Kapitel 27

 

Keine halbe Stunde später - Rebecca hatte sich gerade eine Tasse Wintertee zubereitet - klingelte es an der Haustür. Ein Kurierfahrer überbrachte ihr einen gepolsterten Briefumschlag. Rebecca besah ihn sich von allen Seiten. Kein Absender. Mit dem Brief in der Hand schlurfte sie zurück in ihr Zimmer, setzte sich mit dem Rücken an die warme Heizung und nippte an ihrem Tee. Sie trank und wärmte sich die Finger und sah sich den hellbraunen Umschlag an. Hoffentlich nichts Schlimmes von der Uni. Das wäre endgültig zu viel für ihre Nerven. Ob sie ihn erst morgen öffnen sollte, wenn es ihr besser ging?

Sie trank einen weiteren Schluck. Dann hörte sie, wie die Haustür aufgeschlossen wurde.

»Rebecca bist du da?«, rief ihr Bruder. Lustlos erhob sie sich, um ihn zu begrüßen und um die leere Tasse in den Geschirrspüler zu stellen. Sie trat in den Flur.

»Klar, wo soll ich schon sein«, sagte sie.

 

»Ach Schwesterherz! Was sollen wir nur mit dir machen, damit du endlich wieder lachen kannst?«

Timo drückte sie und küsste sie dann auf die Stirn.

»Ist schon o.k.«, erwiderte sie, brachte ihre Tasse in die Küche und begann seufzend, den Geschirrspüler auszuräumen.

»Soll ich uns eine Pizza bestellen?«, fragte Timo und steckte den Kopf zur Tür herein. »Ups, falsches Wort benutzt!«, sagte er und endlich musste seine Schwester lachen.

»Das wäre super!«, sagte sie dann. »Mir ist heute nämlich echt nicht danach, euch zu bekochen.«

 

Kurz darauf traf auch Stefan ein, sodass sie die Bestellung durchgeben konnten. Die Pizza kam und mit ihren Pappkartons und einem Bier ausgerüstet, machten die Drei es sich auf dem durchgesessenen Sofa, das in Timos Zimmer stand, bequem, um sich einen Actionfilm anzusehen. »Wenigstens sind mir noch diese beiden Idioten geblieben«, dachte Rebecca und sah die beiden liebevoll an. Die aber waren vollauf damit beschäftigt, gleichzeitig den Film zu sehen und von ihren Pizzastücken abzubeißen.

Satt und vom Weinen erschöpft, schlief Rebecca vor dem Fernseher ein, in dem noch immer der spannende Actionfilm lief. Die beiden mussten ihre Bettdecke aus dem Zimmer geholt haben, denn als sie am nächsten Morgen aufwachte, befand sie sich zugedeckt noch immer auf dem Sofa. Timo schlief tief und fest in seinem Bett, als Rebecca ihre Decke unter dem Arm verstaute und aus seinem Zimmer schlich.

 

Im Flur war es feuchtkalt. Sie wickelte sich in die Decke und kochte in der Küche eine Kanne Kaffee, aus der sie sich einen Becher halbvoll goss. Den Rest füllte sie mit Milch auf. Allerdings nicht, ohne vorher daran gerochen zu haben. Bei den Jungs wusste man nie. Auf dem Weg in ihr Zimmer fiel ihr der Briefumschlag wieder ein.

»Na dann mal ran an das nächste Problem«, sagte sie leise zu sich selbst, setzte sich mit dem Umschlag aufs Bett und riss ihn auf.

Fast hätte sie sich an ihrem Kaffee verschluckt, den sie nebenbei schluckweise trank. In dem Umschlag steckte ein weiterer Umschlag: ein blütenweißer Umschlag mit dem Emblem der Savera Hotels. Rebeccas Herz begann zu rasen. Etwas Hartes befand sich darin. Schnell lief sie noch einmal in die Küche zurück, um sich ein Messer zu besorgen. Diesen Briefumschlag durfte sie nicht einfach aufreißen, sondern  sie würde ihn zusammen mit den anderen Erinnerungstücken aufbewahren.

