XIII.
UM ACHT AM NÄCHSTEN MORGEN saß Alan wieder im Shuttle, mit denselben jungen Leuten. Sie plauderten über das Hotel und darüber, was sie am Abend vorher so gemacht hatten.
– Ich bin schwimmen gewesen im Pool, sagte Cayley.
– Ich hab eine Riesenportion Kuchen gegessen.
Alan hatte nicht geschlafen. Ein Karussell von Sorgen hatte seine Gedanken die ganze Nacht auf Trab gehalten, er hatte alles noch mal durchgekaut. Am Ende war es fast komisch. Als die Sonne über dem Meer aufging und er mit dem Gesicht schwer auf dem Kissen lag, hatte er leise in sich hineingelacht. Verdammt, verdammt, verdammt.
Als sie in die neue Stadt kamen, pappte ein Zettel an der Zelttür: Reliant: Willkommen zurück in der King Abdullah Economic City. König Abdullah heißt Sie willkommen. Bitte fühlen Sie sich wie zu Hause, und wir melden uns bei Ihnen nach der Mittagszeit.
Im Zelt war alles wie gehabt. Die vielen weißen Stühle standen im Halbdunkel. Nichts war angerührt worden.
– Sie haben uns Wasser hingestellt, sagte Rachel und deutete auf ein halbes Dutzend Plastikflaschen, die auf dem Teppich aufgereiht waren wie Artillerie.
Alan und das Team saßen in dem dämmrigen, kühlen Zelt. Die jungen Leute hatten aus dem Hotel etwas zu essen mitgebracht. Sie saßen fast den ganzen Vormittag vor einem ihrer Laptops und guckten einen Film.
Nach der Mittagszeit kam niemand von der Black Box.
– Sollen wir hingehen?, fragte Cayley.
– Ich weiß nicht, sagte Brad. Ist das üblich?
– Ist was üblich?, fragte Alan.
– Ist es üblich, so ungebeten aufzutauchen? Vielleicht sollten wir hier einfach warten.
Alan verließ das Zelt und ging Richtung Black Box. Er war durchgeschwitzt, als er ankam, und wieder wurde er von Maha begrüßt.
– Hallo, Mr Clay.
– Hallo, Maha. Hab ich heute die Aussicht, Mr al-Ahmad zu sprechen?
– Ich wünschte, ich könnte Ja sagen. Aber er ist heute in Riad.
– Gestern haben Sie gesagt, er wäre heute den ganzen Tag hier.
– Ich weiß. Aber seine Pläne haben sich gestern Abend geändert. Es tut mir so leid.
– Eine Frage, Maha: Sind Sie absolut sicher, dass wir nicht mit jemand anderem hier sprechen sollten?
– Jemand anderem?
– Jemand anderem, der uns mit dem WLAN weiterhelfen und uns vielleicht eine ungefähre Prognose geben könnte, wann mit dem König zu rechnen ist, mit unserer Präsentation?
– Es tut mir leid, Mr Clay. Mr al-Ahmad ist wirklich Ihr Hauptansprechpartner. Ich bin sicher, er kann es kaum erwarten, Sie zu sehen, ist aber unvermeidlicherweise aufgehalten worden. Er wird morgen hier sein. Ganz sicher.
Alan ging zurück zum Zelt. Sein Knöchel schmerzte.
Er setzte sich in der Dämmerung auf einen weißen Stuhl.
Die jungen Leute sahen sich einen weiteren Film an.
– Sollen wir irgendwas anderes machen?, fragte Cayley.
Alan fiel nichts anderes ein, was sie machen könnten.
– Nein, sagte er. Was ihr macht, ist in Ordnung.
Nach einer Stunde stand Alan auf und ging zu dem Kunststofffenster.
– Mir reicht’s, sagte er.
Er verließ das Zelt, war im ersten Moment ganz benommen von der Hitze, erholte sich und ging schweißnass zur Black Box.
Als er ankam, sah er Maha nicht. Es war niemand am Empfang. Gut, dachte Alan und durchquerte mit raschen Schritten die weitläufige Lobby.
Er fuhr mit dem Aufzug nach oben, die Türen teilten sich, und er stand unversehens mitten an einem, wie es aussah, sehr hektischen Arbeitsplatz. Männer in Anzügen gingen vorbei, Papiere in den Händen. Frauen in Abajas, den Kopf unbedeckt, hasteten hin und her.
Er ging den Flur hinunter, sah weder Nummern noch Namensschilder.
Alan hatte sich nicht überlegt, was genau er sagen würde, falls er hier auf einen Entscheidungsträger stieß. Der Neffe fiel ihm ein. Erwähne den Neffen. Und natürlich, dass Reliant weltweit führend war, ein Unternehmen wie geschaffen für eine Aufgabe wie diese hier. Geld. Romantik, Selbsterhaltung. Anerkennung.
– Sie sehen neu aus.
Eine Frauenstimme, tief und sonor. Er blickte auf. Eine weiße Frau, blond, etwa fünfundvierzig, stand vor ihm. Ihr Kopf war unbedeckt. Mit dem schwarzen Gewand, das ihr von den Schultern fiel wie ein Vorhang, sah sie aus wie eine Richterin.
