ist er da?

– Nein, leider nicht. Er kommt vermutlich erst kurz vor Ihrem Termin. Er ist die meiste Zeit in Dschidda.

Jede weitere Diskussion erübrigte sich. Bis zu Alans Treffen mit al-Ahmad war es nur noch eine Stunde.

– Danke, Maha, sagte er und ging.

Aber er konnte nicht zurück zum Zelt gehen. Er hatte keine Neuigkeiten für die jungen Leute, und ihm kam der Gedanke, wenn er es schaffte, sich bis zu dem Treffen von ihnen fernzuhalten, dass es dann für sie so aussähe, als hätte er die ganze Zeit mit al-Ahmad ein ausführliches Gespräch gehabt, in dem alle Probleme gelöst worden wären.

Kaum war er wieder in die Hitze und das Licht getreten, fiel ihm das Essen ein. Er hatte nicht nach dem Essen gefragt. Aber er konnte jetzt nicht zurück in die Black Box. Es würde jämmerlich wirken, dieser schwitzende Mann mit seinen lästigen Fragen, und dann hatte er auch noch vergessen, ein so zentrales Problem wie das Essen anzusprechen. Nein, er würde all die Fragen um drei Uhr stellen. Bis dahin würden die jungen Leute durchhalten müssen.

Er ging die Promenade hinunter, ein geschwungenes Muster aus Ziegelsteinintarsien, und dachte über alles nach. Er war vierundfünfzig Jahre alt. Er trug ein weißes Hemd und eine Kakihose und ging an etwas entlang, das eines Tages eine Strandpromenade sein könnte. Er hatte vorhin sein Team allein gelassen, drei junge Leute, deren Aufgabe es war, eine holografische Kommunikationstechnologie aufzubauen und einem König vorzuführen. Aber es war kein König da, und sie waren in einem Zelt, allein, und es war nicht abzusehen, wann irgendwas von dem in Ordnung gebracht werden würde.

Er stolperte nach vorn. Er war mit dem Fuß in ein Loch getreten, wo noch keine Ziegelsteine verlegt waren. Er fand das Gleichgewicht wieder, aber er war mit dem Fuß umgeknickt, und der Schmerz war heftig. Er stand da und versuchte, den Schmerz abzuschütteln.

Sein ganzer Körper war von seinen Unfällen in den letzten fünf Jahren mit Narben übersät. Er war linkisch geworden. Er stieß sich den Kopf an Küchenschränken. Quetschte sich die Hände in Autotüren. Er war auf einem vereisten Parkplatz gestürzt und monatelang gegangen wie ein Mann aus Holz. Er war nicht mehr elegant. Irgendwer hatte ihn mal so bezeichnet, elegant, vor Jahrzehnten. Es war Sommer gewesen, ein warmer Wind, und er hatte getanzt. Die Frau war älter, eine Fremde, aber das Wort hatte sich in ihm eingenistet, hatte ihm Trost gegeben. Hatte es etwas zu bedeuten, dass eine alte Frau ihn einmal elegant gefunden hatte?

Er dachte an Joe Trivole. An ihrem ersten gemeinsamen Tag, als sie sich der ersten Tür näherten, hatte er Alan gesagt, er solle die Frau im Haus wissen lassen, dass sie da waren. Alan hatte instinktiv die Hand nach der Klingel ausgestreckt.

– Nein, nein, sagte Trivole und klopfte dann an die Tür, einen schnellen und fröhlichen melodischen Riff. Er wandte sich an Alan. Ein Fremder klingelt, ein Freund klopft, sagte er. Die Tür ging auf.

Eine Frau stand hinter dem Fliegengitter, mit verwirrter Miene. Sie war um die fünfzig, wildes graues Haar, Brille, die an einer Kupferkette hing. Alan blickte Trivole an, der grinste, als wäre er zufällig seiner Lieblingsgrundschullehrerin in die Arme gelaufen.

– Hallo! Wie geht es Ihnen heute?

– Mir geht es gut. Wer sind Sie?, fragte sie.

– Wir sind Vertreter der Fuller Brush Company, mit Sitz in Hartford, Connecticut. Haben Sie von Fuller Brush gehört?

Die Frau war amüsiert. – Natürlich. Aber ich habe seit Jahren keinen von euch Jungs mehr gesehen. Ihr seid also noch immer unterwegs, hä?

– Und ob wir das sind, Ma’am. Und ich freue mich, dass Sie uns an einem so wundervollen Tag wie heute ein paar Sekunden Ihrer kostbaren Zeit schenken.

Trivole drehte sich um und ließ den Blick über den Vorgarten, die Bäume, den blauen Himmel über ihnen gleiten. Und dann wandte er sich wieder der Tür zu und fing an, sich die Füße abzuputzen. Instinktiv trat die Frau ein paar Schritte zurück und öffnete die Tür weiter. Sie hatte Trivole und Alan nicht hereingebeten, machte ihnen aber jetzt Platz – einfach deshalb, weil Trivole angefangen hatte, sich die Füße abzuputzen. Plötzlich hatte Alan das Gefühl, als würde er einem Hypnotiseur oder Zauberer zusehen – dass es Menschen auf der Welt gab, für die die Welt und ihre Menschen nur dazu da waren, sie zu bezaubern.

Alan ging den provisorischen Fußweg weiter hinunter. Er näherte sich dem rosa Apartmenthaus. Aus der Nähe hatte es Ähnlichkeit mit etwas, das er einige Hundert Male an verschiedenen Küsten in Florida gesehen hatte. Es war gesichtslos, gewaltig; seine breite, flache Fassade blickte mit dumpfer Abneigung zum Meer. In dem Gebäude waren gut und gern dreihundert Einheiten.