 

Heraus fiel ein Schlüssel aus Messing. Überrascht betrachtete sie ihn von allen Seiten. Weiterhin fand sie zwei sorgfältig gefaltete Blätter. Auf dem ersten Blatt befand sich die Zeichnung eines älteren Gebäudes, das sie nicht kannte. Aber auch wenn das Haus keinen italienischen Baustil aufwies, so war die Zeichnung doch eindeutig von Gregorio angefertigt worden. Auf dem zweiten Blatt stand in Gregorios geschwungener Handschrift:

 

Se vuoi sapere ... Wenn du wissen willst, in welches Schloss dieser Schlüssel passt, dann finde heraus, wo dieses Haus steht. Wenn du es findest, dann wirst du auch mich finden.

 

Rebecca musste lächeln. Immer wusste er genau, wie er ihre Aufmerksamkeit erregen konnte. Ein historisches Bauwerk, irgendwo in Europa, vielleicht sogar in Deutschland? Ja, die Architektur ließ darauf schließen. Interessant! Spannend!

 

Mit klopfendem Herzen verstaute Rebecca Brief, Blätter und den Schlüssel in ihrem Schreibtisch. Am liebsten hätte sie sich sofort ihren Mantel geschnappt, um mit der Suche zu beginnen. Doch sie würde erstmal ein Bad nehmen. Dabei konnte sie nachdenken. Und sicher würde sie sich danach besser und gepflegter fühlen.

Zum ersten Mal seit langem stand sie wieder vor ihrem Kleiderschrank und überlegte sich, welches Outfit ihr heute stehen könnte. Viel zu oft hatte sie einfach nur noch zu Jeans und Shirt gegriffen. Kein Wunder, dass sie sich immer schlechter fühlte.

Sie wählte ein weinrotes Strickkleid und eine schwarze Strumpfhose. Das sah auch mit Winterstiefeln noch schick aus, falls sie noch nach draußen musste.

Voller Elan klappte Rebecca schließlich ihr Notebook auf und begann, sich bei Google nach historischen Bauwerken umzusehen.

 

Eine halbe Stunde später wusste sie, dass dieses Haus in Berlin stand. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Würde das nicht bedeuten, dass Gregorio in Berlin war? Oder zumindest hier gewesen sein musste? Vielleicht hatte er die Zeichnung anhand eines Fotos aus dem Internet erstellt? Aber das war nicht seine Art gewesen. Er malte immer direkt vor Ort.  Sie sah sich das Bild genauer an, versuchte, es zu vergrößern, fand noch ein neueres Bild. Auf diesem Foto entdeckte sie im Hintergrund ein kleineres Haus. Einen Flachbau mit einer Terrasse davor und einer Pergola. Es sah aus wie eine Bar oder ein Restaurant. Sie zoomte das Bild größer. »Osteria Veneziana« konnte sie nun lesen. Ein venezianisches Lokal. Ob das der Ort war, wo Gregorio sie hatte hinführen wollen?

Rebecca spürte plötzlich, dass sie Hunger hatte. Mit dem Routenplaner druckte sie sich die günstigste Wegbeschreibung aus und nahm ihren Wintermantel von der Garderobe. Plötzlich fiel ihr der Schlüssel wieder ein, der sich in dem Briefumschlag befand. Sie ging zurück in ihr Zimmer, nahm ihn aus der Schreibtischschublade und ließ ihn in ihre Manteltasche gleiten.

 

Als sie dick eingemummt auf die Straße trat, schneite es noch immer, doch der Weg zur nahegelegenen Bushaltestelle war geräumt. Mit dem Bus waren es nur wenige Stationen bis zu dem Gebäude, das Gregorio für sie gezeichnet hatte. »Wie wenig ich mich doch selbst in meiner näheren Umgebung auskenne«, dachte sie. Dann entdeckte sie die kleine Osteria. Die Hecke war so voller Schnee, dass man den Eingang fast nicht erkennen konnte. Ein kleiner Weihnachtsbaum, geschmückt mit bunten und blinkenden Weihnachtskugeln, stand in einem der Fenster. Hier schienen die Inhaber tatsächlich noch echte Italiener zu sein.

