XXII.

ALS ALAN SEIN ZIMMER IM HILTON BETRAT, blinkte das rote Lämpchen an seinem Telefon. Hanne hatte eine Nachricht hinterlassen.

– Ruf mich an, sagte sie.

Er tat es, und sie ging beim ersten Klingeln ran.

– Was hast du heute Abend vor?, fragte sie.

Alan dachte an sein Zimmer, die verzweifelten Abenteuer, die er hier haben könnte. Das Bett, der Spiegel, der Schnaps.

– Nichts, sagte er.

– Komm zu mir nach Hause, ich koche was.

– Darf ich das denn?

– Wo ich wohne, stört das keinen.

– Du musst nichts kochen. Ich kann dich irgendwo zum Essen einladen.

– Nein, nein. Es ist netter, bei mir zu essen. Und einfacher.

Er rief Yousef an. Er erreichte seine Mailbox.

– Rufen Sie mich an. Ich möchte zu einer Freundin nach Hause, und Sie sollen mich hinfahren.

Yousef würde das gefallen. Alan rechnete jeden Moment mit einem Rückruf, doch auch nach dreißig Minuten nichts. Yousef war noch nie unerreichbar gewesen. Dumpfe Besorgnis stieg in Alan hoch. Alan schickte ihm eine SMS und erhielt keine Antwort.

Alan bestellte an der Rezeption einen anderen Fahrer, kaufte ein paar Blumen in der Hotellobby und stand eine Stunde später bei Hanne vor dem Tor.

Er klingelte. Er sah einen Schatten, der sich durch ein oberes Stockwerk bewegte.

Die Tür ging auf, und da war sie. Sie trug eine ärmellose Seidenbluse und eine schwarze Hose. Sie war elegant, unaufgeregt, und ihr Gesicht glühte.

– Ein paar Blumen, sagte er.

– Das sehe ich, sagte sie.

Das Haus war ihrem Büro nicht unähnlich – es sah aus, als wäre sie erst Stunden zuvor eingezogen. Das Mobiliar bestand aus höchstens fünf Teilen. Eine Couch, ein Tisch, ein paar gerade Holzstühle. Sie gingen an der Küche vorbei, wo es in einem Topf köchelte.

– Ich hab einen Eintopf gemacht, sagte sie.

Alan sagte, es rieche gut, obwohl er außer frischer Farbe so gut wie nichts riechen konnte,

– Ich hab Wein da. Möchtest du?

Hanne hielt eine Thermosflasche und ein Kinderwasserglas mit zwei Comicfischen darauf in den Händen. Alan lächelte, und sie goss eine rosafarbene Flüssigkeit hinein, bis das Glas halb voll war.

– Ein Freund hier im Compound hat ihn kürzlich hergestellt. Er ist Südafrikaner. Das sind Weinspezialisten.

Alan kostete und verzog das Gesicht. Der Wein war irgendwie schwach und bitter zugleich.

– Richtig gut, was?

– Doch, doch. Danke, sagte er und trank ein Drittel davon in einem Zug.

– Ich hab dir noch mehr siddiqi besorgt, sagte sie und schob eine weitere Olivenölflasche über die Arbeitsplatte.

– Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich bin, sagte er.

Sie lachte. – Hier wird mehr getrunken als in Finnland.

Sie gingen ins Wohnzimmer.

– Komm und setz dich. Es ist eine Weile her, seit ich zuletzt Besuch hatte.

Sie setzten sich auf die Couch, jeder an ein Ende.

– Es muss seltsam hier sein, sagte er.

– Es ist total seltsam. Aber es ist so ruhig, dass es mir die meiste Zeit gefällt. Das absolute Fehlen von gesellschaftlicher Verpflichtung. Du hast keinerlei familiäre Verpflichtungen, keine echten freundschaftlichen Verpflichtungen. Ich kann froh sein, wenn ich einen Gast im Monat habe. Es ist klösterlich, was eine Erleichterung ist.

Alan nickte. Er kannte das. – Und dann gibt es ja noch die Botschaftspartys, sagte er.

Sie zündete sich eine Zigarette an. – Richtig. Hab ich mich blamiert?

– Nein, überhaupt nicht, sagte er. Alle haben irgendwas Verrücktes gemacht.

Vielleicht würde das klappen, dachte er, ihren Versuch irgendwo in den Bereich des Verrückten einzuordnen, als etwas, das kein gescheiter Mensch glauben würde.

Auf einmal schien ein Licht in ihren Augen auszugehen.

Doch genauso schnell hatte sie sich wieder im Griff und rang sich ein Lächeln ab.

– Übrigens, ich hab eine Neuigkeit über den König für dich. Er ist nächste Woche in Bahrain. Du hast also frei.

