XXIV.
AM NÄCHSTEN MORGEN fühlte Alan sich richtig fit und nahm den Shuttle mit den jungen Leuten. Die Sonne, heißer als an jedem anderen Tag bisher, schrie von oben Obszönitäten, aber Alan hörte nicht hin. Er sprach laut mit den jungen Leuten und machte Pläne. Heute, so erklärte er ihnen, würde er sich wenigstens einen ungefähren Zeitplan geben lassen. Ein paar Zusicherungen, etwas Respekt. Er würde nicht nur das mit dem WLAN klären, sondern auch das mit der Klimaanlage im Zelt. Er fühlte sich an diesem Tag stark, und weil er schon eine Weile niemanden mehr in der Black Box genervt hatte, würde er einfach reinmarschieren, Forderungen und Fragen stellen, so viel er wollte.
– Hoppla, Alan, wo kommen denn die großen Töne her?, fragte Rachel.
Alan wusste es nicht.
Er ließ die jungen Leute im Zelt und marschierte zur Black Box.
– Hallo, sagte Maha.
– Hallo, Maha. Wie geht es Ihnen? Ist Karim al-Ahmad heute da?
Alan hörte sich sprechen wie ein Vertreter aus einer anderen Zeit. Seine Stimme war laut, selbstbewusst, fast überheblich.
Geld! Romantik! Selbsterhaltung! Anerkennung!
– Nein, leider nicht.
– Und kommt er noch?
Maha sah ihn jetzt irgendwie anders an. Jetzt war er laut, vital, voller Erwartungen. Sie schien sich vor ihm zu ducken.
– Ich glaube nicht, sagte sie kleinlaut. Er ist in New York.
– Er ist in New York? Jetzt brüllte Alan fast. Ist Hanne da?
– Hanne?
Alan merkte, dass er ihren Nachnamen nicht kannte.
– Dänin? Blond?
Er meinte es als Frage, doch es kam raus wie ein Befehl: Blond!
Maha geriet aus dem Takt und sagte nichts.
Alan erkannte seine Chance.
– Ich geh einfach hoch, sie besuchen.
Was war da eben geschehen? Der Besuch bei Dr. Hakem hatte ihm eine seltsame Kraft gegeben. Er war ein gesunder Mann! Er war ein starker Mann! Bald würde er sich einer einfachen Operation unterziehen und dann noch stärker werden, und er würde siegen, siegen! Blond!
Und so ging er weiter ins Gebäude und zum Aufzug. Maha tat nichts, um ihn aufzuhalten. Er hatte das Gefühl, als könnte er hinauf in die dritte Etage fliegen, doch stattdessen nahm er den Aufzug. Es war, als hätte er eine Art Kryptonitkammer betreten, denn sobald er drin war, kehrte er zu seinem früheren Selbst zurück, und die Kraft verließ ihn.
Als er in Hannes Etage ankam, fand er ihr Büro und fand es leer vor. Er sah kein Anzeichen dafür, dass sie an dem Tag überhaupt da gewesen war.
– Kann ich Ihnen helfen?
Alan fuhr auf dem Absatz herum und sah sich einem jungen Mann gegenüber, nicht älter als dreißig, in einem schwarzen Anzug mit einer violetten Krawatte.
– Ich suche Hanne.
Er versuchte, wie der Mann zu klingen, der er in der Lobby gewesen war, konnte aber das Register nicht finden. – Die dänische Consultant!
Da war es. Vielleicht war es bloß Lautstärke? Einen Ticken lauter als höflich, und schon klangst du wie ein Präsident. Augenblicklich veränderte sich das Auftreten des Mannes. Er nahm Haltung an, setzte ein förmlicheres Gesicht auf. Lautstärke entschied also, ob man wie ein Niemand behandelt wurde oder wie ein Mann, der wichtig sein könnte.
– Die ist heute leider in Riad. Kann ich Ihnen helfen?
Alan streckte seine Hand aus. – Alan Clay. Reliant.
Der Mann schüttelte sie. – Karim al-Ahmad.
Der Mann, hinter dem er die ganze Zeit her war.
– Sie sind nicht in New York, sagte Alan.
– Nein, bin ich nicht, sagte al-Ahmad.