Als sie eintrat, schlug ihr der Duft Italiens entgegen. Es roch nach Rosmarin, Basilikum und Salbei. Das Lokal war winzig. Das Größte darin waren der Fernseher, der in der hinteren Ecke an der Wand befestigt war und irgendein Fußballspiel ohne Ton zeigte, und der Lavazza-Kaffeeautomat auf dem Tresen.

 

Rebecca legte ihren Mantel auf den Stuhl neben sich und setzte sich an den Holztisch. Sekunden später stand ein kleiner, untersetzter Mann mit schwarzen Haaren und Schnauzbart vor ihr.

»Buongiorno Signorina!«, sagte er und zückte seinen Schreibblock. »Was darf ich Ihnen bringen?«

Rebecca lächelte ihm zu. »Was würden Sie mir empfehlen?«, fragte sie in fließendem Italienisch zurück.

Die dunklen Augen des Kellners leuchteten auf.

»Oh, Sie sprechen aber sehr gut Italienisch«, lobte er. »Grazie! Ich habe letzten Sommer in Italien gearbeitet.«

»Davvero? Tatsächlich? Wo denn genau?«

»In Venedig«

»Ma va? Ach, so ein Zufall. Wir kommen ja auch aus Venedig, meine Frau und ich.«

»Ich hoffe nicht, dass es sich um einen Zufall handelt«, sagte Rebecca. »Ich glaube, jemand wollte mich hierher führen.«

»Möglicherweise!«, antwortete er. »Darf ich Ihnen jedoch zunächst einmal unseren »risi e bisi« empfehlen? Ein venezianischer Risotto, den meine Frau gerade frisch zubereitet hat.«

»Sehr gerne!« Rebeccas Magen knurrte. »Und dazu bringen Sie mir doch bitte eine Zitronenlimonade.«

 

Der Mann schlurfte davon. Während sie wartete, hörte sie ihn in der Küche mit seiner Frau diskutieren. Wenig später kam er mit der Limonade zurück, die er auf einem kleinen Tablett balancierte.

»Wenn Sie mir eine Frage erlauben: Meine Frau würde es sehr interessieren, wo genau Sie in Venedig gearbeitet haben. Ich habe ihr nämlich gerade davon erzählt.«

Er lächelte erwartungsvoll.

»Oh, habe ich das nicht gesagt? Im Hotel Savera habe ich gejobbt. Kennen Sie es vielleicht?«

Seine Augen leuchteten auf. »Aber natürlich kenne ich es. Mein Neffe arbeitet dort als Hotelpage. Sein Name ist Matteo. Möglicherweise erinnern Sie sich an ihn?«

Rebecca konnte nur nicken. Ein dicker Kloß saß in ihrem Hals und sie versuchte, die Tränen, die sich einen Weg nach oben bahnen wollten, wegzublinzeln.

 

Seine Frau trat mit einem Teller Risotto an den Tisch.

»Ma certo, natürlich ist sie das«, sagte sie zu ihrem Mann, woraufhin er sie unauffällig in die Seite boxte.

»Ich möchte nicht darüber reden«, sagte Rebecca schließlich. »Ja, ich kenne ihn. Er war mir ein wunderbarer Freund.« Nun kullerten die Tränen doch, sodass sie den Blick auf ihren Teller senkte und zu essen begann. Es schmeckte köstlich. Es schmeckte nach Italien. Nachdem Rebecca die Kochkünste der Frau gelobt hatte, gingen die beiden ihrer Arbeit nach. Nach dem Essen schrieb sie noch eine SMS an Timo, damit er sich keine Sorgen machte, wo sie war. Auch brauchte er nicht warten, dass sie nach Hause kam und mal wieder alle bekochte. Dann stand sie auf und ging zum Tresen.

»Was bin ich Ihnen schuldig?«, fragte sie, als sie eine Stimme hinter sich hörte.

»Das Essen der Signorina geht auf meine Rechnung, Luigi.« Reflexartig drehte Rebecca sich um. Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle, dann stürzte sie sich in Gregorios Arme.