XXXII.

EIN BULLIGER GELÄNDEWAGEN bog in die Zufahrt zum Hilton. Er war auf Hochglanz poliert, und sämtliche Fenster und Lichter des Hotels spiegelten sich auf seiner Obsidianoberfläche. Unten an der Frontscheibe sah Alan seine Initialen, AC, als machte der Wagen Reklame für seine Klimaanlage. Er lächelte, und die Tür zum Fond schwang auf.

Alan sah zuerst ihre Beine. Sie trug eine Abaja, doch ihre Knöchel und Füße in hochhackigen Riemchenschuhen boten sich seinem Blick dar. Er schaute auf und sah, dass sie ihn anlächelte, das Gesicht heiter und amüsiert.

Deutlich sichtbar für ein Dutzend Hotelpagen und Bedienstete stieg er in den Wagen, vor aller Augen wurde ein Westler von einer saudischen Frau in den Wagen gebeten. Wie konnte das sein?

Alan nahm Platz und schloss die Tür hinter sich, und drinnen war es sehr dämmrig. Er begrüßte den Fahrer mit einem Lächeln und einem Nicken, und schon ging es um den Kreisel vor dem Hotel, vorbei an dem Soldaten auf dem Panzerwagen und hinaus auf die Schnellstraße.

Zahra trug ein loses Kopftuch über dem Haar, doch ihr Gesicht war unbedeckt. In dem goldenen Licht sahen ihre Augen größer und brauner aus als im Krankenhaus, und sie waren mit einem akkuraten Streifen blauen Lidschattens umrandet. Ihr Haar, mit dem sie, wie sie sagte, zu kämpfen hatte, war so dick, dass es nicht frisiert, sondern gemeißelt aussah. Vorne jedoch diese Vorhänge, die geteilt werden mussten. Sie tat es wieder, benutzte zwei Finger, offenbarte erneut ihr Gesicht.

Alan wollte etwas Bedeutsames sagen. Es gab vieles, was er sagen wollte, aber alles, was er sagen könnte, musste gründlich überdacht sein. Was konnte er im Beisein des Fahrers sagen?

– Was macht KAEC?, fragte sie.

Wie Yousef fand sie es amüsant, dass er so viel Gedankenarbeit und Hoffnung in die zukünftige Stadt investiert hatte. Die Art, wie sie KAEC aussprach, implizierte, dass sie das naiv und albern fand, eine Ablenkung von wichtigeren Dingen.

– Ganz gut, würde ich sagen. Die Arbeiten gehen voran.

Ihr Blick war skeptisch.

– Wirklich, sagte er. Es braucht eben seine Zeit.

– Sehr viel Zeit, sagte sie.

Sie brausten durch die Stadt, vorbei an glitzernden Geschäftszentren und von hohen Mauern umgebenen Compounds. Der Fahrer zeigte aus dem Fenster und warf ein paar Wörter über die Schulter.

– Er sagt, das da ist das Haus des saudischen Maradona. Er denkt, das beeindruckt uns. Beeindruckt es Sie?, fragte sie.

Alan hatte nicht mitbekommen, welches Haus der Fahrer meinte, aber sie fuhren jetzt durch eine eigenartige, aber für Dschidda typische Wohngegend, wo auf der einen Straßenseite von Mauern geschützte Luxusvillen standen, pastellfarben gestrichen und Millionen wert, während sich auf der anderen Seite ein riesiges unbebautes Gelände erstreckte, auf dem Hunderte Lastwagen ihren Bauschutt abgeladen hatten. Überall ordentliche Geröllberge. Alan wollte Zahra danach fragen, vermutete aber, dass das irgendwie als Beleidigung aufgefasst werden würde. Er wusste nicht, wie stolz oder unstolz sie auf ihr Land war. Er wusste es noch nicht.

– Wasser?

Sie hatte zwei Gläser Wasser in den Getränkehaltern.

Er trank einen Schluck.

– Gut?, fragte sie.

– Danke.

Sie hob ihr Wasserglas an die Lippen, und sie so zu sehen, die Augen geschlossen, brachte Alan unversehens auf wilde Gedanken. Sie stellte das Glas ab, und ihre Zunge fing rasch einen Tropfen auf.