Sie standen einen Moment lang da. Al-Ahmad taxierte ihn. Alan verzog keine Miene. Schließlich wurde al-Ahmads Gesicht weicher, und er setzte ein Hochglanzlächeln auf. – Sollen wir uns unterhalten, Mr Clay?
Der Konferenzraum bot einen uneingeschränkten Blick auf das gesamte Projekt. Der Kanal war zu sehen, das Empfangszentrum und das Wasser dahinter. Al-Ahmad hatte sich für ihr verspätetes Treffen entschuldigt und ihn in den Konferenzraum gebeten.
– Limonade? Saft?
Alan ließ sich ein Glas Wasser geben, noch immer mit der Frage beschäftigt, warum dieser unerreichbare Mann im Gebäude war, wo doch die Empfangssekretärin das Gegenteil behauptet hatte. – Ihre Empfangssekretärin hat gesagt, Sie wären heute nicht da.
– Ich entschuldige mich für den Irrtum. Sie ist neu.
– Waren Sie in den letzten zwei Tagen da?
– Nein.
Alan starrte Karim al-Ahmad an. Er war jung und gut aussehend und gelackt, wie eine Skulptur aus Chrom und Glas. Seine Zähne waren blendend weiß, seine Haut hatte keine Poren. So wie er aussah, so frisch und gepflegt, und so wie er sprach, mit dem piekfeinen englischen Akzent, war es schwierig, ihm einen Vertrauensbonus zu geben. Männer wie er waren Vorbilder für Filmbösewichte. Als wüsste er, was Alan dachte, machte al-Ahmad genau in dem Moment etwas mit seinem Gesicht, verzog es zu einem entschuldigenden Lächeln, wodurch er nicht mehr ganz so gut aussah.
– Es ist nicht akzeptabel, wie Sie bislang behandelt worden sind.
Alan gefiel das. Nicht akzeptabel.
– Ich versichere Ihnen, kein Anbieter ist uns wichtiger als Reliant.
Alan beschloss, ihn beim Wort zu nehmen. – Das höre ich gern. Aber wir haben einige Probleme.
– Ich bin hier, sie zu lösen.
Al-Ahmad holte ein in Leder gebundenes Notizbuch und einen Füllfederhalter hervor, zog die Kappe ab und machte sich bereit. Die theatralische Art war irritierend, aber Alan legte los.
– Da draußen können wir unsere Präsentation nicht vorbereiten.
– Warum nicht?
– Wir brauchen ein Festnetz.
– Das kann ich nicht bieten.
– Wir brauchen wenigstens ein WLAN.
– Dafür sorge ich. Was noch?
– Die Klimaanlage funktioniert nicht. Meine Leute leiden.
– Das wird unverzüglich behoben. Was noch?
– Wie essen wir? Wir haben bisher Essen aus dem Hotel mitgebracht.
– Ab morgen werden Ihnen jeden Tag Mahlzeiten geliefert.
Alan fühlte sich ungeheuer mächtig. Er hatte keine Ahnung, ob irgendwas von dem tatsächlich geschehen würde, aber es machte Spaß, so zu tun, als ob. Dann stellte er die wichtigste Frage von allen.
– Wie lange werden wir auf den König warten?
– Das weiß ich nicht.
– Über den Daumen?
– Über was?
– Ich meine, können Sie ungefähr abschätzen, wie lange?
– Nein.
Jetzt steckte al-Ahmad das Notizbuch ein.
– Tage?
– Ich weiß nicht.
– Wochen?
– Ich weiß nicht.
– Monate?
– Ich hoffe nicht.
Alan fiel sonst nichts mehr ein. Der Mann hatte ihm alles bewilligt, worum er gebeten hatte, und er hatte ohnehin nicht damit gerechnet, dass er irgendetwas über den König wüsste. Er hatte sich mit der Tatsache abgefunden, dass keiner hier irgendetwas über König Abdullahs Schritte wusste. Zufrieden und begierig darauf, seinen Leuten all diese Nachrichten zu überbringen, stand er auf und streckte al-Ahmad seine Hand hin. Während sie sich die Hände schüttelten, bemerkte Alan etwas Seltsames, weit entfernt in dem Kanal tief unten.
– Ist das eine Jacht?
– Ja. Sie ist gestern eingetroffen. Segeln Sie?
