XXV.
DIE NÄCHSTEN PAAR TAGE zogen vorbei wie Wolken. Aber als sie am Mittwoch zu der Abzweigung nach KAEC kamen, herrschte helles Chaos. Vor dem Shuttle standen zehn Fahrzeuge – Geländewagen und Lkw, die Palmen geladen hatten, und ein Zementmischer und eine Reihe von Taxis und Vans. Alle hupten.
Im Zelt hasteten junge Leute umher, stellten Stühle in Reihen, fixierten Lautsprecher, testeten die Mikrofone.
Rachel sah ihn als Erste. – Ist es heute tatsächlich so weit?
Alan hatte keine Ahnung. – Sieht so aus, sagte er.
Brad blickte vom Projektor auf. – Wir sind startklar.
Auf einer Seite des Zeltes war ein riesiger Tisch aufgestellt worden, gut zwölf Meter lang; er war mit einem weißen Tischtuch bedeckt, auf dem Dutzende silberne Warmhalteplatten standen. Das Catering war bereits da, eine Mischung aus warmen und kalten Speisen, saudisch und westlich, alles von Favabohnen über Risotto bis hin zu Schawarma. Ein Trupp pakistanischer Arbeiter stellte reihenweise weiße Couches mit Blick zur Bühne auf.
Alan verließ das Zelt und lief zur Black Box, um zu sehen, ob er Genaueres über das Timing des Besuches erfahren könnte. Er hörte Hubschrauberlärm, und als er aufblickte, sah er zwei, die niedrig flogen und irgendwo in der Nähe des Empfangszentrums landeten. Er trabte zur Eingangstür.
Maha am Empfangstisch, die zuvor so wenig hilfsbereit gewesen war, war jetzt richtig gesprächig. Blond! Sie erklärte Alan, dass die Leute des Königs, sollte der König an dem Tag kommen, zwanzig Minuten vorher Bescheid geben würden. Daher sollte Reliant sich den ganzen Tag bereithalten.
Alan kehrte ins Zelt zurück. Brad saß im Schneidersitz auf der Bühne und tippte wie wild in seinen Laptop. Rachel und Cayley standen unten und telefonierten mit ihren Handys. Alan ging zu Brad.
– Sind wir so weit?
– In zwei Minuten.
Nach zwei Minuten, als Brad gerade verkündet hatte, dass sie so weit seien, um die holografische Präsentation mit ihrem Team in London zu testen, betrat ein Mann, den sie noch nie gesehen hatten, das Zelt. Er war Saudi, groß und mit einem weißen Thawb bekleidet, in der Hand einen ledernen Aktenkoffer. Er blieb an der Tür stehen, als scheue er sich, in ihren persönlichen Raum einzudringen, und hob die Hände, um alle, die drinnen umherhasteten, auf sich aufmerksam zu machen.
– Ladies and Gentlemen, leider muss ich Ihnen sagen, dass der König heute nicht kommen wird. Sie sind falsch informiert worden. Er teilte ihnen mit, dass es irgendwo in der Kommunikationskette einen Fehler gegeben habe. In der Kommunikationsabteilung des Königs habe irgendwer an irgendwen bei Emaar Properties nicht genehmigte und unrichtige Informationen weitergegeben, die dann fälschlicherweise verbreitet worden seien. Der Terminplan des Königs für KAEC sei noch ungewiss, aber derzeit sei er in Jordanien, wo er sich die nächsten drei Tage aufhalten werde.
Die Stimmung unter den jungen Leuten grenzte zumindest einige Augenblicke lang an Verzweiflung. Alan sah, wie Brad förmlich in sich zusammenfiel, und er hatte das Gefühl, dass das hier wohl zu den größten Enttäuschungen im Leben des jungen Mannes zählte. Rachel und Cayley gingen nach einer kurzen Trauerphase zurück zu ihren Laptops und waren offenbar froh darüber, dass sie jetzt im Zelt Couches und etwas zu essen und ein starkes WLAN-Signal hatten, denn sie saßen zufrieden da und aßen, während Brad auf der Bühne lag, zwischen den diversen Projektoren, die Beine gespreizt wie ein Spielzeugbär.
