XXIX.

ALAN WAR NACKT unter einem dünnen blauen Kittel, in einem Wartezimmer in einem saudischen Krankenhaus, über das er nichts wusste. Gleich würde er sich eine Geschwulst aus dem Nacken entfernen lassen, von der er immer noch argwöhnte, dass sie mit seinem Rückgrat verwachsen war und einen wesentlichen Teil seiner Seele aussaugte, seinen Willen und seine Urteilskraft.

Während er in einem weißen Zimmer auf einem mechanischen Bett lag, war Alan froh, nicht mehr in der Festung in den Bergen zu sein. Seit seiner Abfahrt dort hatte er sich einen Tag und eine Nacht lang immerzu gefragt: Was hab ich getan?

Die Antwort war: nichts. Er hatte nichts getan. Doch das brachte ihm kaum Erleichterung. Ihm Erleichterung zu bringen, wäre die Aufgabe von Dr. Hakem.

Er war im King Faisal Specialist Hospital and Research Center, wo man ihn nach der Aufnahme gebeten hatte, sich auszuziehen und seine Siebensachen in einen Plastikbeutel zu stecken. Jetzt saß er auf dem Bett, fröstelte in dem papierartigen Kittel, betrachtete seine Habe, las das Plastikarmband, das man ihm gegeben hatte, blickte aus dem Fenster, fragte sich, ob das jetzt der Wendepunkt war, wonach er ein kranker Mann sein würde, ein sterbender Mann.

Er wartete zwanzig Minuten lang in dem leeren Zimmer. Dann vierzig.

– Hallo!

Alan blickte auf. Ein Mann schob eine Rolltrage herein. Er bugsierte sie neben Alans Bett.

– Na denn, sagte der Mann und bedeutete Alan, sich daraufzulegen.

Alan tat es, und der Pfleger, möglicherweise ein Filipino, breitete sorgfältig eine Decke über ihn.

– Fertig, sagte er, und sie verließen das Zimmer. Sie rollten durch ein Dutzend graue Korridore, ehe sie schließlich einen einfachen Raum mit Lichtschienen und taubenblau gestrichenen Zementsteinen erreichten. Er war nicht auf einen Operationstisch gefasst gewesen, aber da stand einer, und er wurde gebeten, sich von der Rolltrage daraufzuschieben. Er hatte sich so was Ähnliches wie eine Zahnarztpraxis vorgestellt – klein, intim, nur eine Stufe höher als das Behandlungszimmer, wo Dr. Hakem ihn untersucht hatte. Jetzt kam ihm alles sehr viel ernster vor, und das gab ihm zu denken. Wieder hatte er das Gefühl, dass seine Sorgen begründet waren: Das hier bewies, dass der Knoten in seinem Nacken sehr bedrohlich war, der Ausgang der Operation entscheidend.

Aber wo war er? Im Raum war nur eine Person: ein Mann in Krankenhausmontur, vielleicht ein Saudi, der in der Ecke stand. Er hatte Alan fast hoffnungsvoll angesehen, als hätte er gedacht, der Mann, der hereingerollt wurde, wäre ein persönlicher Freund. Als er sah, dass es bloß Alan war, verfinsterte sich sein Gesicht und nahm einen höhnischen Ausdruck an. Er zog seine Handschuhe aus, warf sie in einen Abfalleimer und ging. Alan war allein.

Augenblicke später öffnete sich die Tür, und ein junger Asiat schob ein Gerät auf Rollen herein. Er nickte und grinste Alan an.

– Hallo, Sir, sagte er.

Alan lächelte, und der Mann begann den komplizierten Vorgang, seine Maschine einsatzbereit zu machen.

– Sind Sie der Mann für die Anästhesie?, fragte Alan.

Der Mann lächelte, die Augen strahlend und glücklich. Doch anstatt zu antworten, begann er zu summen, laut und beinahe wie im Delirium.