– Die Fahrt dauert über eine Stunde, sagte sie. Bis wir da sind, haben wir alles Wichtige übereinander erfahren.

Und das stimmte mehr oder weniger. Sie erzählte ihm von ihrer Schulzeit in Genf. Von einem ehemaligen Freund, der jetzt versuchte, die tunesische Regierung zu stürzen. Von ihrem einmaligen Versuch mit LSD. Ihrer Arbeit für Islamic Relief, in Flüchtlingslagern in Kurdistan. Einem Jahr in einem Krankenhaus in Kabul. Während Alan ihr zuhörte, fühlte er sich wie eine viel unnützere Art seiner Gattung.

– Sie werden also dem König begegnen, sagte sie.

Er hoffte, dass ihr das imponierte. – So ist es geplant.

– Und machen Sie persönlich die Präsentation für Abdullah oder …?

Alan wünschte, er könnte Ja sagen. Aber er war zu geübt in Selbstdemontage, also sagte er: – Wir machen das im Team. Eigentlich verstehe ich nicht viel von Technologie. Ich bin hier, weil ich seinen Neffen kenne oder kannte.

– Und welche Konkurrenten habt ihr?, fragte sie.

– Ich weiß nicht. Im Augenblick sind wir im Zelt die Einzigen.

– Im Zelt.

– Fragen Sie lieber nicht.

– Okay.

Sie wandte sich dem Fenster zu, als suchte sie nach einer Eingebung. – Es wird interessant werden, jetzt, wo die Chinesen mehr Öl beim König kaufen.

Alan hatte das nicht gewusst.

– Ich frage mich, fuhr sie fort, ob das so weitergeht. Ich frage mich, ob Abdullah und der ganze Stab plötzlich die Verbündeten wechseln. Vielleicht seid ihr nicht mehr der Favorit.

Alan wurde plötzlich woandershin versetzt, weit weg von diesem Auto, von Zahra. Auf einmal war er in einem Raum in Boston, zusammen mit Eric Ingvall, der ihn fragte, was schiefgelaufen war, warum er das nicht vorausgesehen, mit einkalkuliert hatte. Und dann Kit und ihr College. Und dann das Geld, das er jedem schuldete, den er kannte.

– Tut mir leid, sagte Zahra. Keine Sorge. Ich bin sicher, Sie haben keinen Grund zur Sorge. Ich bin sicher, Sie und Ihre Leute bleiben noch ein paar Jahre mit Vorzugsbehandlung.

Sie lächelte verschlagen, klopfte mit dem Zeigefinger auf den Rand ihres Glases. Aber konnte sie recht haben? Keiner konnte preislich oder technologisch mit Reliant konkurrieren. Wer sonst hatte ein Hologramm? Er wusste es eigentlich nicht.

– Es tut mir leid, Alan. Ich hab Sie beunruhigt.

– Nein, nein. Keineswegs.

– Sie wirken plötzlich so geistesabwesend.

– Nein, nein. Verzeihung.

– Sie haben den Kontakt zu dem Neffen. Das ist bestimmt hilfreich. Abdullah ist sehr loyal, das weiß ich. Und jeder, der im Königreich Geschäfte machen will, sollte das ein oder andere Mitglied der königlichen Familie kennen.

Sie sprachen über Abdullah. Zahra schätzte ihn mehr als die Monarchen, die ihm vorausgegangen waren. Alan sagte etwas darüber, dass es doch wohl gut wäre, einen Reformer in Abdullahs Position zu haben, und verglich ihn bald darauf mit Gorbatschow und de Klerk. Als er fertig war, wusste er, dass er zu weit gegangen war. Aber Zahra entschied sich, das Chaos seiner Fehldeutungen zu übergehen und ein völlig neues Thema anzuschneiden.

– Ich habe Kinder, sagte sie.

– Hab ich mir gedacht, sagte er.

– Haben Sie sich gedacht?

– Vielleicht nicht direkt gedacht. Ich habe es für möglich gehalten.

