V.
– UND WARUM FAHREN SIE DAHIN?
– Wohin?
– KAEC.
Yousef sprach es aus wie cake. Gut zu wissen, dachte Alan.
– Arbeit, sagte Alan.
– Sind Sie im Baugewerbe?
– Nein. Wieso?
– Ich dachte, Sie helfen vielleicht mit, dass es endlich losgeht. Da passiert nämlich nichts. Keinerlei Bauarbeiten.
– Sie waren schon da?
Alan ging davon aus, dass die Antwort Ja lauten würde. Es müsste das größte Projekt in der näheren Umgebung von Dschidda sein. Also hatte Yousef es natürlich gesehen.
– Nein, sagte er.
– Wieso nicht?
– Da ist nichts.
– Noch nicht, korrigierte Alan.
– Niemals.
– Niemals?
– Da wird nichts passieren, sagte Yousef. Das Projekt ist tot.
– Was? Es ist nicht tot. Ich hab monatelang dafür recherchiert. Ich mache da eine Präsentation. Die gehen mit Volldampf voraus.
Yousef sah Alan an und lächelte, ein breites Grinsen, mächtig amüsiert. Warten Sie ab, bis wir da sind, sagte er. Er steckte sich wieder eine Zigarette an.
– Mit Volldampf voraus?, sagte er. Von wegen.
Wie aufs Stichwort kam eine Reklametafel in Sicht, die für das Bauprojekt warb. Eine Familie posierte auf einer Veranda, hinter ihnen ein wenig überzeugender Sonnenuntergang. Der Mann war Saudi, Geschäftsmann, Handy in einer Hand, Zeitung in der anderen. Die Frau, die dem Mann und zwei lebhaften Kindern das Frühstück servierte, trug einen Hidschab, eine züchtige Bluse und Hose. Unter dem Foto stand: King Abdullah Economic City: die vision eines mannes, die hoffnung einer nation.
Alan zeigte darauf. – Sie glauben, das wird nicht passieren?
– Was weiß ich? Ich weiß bloß, dass sie da noch nichts gemacht haben.
– Was ist mit Dubai? Das ist passiert.
– Das hier ist nicht Dubai.
– Es kann nicht Dubai sein?
– Es wird nicht Dubai sein. Welche Frauen wollen denn hierherkommen? Keine zieht freiwillig nach Saudi-Arabien, auch wenn es rosa Eigentumswohnungen am Meer gibt.
– Die Frau auf der Reklametafel scheint einen Schritt weiter zu sein, sagte Alan.
Yousef seufzte. – Das ist der Gedanke, sagen sie. Das heißt, sie sagen es nicht, aber sie deuten an, dass die Frauen in KAEC mehr Freiheiten haben werden. Dass sie einen ungezwungeneren Umgang mit Männern haben können und Auto fahren dürfen. So was eben.
– Und ist das nicht gut?
– Wenn es passiert, vielleicht. Aber es wird nicht passieren. Es hätte durchaus mal passieren können, aber es ist kein Geld mehr da. Emaar ist angeschlagen. Dubai steht vor dem Bankrott. Alles wurde überbewertet, und jetzt sind sie pleite. Sie haben Schulden auf dem ganzen Planeten, und jetzt ist KAEC tot. Alles ist tot. Sie werden schon sehen. Haben Sie noch irgendwelche Witze auf Lager?
Alan war beunruhigt, versuchte aber, Yousefs Einschätzung nicht zu ernst zu nehmen. Er wusste, es gab Nörgler in Saudi-Arabien und anderswo. Emaar, das globale Bauunternehmen, das viele Projekte in Dubai verwirklicht hatte, steckte in Schwierigkeiten, Opfer der Blase, und jeder wusste, dass KAEC ohne König Abdullahs persönliches Engagement und Privatvermögen in Schwierigkeiten wäre. Aber natürlich würde der König sein Geld hineinstecken. Natürlich würde er dafür sorgen, dass es mit KAEC weiterging. Das Projekt trug schließlich seinen Namen. Es war sein Vermächtnis. König Abdullah wäre zu stolz, um das Ganze scheitern zu lassen. Alan trug Yousef all diese Argumente vor, auch weil er sich selbst überzeugen wollte.
– Aber was, wenn er stirbt?, fragte Yousef. Er ist fünfundachtzig. Was dann?
Alan hatte keine Antwort. Er wollte glauben, dass so etwas möglich war, eine Stadt, die sich aus Staub erhob. Die architektonischen Entwürfe, die er gesehen hatte, waren überwältigend. Schimmernde Türme, von Bäumen gesäumte öffentliche Plätze und Promenaden, eine Reihe von Kanälen, die es Pendlern ermöglichten, fast überall per Boot hinzukommen. Die Stadt war futuristisch und romantisch, aber auch praktisch. Sie ließe sich mit vorhandener Technologie und sehr viel Geld verwirklichen, aber eben Geld, das Abdullah zweifellos hatte. Wieso er das Geld nicht einfach selbst bereitstellte, ohne Emaar, war ein Rätsel. Der Mann hatte genug Geld, um die Stadt über Nacht aus dem Boden zu stampfen – also wieso tat er das nicht? Manchmal musste ein König ein König sein.