Alan legte sich wieder hin und sah die Decke an, die ihm nichts verriet. Er schloss die Augen und war nach wenigen Sekunden kurz vorm Einschlafen. Wäre nicht das irre Gesumme des asiatischen Betäubers gewesen, er wäre sofort weggedöst. Menschen starben auf OP-Tischen, dachte er. Er war vierundfünfzig, alt genug, um zu sterben, ohne übermäßige Bestürzung auszulösen. Seine Mutter war mit sechzig an einem Schlaganfall gestorben. Als es passierte, war sie unterwegs, um eine Cousine zu besuchen, und fuhr gerade durch Acton. Ihr Wagen rutschte von der Straße und prallte gegen einen Telefonmast, ohne dass sie oder der Wagen ernstlichen Schaden davontrugen – sie hätte ihn beinahe verfehlt. Aber sie wurde erst am nächsten Morgen gefunden, und da war sie schon tot. Allein zu sterben, irgendwann mitten in der Nacht, im Straßengraben. Alan betrachtete das als Botschaft: Im Tod darfst du nicht auf Würde hoffen, sondern solltest dich auf Chaos gefasst machen.

– Hallo, Alan. Wie fühlen Sie sich heute?

Er kannte diese Stimme. Er öffnete die Augen. Dr. Hakems Kopf verdeckte das Licht. Er sah ihr Gesicht nur als verschwommenen Fleck.

– Gut, sagte er und schaute sich um. Irgendwie war der Raum plötzlich voller Menschen. Er zählte sechs oder sieben, alle mit Gesichtsmasken.

– Freut mich, Sie zu sehen, sagte sie, ihre Stimme kühl wie Wasser. Wir haben hier eine ziemlich internationale Truppe, um bei dem Eingriff zu helfen. Das ist Dr. Wei aus China, sagte sie und zeigte auf den Betäuber. Er ist unser Anästhesist. Und Dr. Fenton hier ist aus England. Er ist als Beobachter dabei.

Sie stellte das restliche Team vor, aus Deutschland, Italien, Russland. Sie nickten, nur ihre Augen sichtbar, und es ging alles viel zu schnell, als dass Alan sich hätte merken können, wer wer war. Er lag auf dem Rücken, nackt bis auf ein blaues, falsch herum getragenes Cape, und tat sein Bestes, um zu lächeln und zu nicken.

– Wenn Sie so weit sind, können Sie sich auf den Bauch drehen, sagte Dr. Hakem.

Alan drehte sich um, das Gesicht jetzt in dem steifen Kissen, das nach Bleichmittel roch. Er wusste, dass er entblößt dalag, doch sogleich legte ihm eine Krankenschwester zuerst ein Laken und dann eine Decke auf den unteren Rücken.

– Ist das warm genug?, fragte Dr. Hakem.

– Ja. Danke, sagte Alan.

– Okay. Könnten Sie den Kopf bitte zur Seite drehen?

Er drehte ihn nach links und drückte die Arme flach auf den Tisch.

– Ich werde jetzt den Bereich um die Geschwulst herum vorbereiten, sagte sie.

Er spürte, dass sie seinen Kittel oben aufband. Dann etwas Nasses auf seiner Haut. Ein Schwamm, Tupfen. Ein Wasserrinnsal, das ihm übers Schlüsselbein rieselte.

– Okay. Dr. Wei wird jetzt ein Lokalanästhetikum in den Bereich injizieren. Sie werden ein paar Einstiche spüren.

Alan spürte das schmerzhafte Eindringen der Nadel knapp unterhalb seiner Zyste. Dann noch einmal links davon. Und noch einmal und noch einmal. Dr. Hakem hatte von ein paar gesprochen, aber jetzt hatte Dr. Wei ihn vier-, fünf- und schließlich sechsmal gestochen. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte Alan gedacht, es würde dem Mann Spaß machen.

– Spüren Sie das?, fragte sie. Ich drücke auf Ihre Zyste.

Er spürte etwas, sagte aber Nein. Er wollte nicht übersediert werden. Er wollte eine Version des Schmerzes fühlen, ganz gleich wie gedämpft.

– Gut. Sind Sie bereit?, fragte sie.

Er bejahte.

– Dann fang ich jetzt an, sagte sie.