– Ich dachte schon, Sie wollten andeuten, Sie hätten es meinen Hüften angesehen. So wie die Leute, die es am Gang einer Frau merken.

– So schlau bin ich nicht.

– Jedenfalls, sie sind inzwischen Teenager. Sie leben bei mir.

– Ihre Namen?

– Raina und Mustafa. Sie ist sechzehn, er vierzehn. Ich versuche, meinen Sohn daran zu hindern, so ein Arschloch zu werden wie sein Vater. Können Sie mir Tipps geben?

– Erzählt er Ihnen irgendwas?, fragte Alan.

– Haben Sie Ihrer Mutter irgendwas erzählt?

Nein, hatte er nicht. Mit wem redeten junge Männer? Junge Männer haben niemanden, mit dem sie reden können, und falls doch, wissen sie nicht, was sie sagen sollen oder wie. Und das ist der Grund dafür, warum sie die meisten Verbrechen auf der Erde begehen.

– Fahren Sie mit ihm allein irgendwohin. Vielleicht zum Campen.

Zahras Lachen zerriss die Luft.

– Alan, ich kann nicht mit meinem Sohn zum Campen fahren. Die Leute hier gehen nicht campen. Wir leben nicht in Maine.

– Fahrt ihr denn nicht in die Wüste?

Sie seufzte. – Manche wahrscheinlich. Die Jungen auf jeden Fall, um Autorennen zu fahren. Dann bauen sie Unfälle und landen in der Notaufnahme. Ich habe da zwei von ihnen gerettet. Aber meistens sterben sie.

Alan sagte, dass er schon davon gehört hatte.

– Von Ihrem Fahrer?

– Yousef. Prima Junge.

– Und er hat hier nichts zu tun.

– Genau das sagt er auch.

Zahra schob den Vorhang ihrer Haare auf, und diesmal, weil sie in ihrem Wagen waren und die Küste entlangfuhren und die Sonne draußen war und drinnen Sonnenstreifen, verschlug es ihm kurz den Atem.

– Was ist?, fragte sie.

Er lächelte in sich hinein.

– Sie lachen, weil ich diesen Tick mit den Haaren habe. Mein Mann hat sich oft darüber lustig gemacht.

– Nein, nein. Mir gefällt das.

– Ach, hören Sie auf.

– Ehrlich. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr es mir gefällt.

Sie verzog ihr Gesicht zu einem Ausdruck vorsichtigen Vertrauens.

Die Straße atmete ein und aus, umarmte die Küste. Es kam ihm so vor, als könnte er das Sonnenlicht um sie herum schmecken, könnte es berühren. Er liebte das alles, die leeren Grundstücke, auf denen sich der Müll türmte. Er liebte die medizinische Hochschule, in der es ein Woman’s College und ein Man’s College gab – zwei Enden desselben Gebäudes, das vage an Jeffersons Monticello erinnerte.

– Es ist beinahe komisch, nicht?, sagte sie.

– Es hat eine gewisse Klarheit.

Sie lachte, taxierte ihn dann erneut.

– Sie sollten nicht nervös sein.

– Wirke ich so? Ich war bloß verzückt.

– Sie wollen mich nicht ansehen.

– Ich hab mir nur die Landschaft angeschaut. Die erinnert mich an so viele andere Küsten. Die rosa Lehmziegelbauten am Wasser. Die weißen Jachten.

Er lehnte sich zurück, betrachtete das vorbeigleitende Meer, die daneben gespannte Halskette aus sonnengebleichten Häusern.

– Wo kommen Sie her?, fragte er.

– Meinen Sie, wo meine Eltern herkommen? Deren Eltern?

Er wusste, dass es eine beispiellose Kombination von Völkern sein würde.

– Ja, sagte er. Ist das eine seltsame Frage?

– Nein, nein. Die kommen wirklich von überall her. Von hier, aus dem Libanon. Ein bisschen arabisches Blut, aber meine Großmutter war Schweizerin. Ein Urgroßvater war Grieche. Ein bisschen Holländer ist auch dabei, und natürlich habe ich viele Verwandte in Großbritannien. Ich habe alles in mir.