Alan ging nach draußen, wo er die gleiche Art von Hektik sah wie zuvor, nur umgekehrt. Die Lieferwagen fuhren davon, die Taxis und Vans waren weg, die Gegend machte dicht.
Er schlenderte auf dem Gelände der Großbaustelle herum und bemerkte verschiedene Verbesserungen, die im Laufe des Vormittags gemacht worden waren. Die Black Box war plötzlich mit einem breiten Blumenstreifen umgeben. Die Promenade stand jetzt voll mit Palmen – etwa an die hundert mehr waren an dem Tag gepflanzt worden. Weiter hinten konnte er die Springbrunnen rings um das Empfangszentrum sehen, die jetzt strahlende Wasserfontänen in die Luft sprühten.
Während er vor der Treppe zur Black Box stand, sah er einen schwarzen Geländewagen aus der Tiefgarage auftauchen. Der Wagen blieb neben ihm stehen, das hintere Fenster glitt herunter, und zum Vorschein kam blondes Haar, ein lächelndes Gesicht. Es war Hanne.
– Nervenkitzel satt.
– Kann man wohl sagen.
– Der falsche Alarm tut mir leid.
– Nicht nötig. So bleiben wir in Übung.
– Ich fahr zurück nach Dschidda. Kann ich dich mitnehmen?
Alan dachte darüber nach. Er musste nicht unbedingt hier vor Ort bleiben. Aber er wollte auch nicht allein mit Hanne sein.
– Ich sollte lieber beim Team bleiben, sagte er.
– Alles in Ordnung mit dir?
– Ja, sagte er.
Sie zog die Augenbrauen hoch, ein Zeichen dafür, dass sie nachhaken würde, wenn er ihr Grund zur Annahme gegeben hätte, dass ihm das recht wäre. Er sagte nichts mehr, und sie winkte und weg war sie.
Ehe er sich rühren konnte, hörte er seinen Namen.
– Alan!
Er schaute hoch zur Black Box. Ein Mann, der ihm vage bekannt vorkam, lief die Treppe herunter auf ihn zu. Gerade, als Alan das Gesicht klar sehen konnte, war der Mann auch schon bei ihm und hielt ihm die Hand hin.
– Mudschaddid. Von der Führung. Erinnern Sie sich?
– Natürlich. Schön, Sie wiederzusehen, Mudschaddid.
– Ganz schöne Aufregung heute, was?
Alan bejahte, dass es aufregend gewesen sei.
– Ich hab Sie schon gesucht, sagte Mudschaddid. Ich habe zufällig mit Karim al-Ahmad gesprochen, und er hat mir von Ihrer Fahrt durch die Kanäle erzählt, und wie begeistert Sie von dem Projekt waren.
– Ich war sehr beeindruckt. Ich bin sehr beeindruckt.
– Ausgezeichnet. Also, wie Sie wissen, bin ich zuständig für den Verkauf von Privatwohnungen, und ich hoffe, es ist nicht vermessen von mir, wenn ich meine, dass Sie Interesse an einer Wohnung hier in der King Abdullah Economic City haben könnten.
Bevor Alan widersprechen konnte, hatte Mudschaddid die verschiedenen Vorteile eines Zweitwohnsitzes – er sprach von einem zweiten Domizil – hier in KAEC erläutert, vor allem für einen Mann wie ihn, der wahrscheinlich einige Zeit hier verbringen würde, um den IT-Plan zu realisieren. Die Gewissheit in Mudschaddids Worte, die Selbstverständlichkeit, mit der er offenbar davon ausging, dass Reliant den IT-Auftrag so gut wie in der Tasche hatte, gab Alan einen Schub Zuversicht. Er erklärte sich einverstanden mit einer Besichtigung des Apartmenthauses.
– Wussten Sie eigentlich, dass ein paar von unseren Leuten bereits hier wohnen?, wollte Mudschaddid wissen.
Alan hatte das nicht gewusst, aber es erklärte die Gesichter, die er gelegentlich in den hohen Fenstern gesehen hatte.
Sie betraten das Gebäude, und Mudschaddid blieb in dem gewaltigen Foyer stehen. Die Decke war zehn Meter hoch, hatte oben eine Glasrotunde.
