XXXIII.

DIE DÄMMERUNG hatte die weißen Wände des Hauses blau gefärbt, die rosa Vorhänge violett. Das Meer draußen war ruhelos und dunkel.

Alan und Zahra saßen am Küchentisch und tranken Weißwein. Er hatte die Datteln aufgegessen.

– Ich muss für ein paar Wochen nach Paris, sagte sie.

Alan war darauf vorbereitet.

– Was meinst du, wie lang du noch in Saudi-Arabien bist?, fragte sie.

Er wusste es nicht.

Sie tranken die Flasche aus und öffneten die nächste. Sie waren so in die Welt verliebt und so restlos von ihr enttäuscht, dass der Genuss einer weiteren Flasche, während sie am Küchentisch saßen, die nächstliegende Art war, dem Ganzen Rechnung zu tragen.

Zahra füllte sein Glas neu.

Es kam Alan so vor, als würde Zahra darauf warten, dass er ging. Aber er war mit ihrem Fahrer gekommen und konnte nur verschwinden, wenn sie ihn wegschickte.

– Darf ich dir eine Geschichte erzählen?, fragte er.

– Gern, sagte sie.

– Ich hab eine Geschichte für deinen Sohn. Wie heißt er noch mal?

– Mustafa.

– Mustafa, gut. Ein guter Name.

Alan war betrunken und wollte, dass Zahra das wusste.

– Das ist eine gute Geschichte für Mustafa.

– Das freut mich. Soll ich mir Notizen machen?

– Nicht nötig. Das Entscheidende behältst du.

– Ich will’s versuchen.

– Okay. Mein Vater und ich sind ein paarmal zusammen campen gegangen.

– Ach, schon wieder campen.

– Es geht nicht ums Campen. Bitte hör zu.

– Ich höre.

Er schenkte ihnen beiden nach. Er konnte kaum richtig sehen, aber er fühlte sich sehr stark.

– Ich war etwa zehn, zwölf. Und bei diesem Mal ging es rauf nach New Hampshire. Wir fuhren in irgendeinen Nationalpark. Bloß Wald, so weit das Auge reicht. Und wir parkten und stiegen aus und gingen in den Wald hinein. Mindestens vier Stunden lang. Die letzten drei Stunden trafen wir keine Menschenseele mehr. Wir waren sozusagen nicht mehr auf der Karte. Das war am frühen Morgen. Wir waren bei Sonnenaufgang losgegangen. Wir hatten Schneeschuhe dabei, und die benutzten wir, wenn wir in tiefere Verwehungen gerieten. Das Gehen war unglaublich anstrengend. Immer wieder machten wir Rast, um etwas zu trinken und zu essen. Wir aßen Trockenfleisch und Nüsse, so Sachen. Und dann marschierten wir weiter den Hang rauf. Schon gegen drei Uhr nachmittags begann die Sonne unterzugehen, und wir hielten an. Ringsum sahen wir nirgends irgendwelche Anzeichen von Zivilisation. Ich nahm an, dass wir wieder nach unten gehen würden. Es wurde kalt, und es würde um die zehn Grad minus werden. Und was wir anhatten, würde uns nicht warm genug halten.

– Was hat er sich dabei gedacht? Hattet ihr Zelte? Zahra blickte entsetzt.

– Das hab ich ihn auch gefragt. »Haben wir ein Zelt?« Ich dachte, er hätte so was wie einen Plan. Aber er tat so, als wäre ihm unsere Lage gerade erst klar geworden. Dass wir es nicht mehr rechtzeitig vor der Dunkelheit zurückschaffen würden und dass wir in der Nacht steif frieren würden. Ganz zu schweigen von der Aussicht auf Wölfe, Bären.

– Wölfe und Bären?, fragte sie. Ihr Blick war skeptisch.

– Glaub mir.

– Bleibt mir wohl nichts anderes übrig.

– Er sagte also zu mir: »Was sollen wir jetzt machen?« Und da wurde mir klar, dass das eine Art Feuerprobe sein sollte. Irgendwas in seinen Augen stellte mich auf die Probe. Also dachte ich an den ganzen Pfadfinderkram, den ich gelernt hatte, und sagte: »Wir bauen uns einen Unterschlupf.« Und genau das hatte ihm vorgeschwebt. Er macht seinen Rucksack auf und holt eine Axt und ein Stück Seil heraus. Er will, dass wir uns einen Unterschlupf aus Stämmen machen, wie bei einem Floß zusammengebunden.

– Oh nein.

– »Was glaubst, wie viel Zeit uns bleibt?«, fragt er und meint, bevor die Sonne untergeht und es anfängt zu frieren. »Etwa zwei Stunden«, sage ich. »Damit könntest du recht haben. Also sollten wir uns beeilen«, sagt er.

– Er war ein harter Bursche, sagte Zahra.

– Er wird gern für einen gehalten. Also fingen wir an. Einer von uns hackte, der andere band zusammen, immer abwechselnd. Wir banden zwei Paletten aus je rund zwanzig dünnen Birkenstämmen zusammen. Nachdem wir das geschafft hatten, räumten wir ein großes Stück Schnee frei und bauten ein ziemlich ordentliches Dach auf. Wir holten Reisig von den Kiefern und legten den Boden damit aus.

– Klingt gemütlich.

– Es war erstaunlich gemütlich. Dann bauten wir eine Wand um unseren Unterschlupf. Einen Meter hoch, ringsum. Als Windschutz. Wir packten auch Schnee aufs Dach, dreißig Zentimeter dick, als Isolierung.

– Und das fängt nicht an zu tropfen?

– Nicht bei minus zehn Grad. Das war die beste Isolierung, die wir hatten.

– Hattet ihr Schlafsäcke?

– Nein, hatten wir nicht.

– Der Mann ist wahnsinnig.

– Vielleicht. Dann fragte er: »Junge, was brauchen wir jetzt?« Ich wusste es. Wir brauchten Nadel und Faden oder Klebeband oder so. Also sag ich ihm das, und, schwups, holt er eine Rolle Klebeband hervor.

– Wofür das?

– Um aus unserer Kleidung einen Schlafsack zu machen.

– Das ist ein Witz.

– Nein, kein Witz. Wir haben unsere Jacken zerschnitten und so zusammengeklebt, dass sie einen großen, weiten Schlafsack ergaben. Und dann haben wir in unserer langen Unterwäsche darin geschlafen.

– Ihr habt euch den Schlafsack geteilt.

– Ja. Und ich muss sagen, als wir so richtig drinlagen, war es sehr warm.

– Hattet ihr kein Feuer?

– Nein, kein Feuer. Nur einander.

– Und am Morgen?

– Haben wir die Jacken wieder zusammengeklebt und sind nach Hause.

– Ihr habt euch also selbst gerettet, indem ihr etwas gebaut habt. Schon klar. Aber er hätte euch beide dabei fast umgebracht.

– Kann sein, sagte Alan und lachte.

– Ich darf doch lachen, oder?, sagte Zahra.

– Allerdings.

– Gut. Ich finde nämlich so ziemlich alles, sagte sie – und machte eine ausladende Handbewegung durch den Raum, die das Haus mit einschloss, das Meer draußen, das ganze Königreich, die ganze Welt und den ganzen Himmel – sehr, sehr traurig.