– Oh, sagte er, unfähig, seine Enttäuschung zu verbergen. Das war nicht die Art von Freiheit, die Alan anstrebte. Er wollte die Freiheit haben, seine Präsentation zu machen. Er wollte die Freiheit haben, das Königreich Saudi-Arabien zu verlassen.

Hanne stellte das Essen auf Tischsets aus Plastik, und schon bald kannte sie sämtliche wichtigen Fakten über ihn und er über sie. Er hatte angenommen, dass sie geschieden war, und das war sie, aber mit seiner Kindervermutung hatte er falschgelegen. Sie hatte keine, und das war die Abmachung zwischen ihr und ihrem Ex gewesen, als sie geheiratet hatten. Hanne wollte keine, und er wollte keine. Aber dann, fünf Jahre später, wollte er doch welche. Also stritten sie sich und lebten sich auseinander, und nicht lange danach schwängerte er eine andere. Zu der Zeit waren sie noch verheiratet.

– Ab da war alles ganz einfach, sagte sie. Sie ließ McKinsey wissen, dass sie auch Einsätze im entfernten Ausland annehmen würde, und ein paar Monate später war sie in Seoul. Dann Arusha. Dann Dschidda und KAEC.

Bald darauf war das Essen vorbei und die Teller geleert, und als Alan damit rechnete, sie würde ihn auffordern, wieder auf der Couch Platz zu nehmen, oder ihn mit einem Gähnen zur Tür bringen, sagte sie: – Hast du Lust auf ein Bad?

– Ein Bad?

– Ein Bad. Ist mir gerade so eingefallen.

– Wir beide zusammen, meinst du?

Sie lachte, verwarf die Idee. – Ich weiß auch nicht, wie ich darauf komme.

Aber dann wollte sie den Gedanken doch noch nicht aufgeben.

– Wir könnten so tun, als wäre es ein Whirlpool.

Er dachte darüber nach, aber nicht vernünftig. Er dachte bloß, dass er den Abend mit ihr lieber noch verlängern würde, egal wie skurril, statt allein zu sein.

– Warum eigentlich nicht, sagte er.

– Gut!, sagte sie fröhlich und machte ein paar rasche Schritte Richtung Badezimmer. Wasser rauschte geräuschvoll in die Wanne. Während es lief, kam sie zurück zur Couch, nahm ihr Glas und trank es leer.

– Hast du vor, zu schnorcheln, tauchen, irgendwas in der Art?

Er sagte, er habe noch nicht darüber nachgedacht.

– Geht sehr gut hier. Das machen nur sehr wenige Leute, deshalb ist alles unberührt. Ich hab’s vor ein paar Wochen versucht, gleich neben dem KAEC-Strand. Ich hatte einen Bikini an, um ehrlich zu sein, aber dass hätte ich lieber lassen sollen. Nach einer Stunde tauchte ein Boot der Küstenwache auf. Es war haram, so spärlich bekleidet da draußen zu sein.

– Bist du verhaftet worden oder …?

– Nein, sie meinten bloß, ich sollte sie beim nächsten Mal vorwarnen. In der Gegend um Dschidda sind sie Westlern gegenüber nämlich sehr nachsichtig. In den meisten Fällen schauen sie einfach weg, aber sie wollen genau wissen, wo du was machst. Vor allem damit sie sicher sein können, dass andere Leute nicht sehen, was du machst. Noch einen Schluck?

Sie schenkte Wein nach und ging dann nach dem Wasser in der Wanne sehen.

– Wir können.

Und dann waren sie nackt, saßen einander gegenüber und wussten beide nicht, was sie als Nächstes tun sollten. Sie hatte sich zuerst ausgezogen, war vorsichtig in die Wanne gestiegen, als wäre sie ihr fremd. Er betrachtete sie, dachte, dass sie hübsch war, üppige Formen, blasse Haut, sommersprossig, der Rücken sonnenverbrannt. Er wartete, bis sie mit ein paar Kerzen hinter ihrem Kopf beschäftigt war, und stieg dann schnell hinein, ehe sie ihn ganz sehen konnte.

Bald darauf saßen sie da, die Knie hochgezogen, Wein in der Hand. Jetzt wollte er viel mehr, als er in seinem Glas hatte.

– Nimmst du oft ein Bad?, brachte Alan heraus.

– Eigentlich nicht, sagte sie.

Hanne hatte versucht, mit Spülmittel etwas Schaum zu erzeugen, aber das Ergebnis war anämisch und verschwand schon bald.

– Zu heiß?, fragte sie.