– Das ist prachtvoll und einladend, finden Sie nicht? Es war protzig und einschüchternd, aber Alan nickte aufmunternd.
– Also, wie Sie vielleicht wissen, ist eine Etage des Gebäudes fertig, und eine Reihe von Mitarbeitern bewohnt derzeit die Einheiten. Ich würde Ihnen die Wohnungen gern zeigen, damit Sie sich ein Bild davon machen können, wie viel Luxus und Komfort zur Verfügung stehen, sogar in dieser frühen Phase der Bau-
Mudschaddid verstummte, zückte sein Handy und blickte auf das Display. Irgendetwas beunruhigte ihn, also ging er dran. Ein kurzes Gespräch auf Arabisch folgte, und als er fertig war, lächelte er entschuldigend.
– Würden Sie mich einen Moment entschuldigen? Ich habe eine dringende Nachricht aus dem Büro erhalten, und ich soll auf der Stelle rüberkommen, zu einer Besprechung. Es ist leider unvermeidlich.
– Kein Problem.
– Ich bin bald zurück.
Alan sah wohl irgendwie pikiert aus, und vielleicht war er das auch, denn er wollte nicht allein sein. Mudschaddid ließ sich einen neuen Plan einfallen.
– Wie wär’s, wenn Sie allein hoch in den fünften Stock gehen? Klingeln Sie bei Nummer 501. Ich verständige den Eigentümer, dass Sie kommen, und er wird Ihnen die Einheit zeigen. Ich denke, so ist es am besten. Er wohnt schon von Anfang an hier und kann Ihnen mehr über die Wohnung sagen als ich. Er heißt Hasan.
Mudschaddid entschuldigte sich noch einmal und ging.
Alan schlenderte durchs Erdgeschoss, durch die Räumlichkeiten vom zukünftigen Wolfgang Puck, durch die zukünftige Pizzeria Uno. Der Boden war mit Staub und Sand bedeckt. Das einzige Einrichtungsstück auf der ganzen Etage war ein riesiges stählernes Kühlgestell, das allein mitten auf dem Boden stand wie der Rohbau eines mobilen und einsamen Wolkenkratzers. Er kam sich albern vor, während er durch das leere Gebäude schlenderte, aber er konnte nicht unhöflich sein. Er musste die Besichtigung machen. Vielleicht lief das nach dem Motto, eine Hand wäscht die andere. Er kaufte eine Wohnung, sie gaben ihm den IT-Auftrag. Zumindest war es nett von ihm.
Er ging bis ans Ende des Gebäudes, und dort fand er einen weiteren Treppenaufgang, dunkel und aus Beton. Als er in den dritten Stock kam, hörte er Stimmen, nahe, gleich auf der anderen Seite der Brandschutztür. Hatte Mudschaddid fünfter Stock gesagt und den dritten gemeint?
Alan öffnete die Brandschutztür, und ein hallendes Grölen strömte hindurch. Er war in einem großen, kahlen Raum voller Männer, einige in Unterwäsche, einige in roten Overalls, und alle brüllten. Er hatte mal Bilder von Gefängnisturnhallen gesehen, die in Schlafsäle umgewandelt worden waren, und genauso sah das hier aus. Rund fünfzig Betten standen im Raum, zwischen ihnen waren Wäscheleinen gespannt. Die Betten waren aber leer – alle Männer waren in der Mitte versammelt, schrien, drängelten. Alan war in eine Art Kampf geraten. Das waren die Arbeiter, die Alan auf dem Gelände gesehen hatte; Yousef hatte gesagt, es seien Malaysier, Pakistani, Filipinos.
Alan wollte gehen, und zwar schnell, konnte sich aber nicht losreißen. Was ging da vor? Er musste wenigstens sehen, worum sie stritten. Im Zentrum standen zwei Männer mit ineinander verschlungenen Armen. Einer von ihnen hatte irgendetwas in der Hand. Alan konnte es nicht sehen – es passte in die Hand des Mannes. Geld? Etwas sehr Kleines. Schlüssel?
Ein Mann am äußeren Rand sah Alan und machte den Mann neben sich auf ihn aufmerksam. Sie glotzten beide entgeistert. Einer der beiden Männer bedeutete Alan, zu ihnen zu kommen, vermutlich um den Kampf zu beenden, was sie nicht konnten. Alan trat einen Schritt auf sie zu, doch der zweite Mann winkte ab, wollte Alan anscheinend wegscheuchen. Er blieb stehen.