Er entwarf geistige Bilder, die zu dem unterschiedlichen Druck passten, den er spürte, zu den Geräuschen und Bewegungen der Schatten über ihm. Anscheinend erfolgte zuerst eine Reihe von kleinen Einschnitten. Das schloss er aus den Bewegungen von Dr. Hakems Arm. Danach betupfte ihre andere Hand den Bereich mit einer Art Schwamm. Er spürte den Druck des Schwamms auf sich. Schnitt, Tupfen, Schnitt, Tupfen. Im Hintergrund das Summen des Betäubers und von oben die Musik von Edith Piaf, so schien ihm.

– Okay, ich habe die Zugangsschnitte gemacht, sagte Dr. Hakem. Wahrscheinlich spüren Sie gleich ein Ziehen, wenn ich die Zyste entferne. Die sind manchmal recht verklebt.

Und plötzlich packte das wie auch immer geartete Instrument, das sie in der Hand hielt, etwas in ihm und zog. Der Brustkorb schnürte sich ihm zusammen. Der Druck war extrem. Er stellte sich eine Art Haken vor, der in seinen Rücken stieß, eine Kaumasse packte, versuchte, sie rauszuziehen, zu lösen. Ihm wurde bewusst, dass noch nie irgendetwas aus seinem Körper entfernt worden war. Das hier war neu und war nicht natürlich. Mein Gott, dachte er. Wie seltsam, Hände in mir drinzuhaben. Instrumente, die zupacken, schaben. Mein Gott. Alan war hohl, sein Körper ein Hohlraum voll nasser Dinge, ein chaotisches Durcheinander von Beuteln und Schläuchen, alles blutdurchtränkt. Mein Gott. Mein Gott. Das Schaben hielt an. Das Ziehen. Er spürte, wie ein Lappen Rinnsale auffing, die ihm am Hals hinuntergeflossen waren, Richtung Bett.

Falls er das hier unbeschadet überlebte, würde Alan sich bessern, das schwor er sich. Er würde stärker sein müssen. Seine Mutter hatte versucht, seine Stärke zu fördern, ihn zu inspirieren. So las sie ihm manchmal Passagen aus dem Tagebuch irgendeiner entfernten Verwandten vor, einer Frau, die in den Wäldern gelebt hatte, irgendwo im Westen dessen, was heute Massachusetts war. Sie hatte mit angesehen, wie ihr Mann und zwei ihrer Kinder von Indianern umgebracht wurden, und war selbst verschleppt worden. Sie lebte fast ein Jahr bei ihren Entführern, ehe sie wieder freigelassen wurde. Sie sah ihre Tochter wieder, die einzige andere Überlebende des Überfalls, und gemeinsam begannen sie, in Vermont eine florierende Milchfarm von fast 1500 Hektar aufzubauen. Sie stand einen harten Winter durch, in dem das Dach ihres Hauses unter der Schneelast zusammenbrach und ihr ein Balken aufs Bein stürzte, das bald darauf amputiert werden musste. Sie überlebte eine Pockenepidemie, bei der ihre Tochter starb, die sich gerade verlobt hatte. Der Verlobte zog zu ihr auf die Farm und betrieb sie noch, als sie mit einundneunzig starb. Möchtest du jetzt lieber hier sein, sagte Alans Mutter gern, oder verschleppt werden und mit nur einem Bein irgendwo in den Wäldern leben? Sie hatte kein Verständnis für Jammerei, für irgendeine Form von Unbehagen inmitten ihres behaglichen bürgerlichen Lebens. Vierzig Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg, sagte sie oft. Fünfzehn Millionen im Ersten. Worüber hast du dich vorhin noch mal beschwert?

Alan konnte Gespräche in verschiedenen Sprachen hören. Ein bisschen italienisches Gemurmel rechts von ihm. Arabisches Geplapper irgendwo bei seinen Füßen. Und noch immer das fröhliche Summen des chinesischen Anästhesisten. Es wunderte ihn, dass sie sich alle damit abfanden, mit seiner geisteskranken, frenetischen Melodie, aber keiner sprach ihn deswegen an. Der Anästhesist schien in seiner eigenen Welt zu sein, zufrieden mit sich und nur beiläufig mit der laufenden Operation beschäftigt.

