XVIII.
DER TAG WAR VORÜBER, und Alan fuhr in dem Kleinbus zurück nach Dschidda, zusammen mit den jungen Leuten, von denen alle die ganze Zeit schliefen oder so taten, als ob. Es war eine ruhige Fahrt. Am Hotel stiegen sie mehr oder weniger wortlos aus, und um sieben war Alan wieder in seinem Zimmer, allein. Er bestellte ein Steak, aß es und ging auf den Balkon. Er konnte ein paar Gestalten sehen, zig Meter weit unten, wie sie versuchten, die Straße zu überqueren und an den Strand zu kommen.
Sie machten Anstalten, wichen zurück. Der Verkehr war zu schnell. Schließlich schafften sie es, schlängelten sich hastig zwischen Lücken hindurch, und Alan hatte nichts dazugelernt.
Er blätterte die Hotelbroschüre durch und sah Fotos von dem Fitnessstudio, das Rachel erwähnt hatte. Völlig desinteressiert an sportlichen Aktivitäten nahm er den Aufzug ins Untergeschoss, wo er von einem Fitnessmenschen begrüßt wurde, der mit einem flauschigen weißen Handtuch um den Hals hinter einem sichelförmigen Schreibtisch saß. Alan erklärte ihm, dass er sich bloß umschauen wolle, um einen Trainingsplan aufzustellen, sagte er ernsthaft und erhielt prompt die Erlaubnis, in seiner Businesskleidung hineinzugehen.
Fünf Leute trainierten, alles Männer, die auf Laufbändern schwitzten und sich mit Nautilus-Geräten abmühten. Es roch chemisch sauber, und der Fernseher, in dem CNN lief, war laut. Die Aufsichtsperson sah zu Alan herüber, und er nickte nachdenklich, während er sich eines der Geräte ansah, als wollte er sagen, Ja, morgen werde ich mich in meinen Fitnessklamotten daran versuchen.
Dann ging er. Er schlenderte eine Weile in der Lobby herum und beschloss, sich hinzusetzen und zu beobachten. Er bestellte einen Eistee und sah zu, wie Saudis und Westler über die spiegelnde Fläche des Bodens glitten. Er lauschte dem Springbrunnen, der einen oder anderen erhobenen Stimme, die dreißig Meter hoch ins Atrium hallte. Das Hotel hatte wirklich überhaupt keinen eigenen Charakter. Er mochte das. Aber es war auch ein Hotel ohne Bar, und daher gab es für ihn hier unten nur sehr wenig zu tun. Oben wartete die Flasche. Also betrat er wieder den Glasaufzug und schwebte wieder hinauf in seine Etage.
In seinem Zimmer goss er sich ein paar Fingerbreit ein und fing an.
»Liebe Kit, irgendwas ist anders an mir. Entweder lässt mich dieses Ding im Nacken allmählich den Verstand verlieren oder ich hab ihn schon verloren.«
Nein, ermahnte er sich. Hör mit der Jammerei auf. Tu was Sinnvolles. Er trank einen Schluck. Die Flüssigkeit brannte ihm auf der Zunge, zog ihm den Gaumen zusammen. Die Augen tränten. Er trank erneut einen tiefen Zug.
»Liebe Kit, ich habe einige Fehler gemacht. Deshalb kannst Du im Herbst nicht zurück aufs College. Die Wahrheit ist schlicht und ergreifend. Ich hab Mist gebaut. Aber es wird Männern wie mir auch nicht leicht gemacht.«
Er fing von vorn an.
»Die gute Nachricht vorweg: Sieht ganz danach aus, dass dieser Saudi-Deal über die Bühne geht. Du kannst dich fürs Herbstsemester rückmelden. Bis dahin hab ich das Geld. Genug, um alles auf einen Schlag zu bezahlen. Das ganze Jahr im Voraus, wenn die Sauhunde drauf bestehen.«
Jetzt log er. Das hatte sie nicht verdient. Sie hatte nichts falsch gemacht. Und ja, die Wirtschaft war das eine, die Welt war das andere, diese Hochschulen waren überteuert, lächerlich überteuert – bei Gott, setzten sie die Höhe der Studiengebühren einfach wahllos fest und schlugen dann noch zehn Prozent drauf? –, aber dennoch. Hätte er besser geplant, wäre er nicht so inkompetent gewesen, dann hätte er, was immer Kit auch brauchte. Er hatte zwanzig Jahre gehabt, um 200.000 Dollar zu sparen. Wie schwer war das denn? Das machte zehntausend im Jahr. Viel weniger, wenn man irgendwelche Zinsen einberechnete. Er hätte bloß 60.000 Dollar sparen und das Geld in Ruhe lassen müssen. Aber er hatte es nicht in Ruhe gelassen. Er hatte damit gespielt. Er hatte es investiert, in sich selbst und andere. Er hatte gedacht, er könnte die 200.000 Dollar nach Belieben zusammenkriegen, in jedem beliebigen Jahr. Wie hätte er voraussagen können, dass die Welt das Interesse an Menschen wie ihm verlor?