Jetzt sahen ein paar weitere Männer Alan, und innerhalb von Sekunden hatten sie allen im Raum seine Gegenwart verkündet. Es wurde still, und der Kampf hörte auf. Alle Männer, alle zwei Dutzend oder so, standen reglos da, als wäre Alan gekommen, um sie zu kontrollieren. Der Mann, der ihn ursprünglich näher gewinkt hatte, tat es erneut. Alan machte noch einen Schritt auf sie zu, übersah aber die tiefe Rille im Boden. Er blieb mit dem Schuh hängen und drohte prompt, mit rudernden Armen nach hinten zu kippen. Er fand vorübergehend das Gleichgewicht wieder, rutschte dann aber auf dem sandigen Boden aus, sodass er plötzlich nach links torkelte. Er drohte komplett die Haltung zu verlieren, fand aber rechtzeitig eine Wand und konnte sich abfangen. Die fünfundzwanzig Männer sahen das alles.
Alan hatte jetzt zwei Möglichkeiten. Er konnte einfach den Rückzug antreten, nachdem er sich zum Narren gemacht hatte, ohne überhaupt ein Wort zu sagen. Oder er konnte bleiben, denn schließlich hatten sie nicht gelacht und schienen noch immer eine gewisse Aura um ihn herum zu sehen. Irgendetwas an seiner Fremdheit, seiner Kleidung, besagte, dass er mehr hierher gehörte als sie.
Alan hob eine Hand. – Hallo.
Ein paar Männer nickten.
Alan ging auf sie zu und nahm den Geruch von arbeitenden Männern wahr, von Schweiß und Zigaretten und muffiger Wäsche.
– Was ist denn hier los?, sagte Alan. Worum geht’s? Er hörte den leichten Anflug eines britischen Akzents in seiner Stimme. Wo kam der auf einmal her? Keiner sagte etwas, aber er hatte ihre Aufmerksamkeit.
Alan trat zwischen sie, bestärkt durch ihr offensichtliches Vertrauen in ihn als Schlichter, und verlangte, dass die beiden Männer die Fäuste öffneten. Die des einen Mannes waren leer. In der rechten Hand des anderen Mannes ein Handy. Es war ein älteres Modell, ein Klapphandy mit gesprungenem Display. Es sah aus, als hätte jemand es weggeworfen. Dann, mit einem Schauder des Wiedererkennens, wurde Alan klar, dass genau das passiert war. Es musste Cayleys sein. Es war das Handy, das sie am ersten Tag auf den Müll geworfen hatte.
– Wo haben Sie das gefunden?, fragte er den Mann, der es in der Hand hatte.
Der Mann sagte nichts. Er hatte keine Ahnung, was Alan gesagt hatte.
– Spricht hier irgendwer Englisch?, fragte Alan.
Ein paar von den Männern verstanden die Frage, schüttelten aber den Kopf. Niemand sprach ein Wort von Alans Sprache. Das würde schwierig werden. Er konnte nicht herausfinden, wie sie an das Handy gekommen waren oder wer Anspruch darauf hatte. Er konnte keinen der Gründe, warum sie sich hier stritten, in Erfahrung bringen oder wer recht hatte oder welche Geschichte die beiden Männer verband oder welche Männer sie repräsentierten. Vielleicht handelte es sich um eine alte Rivalität, eine Fehde, die seit Monaten oder Jahrhunderten bestand? Er hatte keine Ahnung.
Er hoffte, dass er einen Vierteldollar dabeihatte. Er griff in seine Tasche und fand einen. Ein Münzwurf erschien ihm eine durchaus angemessene Lösung, um den Streit zu schlichten.
– Okay, sagte er, wer rät, welche Seite nach oben zeigt, der kriegt das Handy. Okay?
Er zeigte den Männern die beiden Seiten der Münze. Sie schienen zu verstehen. Er warf die Münze in die Luft, fing sie auf, deckte sie ab und deutete auf den Mann, der das Handy zuletzt in der Hand hatte.