– Ich gehe jetzt tiefer, Alan, sagte Dr. Hakem.

Die Bewegung war jetzt die eines Eiscremeverkäufers, der hineinstieß, drehte, heraushob. Dann erneutes Tupfen, Wischen. Alan sah im Geiste sein Blut aufsteigen, über seinen Rücken fließen, endlich frei.

Er konnte Dr. Hakem atmen hören, mühsam, während sie zog und tupfte. Eine Reihe von Schnappgeräuschen ertönte, als könnte die gummiartige Substanz in ihm nur durch ein äußerst kraftvolles Zerren gelöst werden. Alan erwog die Möglichkeit, dass Dr. Hakems Schweigen der Beweis dafür war, dass sie etwas gefunden hatte. Unter der gutartigen Masse des Lipoms hatte sie etwas gefunden. Etwas Schwarzes und Schicksalhaftes.

Alan versuchte, seinen Verstand anderweitig zu beschäftigen. Er dachte an das Meer, das Zelt, daran, was die jungen Leute jetzt wohl machten. Er stellte sich vor, wie man sie von seinem Tod hier verständigte, auf diesem Tisch in diesem Raum aus blauen Zementsteinen. Was würden sie sagen? Sie würden sagen, er habe gern lange Spaziergänge gemacht. Gern lange geschlafen.

Er dachte an Kit. Kit allein, ohne ihn. Das wäre problematischer. Ruby brauchte ein Gegengewicht. Er hatte Kit vor einem Jahr weggeholt, als sie und ihre Mutter gestritten hatten. Er hatte sie von der Schule genommen, und sie waren nach Cape Canaveral gefahren, um das Shuttle zu sehen. Es waren nur noch wenige Flüge geplant.

Am Tag vor dem Start nahmen sie an einer Führung über das Gelände teil. Die Stimmung unter den NASA-Leuten war explosiv – düster, verbittert, gelöst, trotzig. Ein Werbevideo behauptete, dass die NASA nicht bloß Milliarden in Raketen steckte und sie ins All schoss.

Die Besichtigungstour führte ein Mann, der gerade achtzig geworden war und Norman hieß. Er war seit 1956 bei der NASA gewesen. Er stieg in den Bus, Gehstock in der Hand, setzte sich vorne hin, nahm das Mikro und sagte mit einem starken texanischen Akzent und bebender Stimme: Das wird meine letzte Tour, und ich freue mich, hier bei Ihnen zu sein.

Kit redete die ganze Zeit, was sie immer tat, wenn sie zusammen waren. Sie verbrachten Stunden in dem Bus, der sie zum Space Center und wieder zurück brachte, zum Aussichtsturm mit Blick auf die Startrampen und wieder zurück, insgesamt etwa zehn Stunden in dem Bus, und sie handelten alles ab. Sie redete über ihre verrückte Mitbewohnerin, den schönen, aber eintönigen Campus und darüber, dass sie wirklich bald Freundschaften schließen müsste, weil sie sich entwurzelt und losgelöst fühlte. Alan versuchte, sie auf dieselbe Art zu beruhigen, wie er das immer getan hatte.

– Ich bin das Auge am Himmel, sagte er. Ich kann sehen, wo du aufgebrochen bist und wohin du gehst, und von hier oben sieht das alles richtig gut aus. Er verwendete diese Metapher, seit sie in der Mittelstufe war. Du bist schon fast da. Fast da.

Norm führte sie zu dem Gebäude, in dem die Mechaniker die Shuttles vor und nach den Flügen reparierten und vorbereiteten. Die Atlantis war da, wurde gerade für ihren letzten Start fertiggemacht, den allerletzten Start. Überall liefen emsige Besichtigungsgruppen herum, doch Norm war düster.

– Ich kann diese Touren nicht mehr lange machen, sagte er. Ich will nicht sagen müssen: »Wir haben dies getan, wir haben das getan.«

Die meisten NASA-Mitarbeiter, denen sie an dem Wochenende begegneten, würden bald arbeitslos sein. Sie waren nicht die spießigen Technokraten, mit denen Alan gerechnet hatte. Nein, sie waren umgänglich, gerieten schnell ins Grübeln und glitten oft ab, wenn sie über einen bestimmten Flug sprachen, das Wetter an einem bestimmten Tag, an dem das Shuttle durch ein Loch in den Wolken schoss.