Vor einem Jahr hatte er die Idee gehabt, eine neue Sorte Fahrräder auf den Markt zu bringen – klassisch, langlebig, für Sammler und Bastler und die Familien, die einfach etwas Unverwüstliches wollten. Also versuchte er, einen Kredit zu bekommen. Er kalkulierte, mit einer halben Million könnte er ein kleines Lagerhaus, ein paar Maschinen anmieten, ein paar Mechaniker und Konstrukteure einstellen, ein paar Prototypen bauen, ein paar Lkw kaufen. Er wusste, was er wollte – robuste, einfache Räder mit klaren Linien, reichlich Chrom, alles so gebaut, dass es tausend Jahre hielt und niemals langweilig aussah.
Er entwickelte ein realistisches Unternehmenskonzept, aber die Banken lachten ihn zur Tür hinaus. Sie wollen was bauen? Wo? Ich will Fahrräder bauen, sagte er. In Massachusetts. Das erheiterte alle. Jede Menge Heiterkeit vonseiten der Leute, die das Geld hatten. Ein Risikokapitaltyp hatte sogar am Telefon gelacht, ein kräftiges und echtes Lachen, das richtig lange anhielt. Alan, wenn ich Ihnen fünf Riesen gäbe, geschweige denn fünfhundert, wäre das für uns beide das Ende! Man würde uns einweisen lassen!
Es war kein guter Zeitpunkt, um von Banken Geld für ein Projekt zu erbitten, das sie für eine Donquichotterie hielten. Der netteste von den Kreditberatern verwies ihn an den Staat. Haben Sie schon mal vom Amt für die Förderung von Kleinunternehmen gehört?, fragte er. Schauen Sie sich deren Website an. Die ist sehr informativ und leicht verständlich.
Und so ging Alan zu immer kleineren Banken, deren Berater immer weniger kapierten, wovon zum Teufel Alan eigentlich redete. So etwas hatten sie überhaupt noch nie gehört. Ein paar von den Bankleuten waren so jung, dass sie noch nie ein Unternehmenskonzept gesehen hatten, das die Produktion von Dingen im Staate Massachusetts zum Ziel hatte. Sie dachten, sie hätten irgendeinen alten Schamanen ausgegraben, voller Erinnerungen an eine vergessene Welt.
Jetzt will er einen auf Gewerkschaftler machen!, sagte Ron lachend. Alan hatte den Fehler begangen, seinem Vater von seinen Plänen zu erzählen. Er dachte, die würden ihn beeindrucken. Vielleicht war es ein Wiedergutmachungsversuch? Ron war nicht solidarisch.
– Zu spät, Kleiner.
Wenn er Kleiner sagte, meinte er Loser.
– Ich glaube nicht.
– Du hast dabei mitgeholfen, das alles nach China zu verlagern. Du kriegst den Geist nicht zurück in die Flasche. Aber wieso solltest du auf mich hören? Wieso lässt du dir nicht von irgendwelchen Consultants sagen, was du tun sollst?
Ron hatte sich immer abschätzig über Consultants geäußert. – Was können die mir schon über mein eigenes Geschäft erzählen? Die werden unverschämt hoch dafür bezahlt, dass sie Kalkulationstabellen falsch deuten.
Alan fragte seinen Vater nie wieder um Rat.
Die wenigen Male, die Alan gebeten worden war, die Kreditunterlagen auszufüllen, entwickelte sich alles mit beunruhigender Geschwindigkeit von hoffnungsvoll zu tragisch. Und der Faktor, der sein Konzept von riskant zu toxisch verschob, war nicht die amerikanische Infrastruktur oder der Markt für in Amerika produzierte Waren oder die Konkurrenz aus China. Es war Banana Republic. Banana Republic blockierte nach und nach die Fähigkeit von Privatunternehmern wie ihm, sein Land vorwärtszubringen. Banana Republic blockierte seinen Kredit, und das hatte Amerika blockiert.
Alan hatte nie nachgefragt oder gewusst, was für einen Kreditscore er hatte, aber wie jede Bank oder sogar ein paar Risikokapitalfirmen ihm verrieten, machte sein Score ihn unantastbar. Sein Score, 698, lag rund 50 Punkte unter dem, was ihn als vertrauenswürdig oder auch nur menschlich kennzeichnete.
Nach tagelangen Nachforschungen wurde ihm klar, dass sein derzeitiges Finanzleben von einem einzigen Moment definiert wurde, der nun verhinderte, dass er überhaupt für einen Kredit jedweder Art infrage kam. Und dieser Moment war eine bestimmte, sechs Jahre zurückliegende Anschaffung, die er bei Banana Republic getätigt hatte.
Er brauchte ein neues Sakko, und der Verkäufer erklärte ihm, wenn er eine Banana-Republic-Kundenkarte beantragte, würde er an dem Tag fünfzehn Prozent Rabatt bekommen und könnte die Karte kurz danach wieder kündigen. Doch nachdem er die Karte gekündigt hatte, war sie aus irgendeinem Grund doch nicht gekündigt worden, und er erhielt weiter Rechnungen, aber weil er die Karte ja gekündigt hatte, öffnete er die Briefe nicht, weil er sie für Werbepost hielt.