– Es ist gut, sagte er und meinte es auch so. Er schätzte sie und bewunderte ihren Mut und fühlte sich wohl mit der ganzen Situation, wie er so dasaß, in einer behaglichen Wanne, zusammen mit einer neuen Freundin. Doch andererseits dachte er: Was zum Henker machte er in der Wanne dieser Frau?

Das Problem war die Möglichkeit einer Kränkung. Er wollte niemanden kränken, und deshalb nahm er zu oft Einladungen wie diese an. Er war schon auf Hochzeiten gelandet, auf Taufen, mit Frauen, die ihn für mehr als einen Freund hielten, obwohl sie etwas anderes behaupteten. Er war ein Idiot.

Bestimmt war irgendwas in dieser Geschwulst im Nacken, dachte er. Die Geschwulst saß zu dicht am Rückenmark und hatte den Durchgang der Signale vom Gehirn zum Rest von ihm verändert. Das wär eine Erklärung für seine Unfähigkeit, alle menschlichen Signale zu deuten.

Sie seifte ihm jetzt das Knie ein, sanft, als würde sie ein Geländer polieren. Er lächelte sie an. Sie runzelte die Stirn.

– Ich errege dich nicht sehr, sagte sie.

Er war nicht erregt, und er wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich beleidigt fühlen würde. Wenn er erst gar nicht in die Wanne gestiegen wäre, hätte er es jetzt leichter. Dann würde es nicht um Erektionen gehen und was sie über diese nackte, liebenswerte Dänin ihm gegenüber aussagten.

– Doch, doch, sagte er. Du bist toll.

– Würde es dich kränken, wenn ich versuchen würde nachzuhelfen?

Sie griff nach seinem Penis.

– Es würde mich nicht kränken, aber es wäre mir lieber, wenn du es nicht tätest.

Sie ließ die Hände sinken und rutschte auf ihrer Seite der Wanne tiefer.

Er versuchte, es ihr zu erklären, die Leichtigkeit seines Lebens ohne, die klare Reinheit, die er empfand, dass das Leben jetzt insgesamt geradliniger verlief. Ihr Gesicht war zu einer Maske des Entsetzens verzogen.

– Was hast du von so einer Art der Einfachheit?

– Sagt ausgerechnet die Frau, die Europa gänzlich verlassen hat.

– Ich habe nicht die ganze Menschheit verlassen.

– Ich auch nicht. Ich sitze mit dir in einer Wanne.

– Aber du lebst mit diesen Begrenzungen. So vielen Regeln.

– Eine Regel.

Sie saßen einen Moment lang im stillen Wasser.

– Das hier ist sehr frustrierend für mich, sagte sie. Ich kann nicht genau sagen, warum.

Alan wusste, warum. Sie hatte gedacht, sie würde ihm heute Abend einen Gefallen tun. Und neulich Abend auch. Er war nicht der attraktivste Mann der Welt, und sie hatte gedacht, er wäre leichte Beute. Aber jetzt, da er nicht zu haben war, war sie verärgert. Er sagte nichts davon.

Er sagte lediglich: Das ist mir schon mal passiert.

Sie saß ein paar Sekunden schweigend da, stieß dann einen kurzen Schrei aus. Der Schrei war eher komisch als primitiv und holte anscheinend ihre gute Laune zurück.

– Wieso bist du dann zum Abendessen gekommen?, fragte sie.

– Weil ich dich mag. Weil wir hier mitten in der Pampa sind.

– Weil du einsam bist.

– Deshalb auch.

– Ich glaube, du bist absolut hohl.

– Das hab ich dir selbst gesagt.

– Vielleicht nicht hohl. Eher erledigt.

Alan zuckte die Achseln.

– Was hat dich so werden lassen? Da ist kein Licht drin. Sie beugte sich vor und tippte ihm mit dem Finger an die Schläfe. Ihre Brüste drückten kurz auf sein Knie, und er spürte, wie sich etwas in ihm regte.

Alan hatte fast ein ganzes Jahrzehnt lang über ebendiese Frage nachgegrübelt. Nach der Scheidung war er jahrelang wütend gewesen, aber gleichzeitig auch lebendig. Er hatte gelacht, er hatte kurze Beziehungen gehabt, er hatte die Dinge genossen, die zu genießen von ihm erwartet wurde. Aber jetzt war er etwas anderes. Er stand an der gleichen Stelle, wo er einmal an etwas großen Gefallen gefunden hätte – ein Cousin, der in einer Bar einen irischen Folksong sang, die kleine Tochter eines Freundes, die ihm einen Trick auf ihrem Tretroller vorführte –, und er lächelte auf eine Art, von der er hoffte, dass sie als warm rüberkam. Aber er empfand keine Wärme. Er wollte bloß nach Hause. Er wollte allein sein. Er wollte seine Red-Sox-DVDs gucken und dabei Hannes Schnaps trinken.