Minuten später waren Alan und Karim al-Ahmad zu dem Kanal gefahren worden, wo man ihnen das Schiff zeigte, eine zehn Meter lange Sportfischerjacht, weiß und unberührt. Sie hatte drei Meilen auf dem Tacho. Sie war nagelneu.
– Haben Sie so ein Schiff schon einmal gesteuert?, fragte al-Ahmad.
Alan hatte mal etwas gesteuert, das dreißig Jahre alt und einige Millionen weniger wert war, aber das hier wollte er unbedingt ausprobieren.
– In etwa, sagte er.
– Ausgezeichnet, sagte al-Ahmad.
Der Mann, der sich um die Jacht kümmerte, ein schmächtiges Männlein namens Mahmoud, hatte ein kurzes Gespräch mit al-Ahmad, in dem al-Ahmad, wie Alan vermutete, Mahmoud überredete, Alan die Jacht den Kanal hinuntersteuern zu lassen. Derlei Privilegien war Alan als Führungskraft gewohnt – oder hatte sich früher mal daran gewöhnt. Er war schon Aston Martins Probe gefahren, hatte in Propellermaschinen kurz das Steuer übernommen. Aber vor allem hatte er geangelt. Die Schwinn-Leute pflegten eine Angelkultur, auf dem Lake Michigan und auch sonst wo.
Es gab Wochenenden in Wisconsin am Lake Geneva mit den VPs, mit ein paar Auserwählten der erfolgreichsten Einzelhändler. Alan vermisste das alles.
Al-Ahmad reichte ihm die Schlüssel.
– Ich vertraue darauf, dass Sie uns sicher fahren.
Alan steckte den Schlüssel in die Zündung und drehte ihn. Der Motor sprang dröhnend an. Alan fragte sich, was für ein Tempo oder Kurs hier ratsam wären, in einem Kanal von unbekannter Länge. Erstreckte er sich bis zum Meer mit einer Tiefe, die es ihm ermöglichte, die Stadt zu verlassen und hinaus aufs offene Wasser zu fahren?
– Sofern hier keine versteckten Sandbänke sind, passiert uns nichts, sagte Alan, und sie lachten beide, weil der Kanal so flach und klar war wie ein Swimmingpool.
Alan zog den Gashebel zurück. Sie verließen den Liegeplatz und gondelten die türkisfarbene Wasserstraße hinunter. Es war alles makellos – kein bisschen Schmutz im Wasser, keine Unebenheit auf dem Grund.
Die Luft, die noch Augenblicke zuvor stickig gewesen war, wurde jetzt von einem wunderbaren Wind aufgefrischt, der ihnen das Haar nach hinten wehte. Alan sah al-Ahmad an, der breit lächelte und die Augenbrauen hob, als wollte er sagen: Hab ich uns da was Schönes organisiert oder was? Alan liebte den Mann und liebte das Boot und den Kanal und diese entstehende Stadt.
Sie passierten die Anfänge von weiteren Gebäuden zu ihrer Rechten und sahen weiter vorn eine hohe Fußgängerbrücke. Al-Ahmad erläuterte den Plan für diesen Teil des Bauprojektes.
– Sie haben in Chicago gelebt, ja?, sagte er.
So in etwa sollte es werden, erklärte er, ein bisschen wie Venedig. Promenaden auf beiden Seiten des Wassers, zahlreiche Anlegeplätze mit Restaurants gleich davor, Wassertaxis. Es war etwas Ästhetisches, aber auch eine ökologische Entscheidung. Die Luft um Dschidda herum war oft smogbelastet, und auch die Kunststofffabriken würden Schadstoffe abgeben, daher versuchten sie, möglichst alle Emissionen zu verringern. Die Leute können mit dem Kajak zur Arbeit fahren.
– Ein Wasserbike nehmen, einen Gondoliere anheuern, was auch immer, sagte al-Ahmad. Biegen Sie hier ab.
Ein kleinerer Seitenarm zweigte von dem Kanal ab. Alan folgte ihm und sah bald darauf die Anfänge des Finanzzentrums, von dem ihm der amerikanische Architekt auf der Botschaftsparty erzählt hatte. Es war noch nicht viel zu sehen, bloß eine riesige Scheibe Land mitten im Wasser, aber es war trotzdem umwerfend. Die Glastürme, die sich aus diesem kristallenen Wasser erheben und sich drin spiegeln würden.