Als er in die Fenster schaute, sah er etwas Einleuchtendes. Das Erdgeschoss war für Geschäfte und Gastronomie gebaut worden, und einige zukünftige Mieter hatten bereits ihr Revier abgesteckt. Pizzeria Uno. Wolfgang Puck. Vielleicht würden hier irgendwann Leute essen und lachen und lebendig wirken.

Er könnte das noch immer schaffen. Er dachte an sein silbernes Fahrrad, den Prototypen, den er hatte bauen lassen. Das Rad war so schön. Alles war Silber und Chrom, sogar die Ritzel, sogar der Sattel. Hatte irgendwer je ein schöneres Objekt geschaffen? Es war vom Weltraum aus zu sehen, wie es hell und herausfordernd strahlte.

Er hatte Kit mitgenommen und ihr den Prototypen gezeigt.

– Das hast du gebaut?, fragte sie.

– Na ja, ich hab’s bauen lassen. Ich hab beim Entwurf mitgeholfen.

– Es ist toll, sagte sie. Kannst du es fahren?

– Jeder kann es fahren.

Sie berührte es, trat zurück, sah es sich genau an, beurteilte es noch einmal.

– Das ist sehr gut, Dad.

Sobald er wieder im Hotel war, würde er Kit einen Brief schreiben. Sie hatte ihm ein paar Tage zuvor einen ellenlangen Brief geschrieben, sechs Seiten in ihrer säuberlichen Handschrift, in denen sie überwiegend gegen ihre Mutter Ruby wetterte, erklärte, dass sie nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Jetzt sah Alan sich in der merkwürdigen Position, eine Frau verteidigen zu müssen, die ihn so oft und so rücksichtslos überrollt hatte, dass er sich glücklich schätzen konnte, auf den ersten Blick noch unversehrt auszusehen. Kits Brief war denunzierend und endgültig, ein Dokument, das das Ende der Beziehung zu ihrer Mutter markierte, rechtfertigte, zelebrierte.

Alan konnte das nicht zulassen. Er musste den Schaden reparieren. Alan wollte nicht alleinerziehend sein. Und er fürchtete – besser gesagt, er wusste –, dass Kit, wenn sie ihre Mutter untauglich finden konnte, mit den gleichen Bewertungsmaßstäben auch Alan inakzeptabel finden würde. Er musste eine Grenze ziehen. Er musste Ruby unterstützen.

Er und Kit schrieben sich seit Jahren Briefe. Den ersten schrieb er, nachdem Ruby betrunken einen Autounfall gebaut hatte. Er wollte das alles für Kit in einen größeren Zusammenhang bringen. Netter Brief, Dad, hatte sie nach dem ersten gesagt. Seitdem brachte Alan seine Gedanken für Kit zu Papier, Briefe von drei oder vier Seiten, und sie zeigten Wirkung. Sie las sie erneut in Zeiten des Zweifels, hatte sie ihm mal gesagt. Die Briefe linderten ihre Verbitterung, beruhigten sie in zahlreichen Krisensituationen. Normalerweise wollte sie mit ihrer Mutter nichts mehr zu tun haben, jeden Kontakt zu ihr abbrechen. Sie waren grundsätzlich verschieden, das lag jetzt auf der Hand, weil Kit mehr von Alans Behäbigkeit – Ruby würde sagen Spießigkeit – hatte; jedenfalls war Kit die dauernden Dramen satt, war erschöpft von den um Klärung ringenden Grundsatzgesprächen, die Ruby jedes Mal in Angriff nahm, wenn sie miteinander redeten.

Zunächst jedoch brauchte Kit Strategien, um das Chaos abzuriegeln. Um Kontakt zu begrenzen. Alan war erst vor Kurzem auf eine Idee gekommen, wie das machbar wäre. Die Lösung hieß E-Mails. Er und Ruby hatten vereinbart, ihre Kommunikation auf Nachrichten in Sachen Kit zu beschränken, und keine über drei Zeilen. Es hatte funktioniert. Alan hatte seit zwei Jahren nicht mehr mit Ruby telefoniert, und die Kampfpause hatte seine Nerven wieder gestärkt, seiner Psyche Erholung verschafft. Er zuckte nicht mehr zusammen, wenn er laute Stimmen hörte.

– Alan?

Er drehte sich um. Es war Brad. Alan hatte sich erschreckt, aber er gab sich ruhig.

– Wie läuft es bei euch?, fragte er.

– Gut, sagte Brad. Aber es ist kurz vor drei. Gehen Sie zum Büro? Er reckte das Kinn über die Schulter, in Richtung Black Box.

Alan sah auf seine Uhr. Es war 14.52 Uhr.

– Klar, sagte Alan. Bin bloß noch mal meine Strategie durchgegangen.

Er folgte Brad zurück über die Promenade.

– Keine Sorge wegen des Essens, sagte Brad. Rachel hatte ein paar Cracker in der Tasche. Wir sind also versorgt.

Leichter Sarkasmus. Er mochte Brad nicht.

Als sie am Zelt vorbeikamen, blieb Brad stehen. – Viel Glück, sagte er. Sein Gesicht war voller Sorge und Verwunderung. In diesem Moment wusste Alan, wie es sein würde, Jahrzehnte später, wenn er gebrechlich wäre, außerstande, für sich selbst zu sorgen, wenn Kit zum ersten Mal mitkriegte, wie er sich in die Hose machte und sabberte. Dann würde sie ihn genauso ansehen, wie Brad ihn jetzt ansah – mit dem Blick auf einen Menschen, der mehr Last als Segen war, mehr Schaden als Nutzen, irrelevant, überflüssig für den Fortgang der Welt.