– Das möchte ich auch.

– Haben Sie wahrscheinlich.

– Ich weiß nicht genug darüber.

– Sie könnten es herausfinden, Alan.

– Ich weiß, ich weiß. Ich möchte herausfinden, wo alle herkommen. Jede Seite von mir. Ich werde mich umhören.

Sie lächelte. – Wird wahrscheinlich Zeit. Dann wurde ihr klar, dass sich das vielleicht wie Tadel angehört hatte, und sie fügte hinzu: Ich meine, Sie haben reichlich Zeit.

Alan war keineswegs beleidigt. Er gab ihr vollkommen recht.

– Was würden unsere Kinder wohl hiervon halten?, fragte er.

– Wovon? Von Ihnen und mir? Weil mit uns sozusagen zwei Kulturen aufeinanderprallen?

– Könnte man so sagen.

– Ich bitte Sie. Uns trennt nur ein hauchdünnes Fädchen.

– Tja, genau so seh ich das auch.

– Genau so ist es. Sie sah ihn streng an. Ich lasse nicht zu, dass wir solche Spielchen spielen. Das ist so ermüdend. Überlassen Sie das den Studenten.

Die Zufahrt wurde von einem Stahltor unterbrochen, das der Fahrer mittels eines Knopfs irgendwo an der Sonnenblende aus dem Weg schaffte. Es glitt beiseite und gab den Blick frei auf ein bescheidenes einstöckiges Haus, cremefarben und weiß, mit Bogenfenstern, rosa Türen und Vorhängen.

Als sie eintraten, blieb der Fahrer im Eingangsbereich, während Zahra Alan nach hinten führte, in ein Zimmer mit Blick aufs Wasser. Sie goss ihnen beiden Saft ein und setzte sich neben ihn auf die Couch. Das Meer draußen war grellblau, mit kleinen Schaumkronen betupft. Auf der anderen Seite des Zimmers hing ein Gemälde, das anscheinend die Schweizer Alpen darstellte.

– Seltsam, in einem Strandhaus, bemerkte Alan.

– Jeder will irgendwo anders sein, sagte sie.

Sie starrten das Bild an.

– Es ist furchtbar, nicht? Mein Bruder kauft überall, wo er hinkommt, Gemälde. In jedem Ferienort. Er hat einen schauerlichen Geschmack.

– Haben Sie schon mal Schnee gesehen?

Zahra schaute zur Decke und lachte, eine blitzartige Entladung.

– Wie bitte? Alan, Sie sind mir ein Rätsel. Sie sind so klug, was manche Dinge angeht, und bei vielen anderen sind Sie so blind.

– Woher soll ich denn wissen, ob Sie schon mal Schnee gesehen haben?

– Sie wissen, dass ich in der Schweiz studiert habe. Da gibt es Schnee.

– Kommt drauf an, wo.

– Ich bin schon zigmal Ski gelaufen.

Er wusste nicht, was er sagen sollte.

– Ach, Alan.

– Okay, Sie haben schon mal Schnee gesehen. Sorry.

Sie sah ihn an, schloss die Augen und verzieh ihm.

Sie trank den Rest von ihrem Saft und lachte dabei ins Glas.

– Zeit zu schwimmen.

– Wieso schwimmen?

– Wir gehen schwimmen. Sie können die Badehose meines Bruders nehmen.

Er zog sich im Bad aus, stieg in eine blaue Shorts, und als er fertig war, ging er zu der Glastür, durch die man auf einen kleinen Sandstrand gelangte und zu einer Art Rampe, die ins Wasser führte. Sie war aus Beton und sah aus wie ein Unterwasserlaufsteg, von der rückwärtigen Terrasse ins Meer. So akkurat und geometrisch wie eine Bootsrampe.

Er spürte ihre Berührung im Rücken.

– Fertig?

Nur ihre Finger, und er verlor völlig die Fassung.

– Klar. Los geht’s, sagte er und verabscheute sich selbst.