– Sagen Sie, welche Seite, sagte Alan.
Der Mann sagte nichts. Sie hatten dieses Spiel noch nie gespielt. Während Alan überlegte, wie er Kopf und Zahl erklären sollte, schnappte sich der andere Mann das Handy, eilte aus dem Raum und sprang die Treppe hinunter. Einen gedehnten Augenblick lang wusste der zweite Mann nicht, was er machen sollte. Er erwartete anscheinend, dass Alan eine Lösung hätte. Aber Alan hatte keine Lösung, und sobald das klar war, rannte der Mann hinter dem ersten Mann her ins Treppenhaus und nach unten.
Die Stimmung im Raum verfinsterte sich rasch. Die restlichen Arbeiter umringten Alan und schrien ihm ins Gesicht. Man zog ihm am Ärmel. Irgendwer stieß ihn von hinten an. Sie wollten, dass er ging. Er wich zurück, entschuldigend, unsicher, ob er sich umdrehen und laufen sollte. Schließlich tat er es und floh ins Treppenhaus wie die beiden Männer, wusste aber, dass er nicht nach unten konnte – er könnte dem zweiten Mann in die Arme laufen, dem Verlierer, falls der wieder hochkam. Er lief nach oben, hörte Schritte auf der Treppe. Mindestens ein paar Männer verfolgten ihn.
Er lief in den vierten Stock. Er stieß die Tür weit auf und rannte durch die leere Etage. Es gab bloß Pfeiler – keine Wände, keine Gerüste, nichts. Die Tür schloss sich nicht hinter ihm. Er hörte einen dumpfen Schlag, als die Männer hindurcheilten. Sie waren noch immer hinter ihm her. Würden sie ihm wirklich was tun? Er trug ein weißes Hemd und eine Kakihose! Er drehte sich nicht um. Er erreichte das andere Ende des Stockwerks und ein weiteres Treppenhaus. Er riss die Tür auf und hastete hoch.
Er musste Nummer 501 finden. Jetzt unter ihm Schritte, die ihm nach oben folgten. Sein Atem ging keuchend, seine Brust hob und senkte sich. Im fünften Stock stieß er die Brandschutztür auf, lehnte sich auf der anderen Seite dagegen, um zu verschnaufen und seinen Verfolgern den Zutritt zu blockieren. Als er aufblickte, stellte er fest, dass er in der Zeit einen Sprung nach vorn gemacht hatte. Er schien in einem völlig anderen Gebäude zu sein. Die fünfte Etage war fertig, modern bis ins Detail.
Er rechnete jeden Moment damit, dass seine Verfolger hereingestürmt kamen, doch auf der anderen Seite der Tür war kein Laut zu hören. Hatte sie das hier abgeschreckt, diese fertige Etage? War ihre Verfolgungsjagd durch das Gebäude hier zu Ende? Irgendwie kam ihm das einleuchtend vor.
Er trabte den langen Flur hinunter, der von einer Reihe Kronleuchter hell erleuchtet wurde. Die Decke war tiefblau wie ein Sommergewitter, die Tapete eine Symphonie aus Streifen in Kornblumenblau und Ocker. Der Teppichboden war dick, cremefarben und wogend, als würden zarte Winde über ihn streifen. Es gab alle möglichen Vorrichtungen, Steckdosen, polierte Teaktische, Feuerlöscher, alle erdenklichen Zutaten des kultivierten Wohnens.
Verwirrt und ungläubig fand er Nummer 501 und klopfte an die Tür. Sie öffnete sich unverzüglich, als hätte der Mann, der einen Anzug und allem Anschein nach eine Ascotkrawatte trug, den ganzen Tag die Hand an der Klinke gehabt.
– Mr Clay, nehme ich an. Er war ungefähr in Alans Alter, glatt rasiert, mit einer Brille auf der Nase und einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen.
– Hasan?
– Wie schön, Sie kennenzulernen.
Sie schüttelten sich die Hände.
– Ich hatte schon Sorge, Sie hätten sich verlaufen.
– Das habe ich auch, glaube ich.
– Kommen Sie herein.