Etwas durchbohrte Alans Brustkorb. Es fühlte sich an wie eine Eisenbahnschwelle, dick und stumpf. Sein Körper verkrampfte sich.

– Tut mir leid, Alan, sagte Dr. Hakem.

Der Schmerz ließ nach. Die Bewegungen fielen wieder in einen gewissen Rhythmus, verlässlich in seiner Ordnung: Es wurde gelöffelt, geschabt, gezogen, und dann kam ein Moment der Erleichterung, wenn irgendeine Extraktion gelungen war, wie Alan vermutete. Dann das Tupfen des Schwamms, eine Pause und weitere Ausgrabungen.

Es war interessant, so etwas zu sein, ein Kadaver, ein Experiment. Wer hatte gesagt, der Mensch ist Materie? Er kam sich vor wie etwas noch Geringeres.

In der Nacht, in dem Hotel in Orlando, aßen er und Kit Snacks aus den Automaten und sahen sich Filme an und versuchten, nicht über Ruby zu sprechen oder die Zukunft mit Ruby, die Vergangenheit mit Ruby, die Verletzungen durch Ruby.

Am nächsten Morgen nahmen sie einen Bus zum Banana Beach, die nächstgelegene Möglichkeit, den Start zu beobachten. Alles dort, alles, was mit der NASA zu tun hatte, war heruntergekommen, marode. Die Zäune waren verrostet. Der Asphalt rissig. Aber dennoch würde jenseits des Wassers ein Raumschiff unter von Menschen gemachtem Donner die Erde verlassen.

Während sie auf den Start warteten, lernten sie einen echten Astronauten kennen, Mike Massimino, der mit seiner Tochter dort war. Er war witzig, offenherzig, zurückhaltend. Er war mit zwei Shuttles geflogen, einschließlich des ersten, nachdem die Columbia beim Wiedereintritt auseinandergebrochen war. Er sah aus wie ein Astronaut, gepflegt, silberhaarig und stämmig in seinem babyblauen Overall, aber er war überdurchschnittlich groß, knapp ein Meter neunzig, mit einer römischen Nase und einem starken Long-Island-Akzent. Er erzählte von seinem Spacewalk, um das Hubble-Teleskop zu reparieren, von den achtzehn Sonnenunter- und Sonnenaufgängen innerhalb von vierundzwanzig Stunden da oben, was manche Religionen vor echte Probleme stellte – Morgengebete, Nachmittags- und Abendgebete: echt schwierig. Aber für einen Katholiken geht das in Ordnung, sagte er. Die erwarten nicht mehr, als dass man sich etwa einmal die Woche meldet.

Kit lachte. Er erzählte, dass die Sterne vom Weltraum aus betrachtet nicht funkeln, dass sie ohne die Atmosphäre ganz vollkommene Lichtpunkte sind. Dass seine Crew während der wenigen Stunden Freizeit sämtliche Lichter im Shuttle abgeschaltet hatte, um sie besser sehen zu können. Die NASA war ein Verein von Romantikern.

Jetzt griff Dr. Hakem tiefer. Alan zuckte, sein Körper fuhr zusammen.

– Alan? Ihre Stimme war besorgt, überrascht.

– Mir geht’s gut, sagte er.

– Ich werde Dr. Poritzkowa bitten, Sie etwas besser zu stabilisieren.

Alan brummte zustimmend, und schon spürte er etwas, das sich anfühlte wie der gesamte Unterarm eines Mannes auf seinem Kopf. Das Gewicht war enorm, viel zu viel für die zu bewältigende Aufgabe. Alan versuchte, sich darunter zu bewegen, den Druck etwas abzumildern, vergeblich.