Er wagte es nicht, sich umzudrehen. Er würde bald genug Gelegenheit haben, sie in ihrem Badeanzug zu sehen. Sie blieb hinter ihm, und ihre Finger blieben auf seinem Rücken, und er bewegte sich nicht, ganz bewusst. Sie sah, dass er die eigenartige Rampe betrachtete.

– Mein Onkel hat gern geschnorchelt, also hat er die für sich selbst gebaut. Das Ding ist hässlich und maßlos, aber es funktioniert. Die Fische sind noch da.

Ihr Onkel hatte tatsächlich den Meeresboden ausbaggern lassen, um bequem ins Wasser zu kommen, ohne auf Korallen treten zu müssen.

– Gehen Sie schon mal rein, sagte sie und reichte ihm eine Taucherbrille mit Schnorchel. Ich komm nach. Ich muss dem Fahrer sagen, er soll für mich eine Besorgung machen.

Er öffnete die Tür, trat nach draußen und ging zum Wasser. Es war hier kälter als in König Abdullahs entstehender Stadt. Nach dem Laufsteg war der Meeresboden steinig und fiel steil ab.

Alan schwamm auf der Stelle und setzte sich die Schnorchelbrille auf. Er drückte das Gesicht unter Wasser und sah sofort, dass das Meer klar war und voller Korallen. Ein Wirrwarr von leuchtend orangen Fischen kam in Sicht. Er schob sich weiter hinaus, folgte der Linie aus Korallen auf dem Grund. Sie waren herrlich lebendig und gesund, wenn auch nicht unberührt. Innerhalb von Minuten sah er einen großen Anemonenfisch, der im Kreis schwamm, einen Kugelfisch, der sich mit seinen zu klein geratenen Flossen vorwärtsarbeitete. Einen Schwarm Doktorfische, einen Rotnacken-Papageienfisch. Einen umherstreifenden Korallen-Zackenbarsch mit seinem ständig unzufriedenen Gesichtsausdruck.

Alan tauchte auf, um Luft zu schnappen. Es gab zu viel zu sehen, zu viele Farben, die Formen absurd. Als er zum Haus hinüberschaute, wo Zahra blieb, sah er nichts. Weil er nicht den Eindruck erwecken wollte, als wäre er ungeduldig, wandte er sich vom Strand ab und folgte den Korallen am Meeresgrund weiter nach draußen, in tiefere Bereiche, wo er größere Fische sah, die ungehindert zwischen seichtem und tiefem Wasser hin und her wechselten. Weiter vorne ging es extrem steil nach unten. Dort war das Wasser tintig, der Boden unsichtbar. Eine Gestalt schoss vor seine Maske. Sie war hell, blendend, riesig. Er strampelte und tauchte auf, versuchte, sie von oben zu sehen.

Auch die Gestalt kam hoch. Es war Zahra.

– Alan!

Ihm hämmerte das Herz.

– Ich wollte Sie erschrecken, aber doch nicht so schlimm.

Er hustete.

– Es tut mir ehrlich leid.

Endlich konnte er sprechen. – Ist schon gut. Ich hätte mich nicht so erschrecken müssen.

Er schaute sie an. Er sah ihren Kopf, das Haar hochgebunden, die Kieferpartie frei – sehr viel zarter, als er sie sich vorgestellt hatte. Sie war wunderbar nass, ihr schwarzes Haar glänzte, ihre Augen leuchteten.

Aber alles andere war unter Wasser.

– Ich muss wieder runter, sagte sie. Nachbarn.

Sie deutete mit dem Kinn auf die Häuser, die die kleine Bucht säumten.

– Aber ich muss Sie warnen. Ich bin gekleidet wie Sie. Falls irgendwer uns schnorcheln sieht, wird er denken, das sind bloß zwei Männer. Bloß zwei unbedeckte Rücken und Badehosen. Verstehen Sie?

Er dachte, er hätte verstanden, aber er verstand nicht. Nicht, bis er seine Maske wieder ins Wasser tauchte. Dann sah er es. Sie trug kein Oberteil. Ihre Shorts waren blau gestreift, Männershorts. Ihm stockte der Atem. Mein Gott. Er folgte ihr, beobachtete ihre starken Beine, ihre langen Finger, die durchs Wasser schleiften, während die Sonne sie überall berührte, Blitzlichter aufflammten.