Die Ausfahrt vor ihnen hieß King Abdullah Economic City. Yousef blickte Alan an, zog die Augenbrauen gespielt dramatisch hoch.
– Da wären wir. Mit Volldampf voraus!
Sie nahmen die Ausfahrt und fuhren Richtung Meer.
– Sind Sie sicher, dass wir hier richtig sind?, fragte Alan.
– Wir fahren dahin, wo Sie hinwollen, sagte Yousef.
Alan sah keine Spur von einer zukünftigen Stadt.
– Was immer es ist, es ist da, sagte Yousef und deutete nach vorn. Die Straße war neu, aber sie führte durch absolut nichts. Sie fuhren eine Meile, bis sie zu einem schlichten Tor kamen, ein Paar Steinbögen über der Straße, überdacht von einer großen Kuppel. Es sah aus, als hätte jemand eine Straße durch unnachgiebige Wüste gebaut und dann irgendwo in der Mitte ein Tor errichtet, um das Ende von etwas und den Beginn von etwas anderem anzudeuten. Es war hoffnungsvoll, aber nicht überzeugend.
Yousef hielt an und kurbelte sein Fenster herunter. Zwei Wachleute in blauen Kampfanzügen, Gewehre locker über die Schulter gehängt, näherten sich vorsichtig und umkreisten den Wagen. Sie waren offenbar verblüfft, jemanden zu sehen, erst recht zwei Männer in einem dreißig Jahre alten Chevy.
Yousef sprach mit ihnen, deutete mit einer Kinnbewegung nach rechts auf seinen Fahrgast. Die Wachleute beugten sich tiefer, um den Amerikaner auf dem Beifahrersitz zu sehen. Alan lächelte professionell. Einer der Wachleute sagte etwas zu Yousef, und Yousef wandte sich Alan zu.
– Ihr Ausweis.
Alan reichte ihm seinen Reisepass. Der Wachmann verschwand in seinem Büro. Er kam zurück und gab Yousef den Pass zurück und winkte sie durch.
Hinter dem Checkpoint teilte sich die Straße in zwei getrennte Fahrspuren. Der Mittelstreifen war bedeckt mit Gras, verbrannt und welk, notdürftig am Leben gehalten von zwei Männern in roten Overalls, die es mit einem Gartenschlauch wässerten.
– Ich schätze mal, die beiden sind nicht in der Gewerkschaft, sagte Alan.
Yousef lächelte grimmig. – Ich hab neulich einen Mann im Laden von meinem Dad gehört. Er hat gesagt: »Wir haben hier keine Gewerkschaften. Wir haben Filipinos.«
Sie fuhren weiter. Eine Reihe Palmen begann auf dem Mittelstreifengras, allesamt neu gepflanzt, manche noch eingepackt in Sackleinen. Alle zehn Bäume oder so waren an Lampenpfosten Banner befestigt, mit Bildern, wie die Stadt einmal aussehen würde, wenn sie fertig war. Auf einem stieg ein Mann in einem Thawb gerade von einer Jacht, in der Hand eine Aktentasche, und wurde von zwei Männern begrüßt, die schwarze Anzüge und Sonnenbrillen trugen. Auf einem anderen schwang ein Mann einen Golfschläger im Morgengrauen, neben ihm ein Caddy – vermutlich wieder ein Südostasiat. Ein retuschierter Entwurf zeigte ein fantastisches Stadion. Auf einem Luftbild war ein Strand mit Ferienanlagen gesäumt. Auf einem Foto half eine Frau ihrem Sohn, einen Laptop zu benutzen. Sie trug einen Hidschab, war aber ansonsten westlich gekleidet, von Kopf bis Fuß lavendelfarben.
– Wieso würden sie mit solchen Freiheiten werben, wenn das nicht ehrlich gemeint wäre?, fragte Alan. Das Risiko, dass Abdullah damit die Konservativen verärgert, ist ziemlich groß.
Yousef zuckte die Achseln.
– Wer weiß? So etwas beeindruckt Typen wie Sie, also funktioniert es vielleicht.
Die Fahrspuren vereinten sich wieder, und die Straße durchschnitt Wüste ohne Struktur oder Form. Alle fünf, sechs Meter standen Straßenlampen, aber ansonsten gab es gar nichts, das Ganze wirkte wie ein kürzlich abgebrochenes Projekt auf dem Mond.
Sie fuhren eine weitere Meile Richtung Meer, bis die Bäume wieder auftauchten. Grüppchen von Arbeitern, ein paar mit Helmen, ein paar mit Tüchern auf dem Kopf, kauerten unter den Palmen. Weiter vorne endete die Straße ein paar Hundert Meter vom Wasser entfernt, wo eine Handvoll Gebäude standen, die aussahen wie alte Grabsteine.
– Das ist es, im Großen und Ganzen, sagte Yousef.
Der Wüstenwind war stark, und der Staub kam über die Straße wie Nebel. Trotzdem fegten zwei Männer die Straße.
Yousef zeigte auf sie und lachte. – Dahin geht das Geld. Die fegen Sand in der Wüste.