Alan wollte hierbleiben. Er wollte die Stadt wachsen sehen, und er wollte ein Jachtbesitzer sein. Vielleicht in Marina Del Sol. Was hatten sie da noch mal für eine Eigentumswohnung haben wollen? Nach diesem Deal könnte er sich das leisten. Und der Deal schien jetzt so gut wie unter Dach und Fach. Es war bloß noch ein Geduldsspiel. Al-Ahmad mochte ihn und vertraute ihm so sehr, dass er ihm erlaubte, eine leuchtend weiße Jacht durch die unberührten Kanäle der Stadt zu steuern. Alan war bereits Teil der frühen Geschichte dieser Stadt. Er umkreiste die Finanzinsel zweimal, dreimal.
Sie waren beide glückliche Männer, Visionäre. Alan hatte zum ersten Mal seit seiner Ankunft das Gefühl, dazuzugehören.
Zurück im Zelt stürmte Alan durch die Tür und sah, dass zwei der drei jungen Leute wach waren und an ihren Laptops arbeiteten. Cayley schlief in einer Ecke. Als er sie weckte und alle drei zusammenrief und ihnen die Neuigkeiten mitteilte, wurden sie mehr oder weniger augenblicklich die motivierten und kompetenten Leute, als die Reliant sie eingestellt hatte.
Binnen einer Stunde war das WLAN stark genug, um damit zu arbeiten. Al-Ahmad hatte sein Versprechen gehalten und sich zu Alans großer Erleichterung als der Mann erwiesen, der Dinge geregelt bekam. Bald darauf waren die Techniker im Zelt und reparierten die Klimaanlage. Schon am frühen Nachmittag waren es kühle zwanzig Grad, und die jungen Leute hatten die ganze Ausrüstung aufgebaut – die Leinwände, die Projektoren, die Lautsprecher. Sie hatten mit Klebestreifen die Markierungen auf der Bühne angebracht, hatten einen kurzen Probelauf gemacht.
Um vier Uhr waren sie so weit, das Hologramm zu testen. Sie stellten die Verbindung zum Londoner Büro her, der nächstgelegenen Reliant-Außenstelle, die die technischen Möglichkeiten dazu hatte, und um fünf Uhr, genau in dem Moment, als der Shuttle kam, hatten sie zwei komplette Durchläufe der zwanzigminütigen holografischen Präsentation erfolgreich abgeschlossen. Es lief alles wie am Schnürchen. Es war erstaunlich. Einer ihrer Kollegen in London schien in ihrem Zelt am Roten Meer auf der Bühne herumzuspazieren, konnte live auf Fragen antworten, konnte mit Rachel oder Cayley auf der Bühne interagieren. Eine solche Technologie hatte nur Reliant, nur Reliant konnte sie für einen entsprechenden Preis liefern. Die Entwicklung des Prototyps in den USA war katastrophal teuer gewesen, aber sie hatten einen Hersteller in Korea gefunden, der die Gläser für ihre Brillen bauen konnte, zu etwa einem Fünftel der Kosten in Amerika, noch billiger, wenn sie eine chinesische Fabrik damit beauftragen würden. Reliant würde pro Stück einen saftigen Profit einstreichen, aber mehr noch, die Telepräsenztechnologie war nur Teil eines umfassenden Reliant-Apparates an Basistelekommunikationsfähigkeiten, der Fähigkeit, eine ganze Stadt zu verdrahten, und bot im oberen Segment diese Art von Überraschung. Alan war absolut sicher, dass die Präsentation, wenn Abdullah käme, rasch zum Geschäftsabschluss führen würde.
Als die zweite Demo zu Ende war, klatschte Alan mit allen ab, und die jungen Leute lachten über seine Begeisterung. Aber sie lachten mit neu gefundener Achtung vor ihm. Er war ein neuer Mann, ein vitaler Mann. Sie wussten, dass das alles auf sein Konto ging. Er hatte geregelt, was geregelt werden musste, er hatte den Weg zu ihrem Erfolg geebnet, er war wieder Kapitän des Schiffes.