Sie drehte sich zu ihm um, lächelte wild um ihre Maske, als wollte sie sagen: Überrasch ich dich? Sie wusste ungefähr, wie gut sie war, wie sehr sie ihm gefiel. Dann wandte sie sich wieder ab, ganz konzentriert, und zeigte nach unten, auf die Tausende von Fischen und Anemonen in jeder vorstellbaren Farbe, alles lebendig und nach oben greifend.

Er sehnte sich danach, ihr näher zu sein, alles zu haben. Er wollte zufällig gegen sie stoßen, sich mit ihr im Wasser drehen und winden, in ihren Mund schreien. Er begnügte sich damit, ihr zu folgen, vergaß die Fische und Korallen unter ihm für einen Blick auf ihre Brüste, die von ihr wegtauchten, leuchteten, schwangen.

Sie versuchte, ihn dazu zu bringen, dass er neben ihr schwamm, aber er blieb weiter hinten, hoffte, ihre Sicht auf ihn einzuschränken. Sie schwammen ein wenig den Strand entlang, und er nutzte eine Gelegenheit, fasste ihren Knöchel, tat so, als wollte er sie auf einen übergroßen Anemonenfisch in der Tiefe aufmerksam machen. Sie kam zu ihm und nahm seinen Arm in die Hand, drückte. Endlich. Seine Antwort. Er war sicher. Aber was sollte er jetzt tun? Es gab zu viele Stimuli, in diesem Wasser, unter diesem Himmel, das Licht ein Gitterwerk, das sich über ihre leuchtende Haut bewegte. Nie hatte er etwas Schöneres gesehen als ihre Hüften, die sich hoben und senkten, ihre stoßenden Beine, ihren nackten, sich schlängelnden Oberkörper. Sie schwamm weiter hinaus und verharrte dort, wo der Grund steil in ein tiefes Dunkelblau abstürzte.

Sie stieg an die Oberfläche, und er folgte.

Sie nahm ihre Maske ab.

– Tief einatmen, sagte sie.

Er tat es. Und sie ging unter, die Hände nach oben gereckt.

Er folgte ihr nach unten. Sie durchstieß das Wasser und sank, drei, sechs Meter tief. Er holte sie ein, und als er bei ihr war, packte sie ihn, und er spürte sie an sich. Sie küsste ihn, ihre beiden Münder geschlossen, und dann küsste sie seine Brust, seine Nippel. Er sank tiefer, bis zu ihrem Bauch und küsste sie dort, stieg hoch, um ihre Nippel in den Mund zu nehmen, erst einen, dann den anderen, während ihre Finger durch sein Haar pflügten. Dann war sie weg. Sie schoss an die Oberfläche und er hinterher.

Als er Luft einatmete und die Sonne sah, war sie schon fort, mit dem Rücken zum Himmel, und rückte ihren Schnorchel zurecht. Er folgte ihr. Sie schwammen langsam zurück zum Haus, gaben wieder vor, Männer zu sein, Freunde. Als sie in die Nähe der Rampe kamen, drehte sie sich um und winkte ihm zurückzubleiben. Er zögerte, beobachtete sie. Sie stieg aus dem Wasser, warf sich ein Handtuch um und rannte ins Haus.

Er schwamm hin und her, tat so, als würde er schnorcheln, behielt aber das Haus im Auge, ob sich dort irgendwas tat. Schließlich sah er eine Hand aus einem der Fenster auftauchen und ihn hereinwinken. Er hastete die Rampe hoch und öffnete die Tür.

– Hier drüben, sagte sie.

Er folgte ihrer Stimme in einen anderen Raum. Dort saß sie im Schneidersitz auf dem Boden, angezogen, Kissen um sie herum verteilt. Sie trug Shorts und ein ärmelloses Top, beides weit, beides weiß. Der Schwung war dahin, zumindest für ihn, als er sich mit einem dümmlichen Lächeln ihr gegenübersetzte.

– Also, sagte sie.

