Kapitel 16
An diesem Samstag stand ein Konzert auf dem Programm. Ein venezianischer Sänger würde volkstümliche Lieder vortragen sowie alte Schlager von Claudio Baglioni, Antonello Venditti und Lucio Dalla covern.
Zur Ablenkung machte Rebecca sich nach ihrem Zimmerdienst bei Ariana in der Küche nützlich. Matteo hatte ihr von dem Konzertabend berichtet. Während einer ihrer Gespräche beim gemeinsamen Essen hatte sie ihm berichtet, dass sie bei den melancholischen Songs von Baglioni immer weinen musste. Er hatte sie wegen ihres altmodischen Geschmacks ausgelacht.
»Das haben meine Großeltern gemocht«, hatte er kopfschüttelnd gesagt. Doch er hatte es sich gemerkt und wusste, dass sie sich auf den Abend freute. Und das tat sie wirklich.
Sie half dabei, die Tischchen mit Gläsern und Getränken auszustatten, dazu kleine Schalen mit Antipasti und Körbchen voller noch warmer Brötchen. Noch immer war die Lounge mit den Blumen dekoriert, die Gregorio und sie gemeinsam vom Blumenmarkt mitgebracht hatten.
Nein, sie wollte jetzt nicht traurig werden, aber als sie vom Eingang der Küche aus zusah, wie der Sänger »Piccolo grande amore« von Claudio Baglioni ins Mikro schluchzte, da kullerte Rebecca doch ein kleines Tränchen die Wange hinab. Jemand nahm sie in den Arm. Sie dachte, es sei Matteo. Wusste er doch, dass ihr dieses Lied zu schaffen machte. Doch dann nahm jemand ihr Haar beiseite und hauchte ihr einen Kuss in den Nacken, dass sie erschauderte.
»Sono tornato in tempo, piccola. Ich bin rechtzeitig zurückgekommen, Kleines«, flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr, die sie unter tausenden erkannt hätte. Gregorio war zurückgekommen. Nun flossen noch mehr Tränen. Sie schob es auf das herzzerreißende Liebeslied.
Als das Lied zu Ende war, drehte sie sich um und schlang ihre Arme um seinen Nacken. Er lachte und küsste ihr die Tränen fort.
»Wo bist du gewesen? Verdammt! Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich hatte Angst ...«, schimpfte sie.
»Mi dispiace! Es tut mir leid, aber mein Vater hat mich gleich Dienstagmorgen in aller Frühe nach Rom geschickt. Das Flugzeug stand schon bereit, als er es mir mitteilte. So ist er immer.«
Hilflos zuckte Gregorio mit den Achseln.
»Du hättest mich anrufen können.«
»Habe ich eine Nummer von dir?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Aber jemand hätte mich informieren können«, insistierte sie weiter.
»Wusste jemand, dass du mich vermissen würdest?«
Sie wusste, dass er Recht hatte. Sie selbst hatte nicht gewollt, dass irgendjemand davon erfuhr. Wie dumm von ihr.
„Dai, piccola! Komm, ich bringe dich jetzt auf dein Zimmer. Und morgen früh, wenn wir uns beide von der anstrengenden Woche erholt haben, dann werde ich mit dir zu den Inseln Burano und Murano übersetzen. Ich werde das Boot vorbereiten lassen. Wusstest Du, dass es auf einer der Inseln ein Glasmuseum gibt? Es ist die Insel der Glasbläser. Es wird dir dort gefallen.«
Ohne lange zu überlegen, bat sie Matteo, sie bei Ariana und den anderen für den Rest des Abends zu entschuldigen. Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu und ließ sie gewähren. Hand in Hand gingen sie den Flur entlang bis zu ihrem Zimmer. Diesmal war es Rebecca egal, ob jemand sie sah. Sollten doch alle wissen, dass sie sich gefunden hatten.
Gemeinsam quetschten sie sich unter die winzige Dusche und erkundeten ihre Körper, bis sie es nicht mehr aushalten konnten. Flüchtig rubbelte Gregorio sie mit dem flauschigen Laken ab, dann trug er sie auf seinen Armen in ihr Bett.
Zwei Stunden später schlief Rebecca erschöpft und befriedigt in Gregorios Armen ein. Nur am Rande bekam sie mit, dass er sich aus ihrem Bett schlich, sie behutsam zudeckte und auf die Stirn küsste, bevor er seine Sachen zusammensammelte und leise den Raum verließ.
Die Sonne war gerade aufgegangen, als er schon wieder bei ihr war und sie mit einem Cappuccino und zwei duftenden Croissants weckte.
»Stella mia, svegliati! Wach auf meine Süße!«
Rebecca spürte, wie Gregorio ihr sanft die blonden Locken aus dem verschwitzten Gesicht strich. Er war die Hitze gewohnt, aber sie kam eben aus einer kühleren Region.
Rebecca seufzte und reckte sich dann, bevor sie sich verschlafen aufsetzte. Auch nachdem die ersten Schlucke des Heißgetränkes sie belebt hatten, glaubte sie noch zu träumen: zwei freie Tage, Italien, die Sonne und der Mann ihrer Träume, der ihr das Frühstück ans Bett brachte.
Er trug eine schwarze Jeans und ein ebenfalls dunkles Shirt. Darunter sah sie seine Muskeln spielen. Sie konnte sich nicht satt sehen an ihm, während sie in das luftige Croissant biss.