Seine Wohnung war geräumig und offen und in bernsteingelbes Licht getaucht. Sie nahm die volle Breite des Gebäudes ein, Panoramafenster an Panoramafenster. Die Einrichtung war elegant, glänzendes Parkett, maßgefertigte Teppiche, ein Arrangement von niedrigen Couches und Tischen aus der Jahrhundertmitte, hier und da eine Antiquität als Akzent – ein riesiger Spiegel mit Blattgold und einem blitzförmigen Riss durch die Mitte. Über dem Kamin ein Quartett Zeichnungen von jemandem, der entweder Degas war oder Tänzerinnen genauso zeichnete, wie er es getan hatte. Klassische Musik raunte aus jeder Ecke.
– Geht es Ihnen gut?, fragte Hasan. Sie sehen aus, als hätten Sie einen Langstreckenlauf hinter sich.
Alan hörte keine Geräusche vom Korridor und war sicher, dass seine Verfolger nicht hierherkommen würden. Er war weg, in Sicherheit. Das hier war etwas ganz anderes.
– Danke, ja, sagte er. Bloß die Treppen. Ich bin nicht in Form.
Alan trat an das Fenster mit Blick aufs Meer und stand dann da und schaute hinaus. Er konnte das Zelt sehen, direkt unten, und es wirkte kleiner, als es aus nur fünf Stockwerken Höhe möglich schien. Dahinter war der Strand, und er konnte genau sehen, wo er seine Tage am Wasser verbracht hatte.
– Tee?
Alan drehte sich um, wollte schon antworten.
Hasan hob eine Augenbraue. – Oder vielleicht etwas Verlockenderes?
Alan lächelte, weil er das für einen Scherz hielt, aber Hasan stand vor einem gut bestückten Barwagen aus Glas und Gold, eine Hand an einer Kristallkaraffe.
– Ja, bitte.
Alan verstand nichts in diesem Land. Er hatte nicht eine einzige Regel gesehen, die konsequent befolgt wurde. Noch wenige Augenblicke zuvor war er inmitten einer Armee verarmter Malaysier gewesen, die sich offenbar in einem unfertigen Gebäude eingenistet hatten, und jetzt war er zwei Stockwerke höher und in der edelsten Wohnung, die man sich nur vorstellen konnte. Und trank Alkohol mit einem Mann, von dem er annehmen musste, dass er Muslim war und einigermaßen einflussreich.
Hasan reichte ihm ein Glas mit etwas, das aussah wie Scotch, und deutete auf die Couch. Sie nahmen einander gegenüber in einer u-förmigen Anordnung aus weißem Leder Platz.
– Soooo, sagte Hasan und dehnte das Wort, bis es jede Menge Dinge implizierte, allesamt geschmacklos. Mit einer Bewegung, die Eleganz nur knapp verfehlte, schlug er das linke Bein über das rechte. Hasan hatte etwas leicht Verstörendes an sich, und Alan fand raus, was es war – ein nervöser Tick, genauer gesagt zwei Ticks, die zusammenwirkten. Sein linkes Auge zuckte, woraufhin sich sein Mund verzog, als würde er sich wieder und wieder über die Störung ärgern, die das Zucken des Auges verursachte. Da war es wieder: blinzeln, ärgern.
– Haben Sie schon mehr von dem Gebäude gesehen?
Alan erzählte ihm von den Männern, auf die er im dritten Stock gestoßen war. Er erzählte nichts von dem Streit, da man die Arbeiter vermutlich für austauschbar hielt, und daher die Möglichkeit bestand, dass man sie alle zusammen rausschmeißen würde, um sie dann rasch zu ersetzen.
– Das tut mir leid. Wie sind Sie denn in den Teil des Gebäudes geraten?
– Ich hab mich wohl einfach verirrt, schätze ich.
– Was haben Sie bei den Arbeitern gesehen?
– Ich hab sie einfach bloß da gesehen, wissen Sie, wie sie so rumgelaufen sind.
– Waren Sie schockiert?
– Eigentlich nicht. Hier überrascht mich nichts mehr.
Hasan lachte. – Gut. Das ist wirklich gut. Die Übrigen sind außerhalb der Baustelle untergebracht. Vielleicht haben Sie ein paar von den Trailern gesehen. Noch einen?
Er schenkte Alan nach. Der erste Scotch war schneller verschwunden als angebracht.