So war er zunächst 30 Tage in Verzug und schließlich 90 und dann 120, und als Inkassounternehmen eingeschaltet wurden, bezahlte er die fälligen 32,00 Dollar, irgendeine Art Finanzgebühr, und meldete die Karte erneut ab.
Aber das alles hatte seinen Kreditscore unter 700 gedrückt, und jede Art von Kredit oder gar eine dritte Hypothek – eine zweite hatte er vor dem Banana-Republic-Debakel aufgenommen – war für ihn fortan illusorisch.
Die Bankleute deuteten nämlich auf den Score und warfen die Hände in die Luft. Wenn er dann erklärte, dass er seine Hypotheken, alle seine aktuellen Kreditkarten brav seit dreißig Jahren bezahlte, schienen sie das zu berücksichtigen und zu würdigen, aber eben nicht genug. Denn da war ja der Score.
Alan versuchte, sie zu überzeugen.
– Sie sehen meine aktuelle Kreditauskunft.
– Ja, Sir.
– Und Sie sehen, dass der einzige Schönheitsfehler diese Banana-Republic-Karte ist.
– Jawohl. Das ist der größte, da bin ich sicher.
– Und Sie werden doch einsehen, dass die sechs Jahre zurückliegende Belastung einer Banana-Republic-Karte mit 72,00 Dollar kein sehr bedeutsamer Indikator ist, gemessen an dreißig Jahren tadelloser Begleichung von Rechnungen und Hypothekenzahlungen, oder?
– Ja, durchaus.
Alan dachte, er hätte einen Durchbruch erzielt.
– Dann finden wir also eine Lösung?
Der Mann lachte. – Oh, nein. Tut mir leid, Sir. Der Score liegt unter unserem Schwellenwert. Wir können keine Kredite gewähren, wenn der Score des Antragstellers unter 700 liegt.
– Meiner ist 698.
– Ja. Aber sogar bei unter 740 wird eine Überprüfung auf höchster Ebene ausgelöst.
– Aber Sie erstellen diese Scores doch nicht mal selbst.
– Richtig.
– Das macht irgendeine Agentur. Experian.
– Richtig.
– Wissen Sie, wie die festlegen, welche Karten oder Zahlungen welche Abzüge bei Ihrem Kreditscore auslösen?
– Nein, nein. Das sind firmeninterne Informationen. Der Mann lachte leise, als würden sie beide über die Motivation von Gott persönlich nachdenken. Das ist alles sehr gut geschützt, sagte der Mann.
Alan rief bei Banana Republic an. Dort wusste man von nichts. – Wir befassen uns nicht mit Kreditkarten auf diesem Niveau, sagte eine Mitarbeiterin. Sie verwies ihn an ein Unternehmen in Arizona. Die Nummer in Arizona warf ihn wiederholt aus der Leitung, wie mit Absicht.
Das Zeitalter, in dem Maschinen über den Menschen herrschten, war angebrochen. Das hier war der Niedergang einer Nation und der Triumph von Systemen, die dazu bestimmt waren, menschlichen Kontakt, menschliche Vernunft, menschliche Einsicht und Entscheidungsfindung komplett zu vereiteln. Die meisten Menschen wollten keine Entscheidungen treffen. Und zu viele der Leute, die Entscheidungen treffen konnten, hatten beschlossen, sie Maschinen zu überlassen.
Alan stand auf. Die Linien des Zimmers verliefen überallhin, wie bei einem Mikadospiel. Er fand das Bett und erlaubte es ihm, ihn zu verschlingen. Es drehte sich wie ein Windrädchen. – Vielleicht hab ich zu viel getrunken, sagte er, in sich hineinlachend. Er legte eine Hand flach an die Wand, und das Drehen wurde langsamer und hörte auf.
Nicht schlecht, sagte er und fand sich sehr komisch und kompetent. Er hatte das Drehen anhalten wollen und hatte es getan. – Glückwunsch, junger Mann!, sagte er.
Alan sah in den Spiegel über dem Schreibtisch und dann auf das Telefon. Und während er es ansah, klingelte es.
– Hallo?
– Hier ist Hanne.
– Gut. Wie geht es Ihnen?
Sie lachte. – Ich hab gar nicht gefragt, wie es Ihnen geht.
– Tja, ich hab einfach gedacht, Sie sollten es wissen.
Sie lachte wieder, ihr leises Harfenzupfenlachen. – Sind Sie schon im Bett?
– Nein. Warum?
– In der Botschaft ist heute Abend eine Party.
– In der dänischen Botschaft?
– Ja, und das wird ein Zechgelage.
– Ich bin schon betrunken. Von Ihrem Schnaps.
– Das ist gut. Dann werden Sie nicht auffallen. Kommen Sie?