– Ich bin hier mit jemandem verabredet, sagte er.
– Sind Sie Alan Clay?
Die Stimme. Sie bebte, als hätte jemand die tiefen Saiten eine Harfe gezupft. Ein Akzent aus Nordeuropa.
– Ja.
– Sind Sie mit Karim al-Ahmad verabredet?
– Das bin ich.
– Er ist heute nicht im Haus. Ich arbeite in dem Büro neben seinem. Er hat mir gesagt, ich sollte mich vor Ihnen vorsehen.
Alan riss sich zusammen und setzte ein strahlendes Lächeln auf. – Nein, nein. Ich bin bloß überrascht. Ich habe volles Verständnis. Hektische Zeiten hier, keine Frage.
Sie sagte, ihr Name sei Hanne. Sie hatte einen Akzent. Holländisch, tippte Alan. Ihre Augen waren eisblau, ihr Haar war rabiat streng geschnitten.
– Ich wollte eben eine rauchen gehen, sagte sie. Kommen Sie mit?
Alan folgte ihr durch eine Glastür auf einen breiten Balkon, wo andere KAEC-Mitarbeiter und Consultants rauchten, sich unterhielten, Tee und Kaffee tranken.
– Vorsicht, Stufe, sagte sie, aber es war zu spät. Er war über die Schiene unter der Tür gestolpert, und seine Arme flogen nach vorn, als wollte er fliegen. Ein Dutzend Augenpaare sahen, wie es passierte, und ein Dutzend Münder lächelten. Es war kein einfaches Stolpern. Es war komisch, wild, theatralisch. Der schwitzende Mann, der da reinkam, dessen Arme überallhin schlackerten, wie von unsichtbaren Puppenspielern gezogen.
Hanne lächelte mitfühlend und bedeutete ihm, sich ihr gegenüber hinzusetzen, auf eine niedrige Couch aus schwarzem Leder. Ihre Augen wirkten fast kokett, aber das war unmöglich. Nicht nachdem er sich gerade erst blamiert hatte. Wahrscheinlich nie.
– Sie arbeiten für Reliant?, fragte sie.
– Seit Kurzem, ja.
Alan massierte seinen Knöchel. Er hatte ihn sich noch mehr verstaucht.
– Und Sie sind wegen einer Präsentation hier?
– Wir möchten die Stadt mit IT beliefern, ja.
Sie plauderten eine Weile so weiter, während er sich umschaute. Keine der Frauen, ob Saudi oder nicht, hatte den Kopf bedeckt. Eine schwarze Plastiktrennwand auf beiden Seiten des Balkons verhinderte, dass sie irgendetwas anderes sahen als das Meer vor ihnen. Und, so dachte Alan, sie verhinderte ebenso, dass irgendwer von unten einen Blick auf die egalitäre und lockere Welt im Innern der Black Box werfen konnte. Das war das Katz-und-Maus-Spiel, das im Königreich gespielt wurde. Die Menschen wurden in die Rolle von Teenagern gezwungen, die ihre Laster und Vorlieben vor einer Schattenarmee aus Eltern verbargen.
– Wie läuft es denn so bei Reliant?, fragte sie.
Er erzählte ihr, was er wusste, was sehr wenig war. Er erwähnte ein paar Projekte, ein paar Innovationen, aber sie war ohnehin über das alles im Bilde. Wie sich herausstellte, wusste sie über alles Bescheid, was er machte, über sein Geschäft und alle anderen, die damit zu tun hatten. Binnen weniger Minuten, in denen sie einander kennenlernten, abschätzten, wo ihre Wege sich gekreuzt haben könnten, handelten sie eine Handvoll Consultingfirmen ab, die Kunststoffbranche in Taiwan, den Sturz von Andersen Consulting, den Aufstieg von Accenture.
– Dann sind Sie also hier, um sich ein Bild von der Lage zu machen, sagte sie, drückte ihre Zigarette aus und zündete sich eine neue an.
– Ich versuche wirklich bloß, mir ein Bild von der zeitlichen Planung zu machen. Wann wir damit rechnen können, irgendwas Neues über den König zu erfahren, so was eben.
– Was hat man Ihnen erzählt? Ich hoffe, die haben Ihnen nichts versprochen.
– Nein, nein, sagte er. Die haben sich recht deutlich geäußert. Aber ich hoffe dennoch, dass es bald so weit ist. Mir wurde der Eindruck vermittelt, dass unser Chef den König irgendwie kennt. Dass die Sache hier etwas zwischen den beiden wäre und, na ja, schnell über die Bühne gehen würde, Sie verstehen.
Ihre Augen registrierten neue Informationen. – Tja, das wäre gut für uns alle. Der König war schon eine Weile nicht mehr hier.
– Wie lange ist eine Weile?
– Nun ja, ich bin seit achtzehn Monaten hier, und er hat sich noch kein einziges Mal blicken lassen.