Sie nahm seine Hand, verschränkte die Finger mit seinen. Sie schauten beide auf ihre verschlungenen Hände. Darauf konnte er nicht aufbauen, wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. Er ertappte sich dabei, dass er eine Schale mit Datteln betrachtete.

– Möchtest du eine?, sagte sie scherzhaft, gereizt.

– Ja, sagte er, ohne zu wissen, warum. Er nahm eine, kaute auf dem Fruchtfleisch, fühlte sich am Boden zerstört, wie immer, durch sich selbst, durch seine Unfähigkeit zu tun, was er tun sollte, wenn er es tun sollte.

Als er fertig war und den Kern sorgsam zurück auf den Teller gelegt hatte, rückte sie näher an ihn ran und legte sich auf die Seite. Er machte dasselbe, spiegelte ihre Haltung wider. Sie war so nah, dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spüren, das Salzwasser riechen konnte, schwach, auf ihrer Zunge.

Er lächelte sie an. Er wusste, dass sie diesen Positionswechsel als Aufforderung gemeint hatte, aber er war nicht darauf eingegangen.

– Das ist schön, sagte er, unfähig, sich irgendwas anderes einfallen zu lassen.

Sie lächelte geduldig. Er riss sich zusammen. Er wusste, dass er sie küssen musste. Und dann würde er sich auf sie legen müssen. Er malte sich die Schritte aus, wo er ihre Schulter auflegen, wo er seine Hände hintun würde. Es war so lange her. Acht Jahre, seit er solche Entscheidungen hatte treffen müssen.

Er blickte nach draußen, auf den sonnengetränkten Himmel, auf das Meer, unergründlich, und in beider Unermesslichkeit fand er Kraft. Eine Million Tote in diesem Wasser, Milliarden Lebende unter dieser Sonne, dieser Sonne, ein gleißendes weißes Licht unter Milliarden anderen wie sie, und deshalb war das alles hier nicht so wichtig und deshalb nicht so schwierig. Niemand sah zu, und niemand außer ihm und Zahra interessierte sich dafür, was in diesem Raum passieren würde – welche Kraft geboren aus Bedeutungslosigkeit! –, also konnte er eigentlich tun, was sie sich wünschte, nämlich, sie küssen.

Er bewegte sein Gesicht näher an ihres, an diese üppigen Lippen. Er schloss die Augen, ging das Risiko ein, sie zu verfehlen. Sie atmete durch die Nase aus, und die Wärme strich über seinen Mund. Seine Lippen berührten ihre. So weich, zu weich. Sie hatten keine Schwere – sie waren Kissen auf Kissen. Er musste fester pressen, um ein Gefühl zu bekommen, sie aufzudrücken. Zahra löste sie voneinander, öffnete ihm den Mund, und der Geschmack war der Geschmack des Meeres, tief und kalt.

Er nahm ihren Kopf in die Hand, ihr Haar war spröder, als er erwartet hatte. Es war nicht weich, nein. Er fuhr mit den Fingern hindurch bis zu ihrem Nacken, schloss die Hand um ihren Hinterkopf, zog sie näher an sich. Sie seufzte. Jetzt ihre Hand auf seiner Taille. Diese langen Finger, diese Nägel. Er wollte, dass sie zugriffen und packten und zogen.

Er bewegte seinen Mund zu ihrem Hals, fuhr mit der Zunge von der Schulter zum Kinn und schob sich auf sie. Dieser Geruch nach warmer Haut – das war Lohn genug. Sie murmelte zustimmend in sein Ohr, ihr Atem. Sie war entweder überaus nachsichtig oder glücklicherweise leicht zufriedenzustellen. Seine Ängste verflogen.

Ihre Hand griff über ihren Kopf, tastete nach einem Kissen. Er nahm ein Dekokissen, legte es unter ihren erhobenen Kopf. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke wieder, lächelnd, schüchtern, staunend. Diese Augen, groß wie Planeten – er wünschte sie sich jetzt geschlossen, damit sie ihn nicht ansah und neu einschätzte. Sie würde seine gelben Zähne sehen, seine Füllungen, seine vielen Narben, sein welkes Fleisch, das Flickwerk eines Lebens der Schlamperei und Nachlässigkeit. Aber vielleicht war er mehr als die Summe seiner kaputten Teile. Sie hatte schließlich in ihn hineingesehen, oder? Sie hatte totes Zeug aus ihm herausgezogen, hatte geschnitten und gezogen und getupft, und sie wollte trotzdem hier sein.