Dr. Hakem schabte und zog weiter, und der Schmerz nahm zu. Welcher Idiot bittet denn um weniger Betäubungsmittel? Es war zu spät, etwas an der Situation zu ändern. Er würde es aushalten. Er würde es durchstehen müssen. Sein Vater würde über seine Beschwerden lachen und ihm den Granatsplitter zeigen wollen, der auch sechzig Jahre nach dem Krieg noch immer unten in seinem Rücken steckte. Niemals würde Alan der Diskrepanz entgehen zwischen dem, was er erlebt oder erduldet hatte beziehungsweise je erleben oder erdulden würde, und dem, was sein Vater in dieser Richtung vorzuweisen hatte. Damit konnte er nicht gleichziehen.

– Alan? Alles in Ordnung?

Er ächzte, dass es ihm gut ging.

Und jetzt sah er einen Nachthimmel. Vielleicht starb er. Er starb untermalt vom Gesumme des Asiaten. Was war das für eine Melodie?

Der Druck auf seinem Kopf schien zuzunehmen. Der Russe wollte zeigen, was er konnte, so schien es. Sollte er ruhig drücken. Alan konnte es verkraften. Er zwang sich, sich zu lösen, den gepeinigten Körper zu verlassen.

Alan war noch nie niedergestochen oder angeschossen oder durchlöchert oder etwas gebrochen worden. Waren Narben der beste Beweis für gelebtes Leben? Wenn wir nicht irgendwas überlebt hatten und somit nicht sicher waren, gelebt zu haben, könnten wir uns selbst Narben beibringen, oder? War das die Antwort auf Ruby?

– Sind Sie noch da, Alan?

– Ja, sagte er zum Boden.

Der Unterarmdruck nahm zu. Das war zu viel.

– Können Sie dem Mann, der mich runterdrückt, sagen, er soll sich etwas bremsen?, fragte er.

Der Druck ließ nach, und der Mann gab einen erstaunten Laut von sich. Als hätte er gar nicht gemerkt, was er da machte.

Die Erleichterung war groß.

Bei früheren Starts hatte es Verzögerungen gegeben. Die Menschen reisten aus der ganzen Welt an, und es passierte tagelang, wochenlang nichts. Diesmal jedoch waren Alan und Kit da, auf den Aluminiumstufen mit Tausenden anderen, beobachteten den Countdown und rechneten jeden Moment mit einem Abbruch. Rechneten damit, dass der Start verschoben wurde. Wir haben so viele Fehler gemacht, schien der Countdown zu sagen, wir dürfen nicht noch einen machen. Doch er ging weiter. Alan hielt Kits Hand. Falls es passiert, dachte er, bin ich ein guter Vater. Falls ich ihr das hier zeige, habe ich etwas getan.

Der Countdown ging weiter. Als er bei 10 war, dann 9, war Alan sicher, dass es passieren würde, aber er konnte es nicht glauben. Dann 1, dann 0. Dann erhob sich das Shuttle lautlos, Meilen entfernt und jenseits des Wassers. Ohne einen Laut. Bloß ein gelbes Licht, das es nach oben trieb, und erst als das Shuttle schon auf halbem Weg zu den Wolken war, zerbarst die Luft.

– Dad.

– Überschallknall.

Als das Shuttle durch den weißen Wolkenbaldachin verschwand, weinte Alan, und Kit lächelte, weil sie ihn weinen sah, und hinterher suchte er hektisch nach Massimino, um ihm alles anzubieten, was er brauchte. Ich habe Fahrräder verkauft, würde er sagen. Ich habe Kapitalismus an Kommunisten verkauft. Lassen Sie mich das Shuttle verkaufen. Ich helfe Ihnen, zum Mars zu kommen. Geben Sie mir irgendwas zu tun.

Aber er fand Massimino nicht. Der Parkplatz war anschließend proppenvoll, und alle waren so glücklich, so stolz, so viele Menschen, die weinten und wussten, dass es vorbei war, dass die Highways total verstopft sein würden und sie den ganzen Tag brauchen würden, um zurück zu ihren Hotels zu kommen.

– Alan?

Er wollte Ja sagen, brachte aber nur ein Keuchen heraus.

– Wir nähen Sie jetzt zu. Es ist gut gelaufen. Wir haben alles herausgeholt.