– Wie laufen die Geschäfte?, fragte Alan und meinte die Frage rhetorisch. Dieser Mann versuchte, die Apartments in KAEC zu verkaufen. Seine Antwort würde überschwänglich sein.
– Ehrlich? Ganz schön zäh.
Hasan erklärte, dass er Probleme habe, feste Zusagen zu bekommen, und die paar Ketten, die sich ursprünglich eingekauft hatten, vor Jahren, als die Stadt angekündigt wurde und die ersten Arbeiten begannen, waren seitdem abgesprungen. Es gab Bedenken, was die Zukunftsaussichten von Emaar betraf, dem Immobilienunternehmen. Es herrschte auch die Sorge, das Bauunternehmen der Familie bin Laden könnte mitmischen. Die größte Sorge war allerdings, dass die Stadt mit König Abdullah sterben würde. Dass sich ohne seinen reformerischen Geist, seine Duldung von kleinen fortschrittlichen Maßnahmen, alles zurückentwickeln würde und sämtliche Freiheiten, die KAEC versprach, in den Sand getreten würden.
– Aber im Erdgeschoss gibt es ein paar Restaurants, die kurz vor der Eröffnung stehen, warf Alan ein.
– Das ist leider ein Bluff. Wir haben die Einheiten nicht verkauft. Noch einen Drink? Alan hatte seinen zweiten auf.
Hasan ging zurück zur Bar und traf seine Vorbereitungen.
– Alan, hier sind gute Deals zu machen. Falls Sie sich für eine dieser Wohnungen entscheiden, würden Sie einen Bruchteil dessen zahlen, was Käufer in einem oder zwei Jahren zahlen. Sie könnten sie wieder abstoßen und einen zehnfachen Gewinn machen.
Jetzt gellten Alan Yousefs Prognosen in den Ohren. Dass die Stadt pleite sei, dass Emaar pleite sei, dass das Projekt nie Realität werden würde. Dass die ganze Idee mit Abdullah sterben würde.
Hasan brachte Alan den Drink.
– Danke, mein Freund, sagte Alan.
Hasan lächelte. – Ich freue mich sehr, einen Trinkgenossen zu haben.
Alan fragte nach dem König, warum er nicht einfach das Geld für den Bau der Stadt ausgab, damit sie noch zu seinen Lebzeiten fertig wurde oder wenigstens funktionsfähig.
– Wir haben im Arabischen eine Redensart: »Mit einer Hand kannst du nicht klatschen.« Wir können diese Stadt nicht allein bauen. Wir brauchen Partner.
– Ich bitte Sie, sagte Alan. Abdullah könnte diese Stadt innerhalb von fünf Jahren bauen, wenn er wollte. Wieso die Sache über zwanzig Jahre in die Länge ziehen?
Hasan dachte eine ganze Weile über diese Frage nach.
– Ich habe keine Ahnung, sagte er.
Und so teilten sie ihren Frust darüber, von viel zu vielen Faktoren abhängig zu sein, auf die sie keinen Einfluss hatten. Hasan wohnte seit einem Jahr in KAEC, hatte sich der Idee verschrieben, hier Pionierarbeit zu leisten, und hatte Dutzende Männer wie Alan zu Gast gehabt und versucht, ihnen dabei zu helfen, sich selbst auch hier zu sehen.
– Es könnte irgendwann ein gutes Leben sein, sagte Hasan. Aber ich fürchte, der Wille ist nicht da, um das Projekt zu Ende zu führen.
Und da ihm der Wille fehlte, zu gehen oder irgendwas anderes zu tun, blieb Alan noch viele Stunden bei Hasan, spielte Schach und trank Scotch. Als er ging, war Alan fast betrunken und fühlte sich wunderbar. Er trat ins Treppenhaus, um nach unten zu gehen, ging aber stattdessen nach oben. Er kam an einem geschlossenen Stockwerk vorbei, doch die Treppe führte weiter nach oben, bis er eine Tür aufs Dach öffnete. Die Aussicht war erstaunlich, Strand und Gebäude und Kanäle und Wüste, alles mit einem milden goldenen Licht bestäubt. Er musste eigentlich los, konnte sich aber nicht dazu aufraffen.