Sie zog ihn wieder zu sich herab, und sein Mund stieß auf ihren offenen Mund, und jetzt nahmen ihre Bewegungen eine Dringlichkeit an. Ihre Fingernägel harkten durch die Haare in seinem Nacken. Ihre andere Hand packte das Fleisch auf seinem Rücken.

An einer hinteren Wand sah er einen Spiegel. Sie waren darin sichtbar, und er sah seine Arme um sie. Er sah stark aus, seine Arme gebräunt, die Venen straff. Er war nicht abstoßend. Ich will keinen Sex haben, bei dem jemand anders nicht gern zusehen würde, hatte Ruby gesagt. Sie ging davon aus, dass mit fünfunddreißig alles vorbei sei. Ein jäher Schmerz durchfuhr ihn, ein kalter Blitz des Bedauerns, alles, was sie einander angetan hatten, der wesentliche Fehler seines Lebens, all die Zeit, die er damit vertan hatte, sie zu verletzen und sich von ihr verletzen zu lassen, die schrecklichen Dinge, die das bisschen Leben rauben, das wir haben. Er blickte wieder Zahra an, sah in ihre dunklen Augen, die ihm verziehen und jedes Mal aufleuchteten, wenn sie ihn lächeln sahen.

Er schob sich gegen sie und hörte sich selbst stöhnen.

– Danke dafür, sagte sie.

Er lachte in ihr Ohr und küsste sich hinunter bis zu ihrem Schlüsselbein.

– Willst du mich hinhalten?, fragte sie.

– Nein, nein. Oder?

– Rein mit dir, flüsterte sie.

Und er versuchte es, merkte aber, dass er noch nicht so weit war.

– Ich will das so sehr, sagte er.

– Da bin ich froh, sagt sie.

Aber sie mussten sich für unterschiedliche Schwächen entschuldigen, für Körperteile, die nicht oder nur zeitweise kooperieren wollten. Wenn er so weit war, war sie es nicht, und das ließ ihn schrumpfen. Dennoch liebkosten sie einander, verzweifelt, linkisch, mit sinkenden Erträgen. Irgendwann, als er versuchte, sich hinter sie zu schieben, traf sein Ellbogen ihre Stirn.

– Au.

Er gab es auf und sah zur Decke.

– Zahra, es tut mir echt leid.

Sie setzte sich auf, die Hände im Schoß.

– Bist du abgelenkt?

Er war nicht abgelenkt gewesen, kein bisschen. Im Gegenteil, er war so davon erfüllt gewesen, sie zu wollen, ihren Körper zu genießen, ihren Mund, ihren Atem, ihre Stimme, dass ihm kein anderer Gedanke durch den Kopf gegangen war.

– Vielleicht, sagte er.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu lügen. Er erzählte ihr von den Dingen, die ihn belasteten, von dem Haus, das sich nicht verkaufen ließ und nach Verfall roch, von dem Mann, der in den See gegangen war, von dem Geld, das er so vielen Leuten schuldete, dem Geld, das er brauchte, um seiner Tochter ein guter Vater zu sein, seiner prächtigen Tochter, die nicht bekommen würde, was sie verdiente, es sei denn, hier draußen in der Wüste geschah ein Wunder.

– Es muss ja nicht heute sein, sagte sie, aber für ihn klang es wie: Es muss gar nicht sein.

– Scheiße, sagte er. Scheiße Scheiße Scheiße Scheiße Scheiße Scheiße.

– Ist schon gut, sagte sie.

– Scheiße Scheiße Scheiße.

– Schsch, sagte sie, und sie lehnten sich gegeneinander, matt wie Preisboxer, und sahen der Sonne zu, die sich ins Meer ergoss.