– Manche würden die Theorie aufstellen, dass du über deine Exfrau nicht hinweggekommen bist. Dass du auf der Stelle trittst.

Alan interessierte sich nicht für Theorien, und das sagte er Hanne.

– Berührst du mich wenigstens?, fragte sie.

– Klar, sagte er.

Sie stand in der Wanne auf, drehte sich um und setzte sich wieder hin, mit dem Rücken zu ihm. Sie lehnte sich gegen ihn, ihr Gewicht nicht viel anders als eine Bleischürze beim Zahnarzt. Seine Hand tauchte zwischen ihre nassen Beine, ihre Finger lenkten seine.

– Kommst du dran?, fragte sie.

– Nicht ganz, sagte er.

Sie hob sich ein wenig.

– So besser?

– Ja.

Sie lehnte sich zurück.

Er rieb ihre Klitoris. Ein Luftschnappen. Dann ein Stöhnen. Er hatte eben erst angefangen, aber ihre Geräusche wurden lauter. Ihre Laute waren schön und guttural und fremd, und wieder spürte er eine Regung. Er fragte sich, ob er doch noch Erregung finden würde. Er spürte einen Anflug, aber der Augenblick verging.

Sie dirigierte seine Finger im Kreis. Dann in Form einer Acht. Ihre Augen schlossen sich, und er wusste, dass sie weit weg war, in einem Teenagerzimmer oder an einem Strand, und in ihrem Kopf war er jemand anders – ein stärkerer, jüngerer Mann. Ein vitaler Mann, ein verfügbarer Mann. Seine Finger kreisten und rieben und flatterten. Ihr Atem wurde unregelmäßig und laut, und ihr Körper wurde schwerer auf ihm.

Er hatte gerade irgendeine Zeitschrift voller Prognosen von Zukunftsforschern gelesen, darunter auch die Gewissheit, dass wir bald Computer in den Kontaktlinsen hätten und in der Lage wären, auf sämtliche Informationen der Welt allein mit den Augen zuzugreifen. Dass wir bessere Organe entwickeln würden, dass die Nanotechnologie es uns ermöglichen würde, krebstötende Stoffe in unserem Körper zu erzeugen, dass wir zweihundert Jahre alt werden würden. Manche befürchteten, wir würden in einen Roboterzustand übergehen, aber wir waren bereits so roboterähnlich, programmiert und leicht zu manipulieren. Wir hatten Knöpfe, wir hatten Schaltkreise, und das alles ließ sich aufzeichnen und erklären, neu programmieren und kalibrieren. Die schiere mechanische Unkompliziertheit, diese Kuriosität, die Klitoris auf und ab und im Kreis zu bewegen, um die höchste Lust zu erzeugen, mutete lachhaft einfach an. Und so machten wir es, weil es eine Art von Glück schuf. Wir drücken die Knöpfe, die die Belohnungen liefern. Wieder war der größte Nutzen eines Menschen der, nützlich zu sein. Nicht der, zu konsumieren, nicht der, zu beobachten, sondern der, etwas für andere zu tun, das ihr Leben verbesserte, und sei es nur für ein paar Minuten.

– Jetzt schneller, zischte sie, und ihr Akzent klang plötzlich stärker.

Er beschleunigte die Bewegungen. Er rubbelte und kreiste, und ihre Atmung wurde angestrengter. Ihre Hand packte seine, ihre andere fasste nach ihren Nippeln, erst dem einen und dann dem anderen. Seine Streichbewegungen wurden länger, und sie schrie fast. Vor Jahren war er ziemlich geschickt darin gewesen. Rubys wahnsinnige Orgasmen, die Art, wie sie den Kopf hin und her warf, ein Schwall von trotzigen Neins, ihre Haare, die ihn mit jeder wütenden Kopfdrehung peitschten.

Gleich darauf bäumte Hanne sich auf, eine Reihe von Jas, Schnellers. Das Wasser schwappte über den Wannenrand. Ihr Rücken bog sich, und sie war da und war dann fertig.

Sie drehte sich zu ihm um, berührte seine Wange, seine Lippen. Sie sah ihm in die Augen, fiebrig, suchte nach irgendeinem Anzeichen dafür, dass sie ihn erreicht hatte, dass sie ihn verändert hatte. Als sie nichts fand, drehte sie sich wieder um, mit dem Gesicht zur gefliesten Wand. Sie drückte den Rücken gegen ihn und lachte. Es würde eine Zeit kommen, wo die Welt Leute hervorbrachte, die stärker waren als sie beide. Wo das alles überholt wäre. Aber bis dahin würde es Frauen und Männer wie Hanne und Alan geben, die unvollkommen waren und keinen Weg zur Vollkommenheit hatten.