»Ich lasse dich jetzt allein. Ich werde inzwischen alles vorbereiten und erwarte dich dann am Anleger, va bene? Einverstanden?«
Sie nickte und lächelte ihm mit vollem Mund zu.
Eine halbe Stunde später nahm Gregorio Rebecca den Rucksack ab und half ihr beim Einsteigen. Sonnencreme, Handy mit Kamera und eine große Flasche Wasser sowie eine leichte Strickjacke für die Abendstunden. Das musste genügen. Trotz der relativ frühen Stunde brannte die Sonne schon auf Rebeccas Beine. Sie hatte nur eine kurze Bermuda und ein bedrucktes Shirt gewählt. Zum Glück hatte sie sich nach dem Duschen noch dick mit Sonnencreme eingerieben. Gregorios Haut war das Klima gewohnt. Er konnte jedes Jahr langsam an Bräune gewinnen und baute so einen natürlichen Schutz gegen die aggressiven Stahlen auf. Rebecca dagegen war blond. Die Creme würde sie nur eine begrenzte Zeit lang schützen, zumal das Meer die Sonnenstrahlen reflektierte. Ein Sonnenschirmchen, so wie Frau es früher bei sich trug, das wäre das Richtige gewesen.
Fast eine Stunde benötigten sie mit dem kleinen Boot, bis sie den Anleger der Fischerinsel Burano erreichten. Auf dem Weg dorthin passierten sie das Kloster und die Kirche San Michele. Fasziniert schaute Rebecca den alten Mauern nach und versuchte, sich gedanklich in die damalige Zeit zurückzuversetzen. Wenn sie sich die vorbeifahrenden Motorboote und auch ihr eigenes wegdachte und nur das alte Gemäuer und das Meer fokussierte, dann konnte sie es ein kleines bisschen nachempfinden. Diese Sehnsucht, Vergangenes greifbar zu machen, war immer in ihr. Sie war der Grund für die Wahl ihres Studiums gewesen. Sie war der Grund, warum Rebecca heute hier war, hier mit Gregorio. Als hätte das Schicksal schon vor langer Zeit damit begonnen, die Fäden ihres Lebens zu spinnen, auf dass sie sich eines Tages mit den Schicksalsfäden dieses wunderbaren Mannes verweben würden. Wieder sah sie ihm zu, wie er das Boot sicher lenkte, wie sich die Sonne in seinen schwarzen Haaren brach und wie er lachte, als er bemerkte, wie sie ihn anschmachtete.
Gregorio vertäute das Boot. Dann machten sie sich auf den Weg, die erste der beiden kleinen Inseln zu erkunden. Sie schlenderten durch die »Strada San Mauro« und betrachteten die Auslagen mit Buraner Spitze, die von bunten Markisen überdacht waren.
»Noch heute stellen die einheimischen Frauen sie in Handarbeit her«, erklärte ihr Gregorio. »Und das, obwohl die Konkurrenz der Industrien schon lange übermächtig geworden ist.«
Sie bogen in eine Seitenstraße ab. Hier gab es, wie in Venedig selbst, eine kleine Wasserstraße, an deren Ufer vereinzelt Fischerboote parkten.
»Die Männer verdingen sich noch heute als Fischer. Aber auch davon kann man heutzutage nicht mehr leben.« Rebecca bestaunte die bunt bemalten Häuser, die, in einer langen Reihe aneinandergeklebt, den Bordstein säumten. »Warum ist jedes Haus in einer anderen bunten Farbe bemalt?«, fragte Rebecca und sah zu Gregorio auf.
»Wenn der Nebel über dem Meer lag wie eine dicke Wolke, dann hofften die Einwohner, man würde die Insel besser sehen und nach Hause finden können.«
Plötzlich kam der Kirchturm von San Martino in ihr Sichtfeld. Nur noch verdeckt von einem himmelblauen Häuschen mit grünen Fensterläden und einem knallroten Dach, ragte der Turm windschief gen Himmel. Auch hier gaben die Fundamente im weichen Untergrund langsam nach. Irgendwann würde Venedig im Meer versinken, so prophezeite man. Umso mehr Menschen besuchten die Lagunenstadt der Liebe. Und davon lebten auch die Einwohner dieser kleinen Inseln.
Bald schon hatten sie die Insel umrundet und kamen wieder beim Anleger an. Sie legten ab und tuckerten weiter zur nahegelegenen Insel Murano.
Als sie sich genau zwischen den beiden Inseln unbeobachtet fühlten, schlangen sie ihre Arme umeinander und küssten sich. Dabei durfte Gregorio das Steuer nicht loslassen, behielt sie aber fest im Arm.
Schon wurden sie von einem schwarzweißen Leuchtturm begrüßt. Der Anleger, der den Namen »Murano Faro« hatte, befand sich in unmittelbarer Nähe.
Auch auf dieser Insel erwartete sie das gleiche Bild. Nur waren die Häuser hier weniger bunt, als auf der Insel zuvor. Sie schlenderten durch die Viale Garibaldi und die Fondamenta del Vetrai. Überall gab es Kunstwerke und Kitsch aus Glas zu bestaunen. Fast fünfzig Glasbläsereien gab es hier. In einigen schauten sie sogar eine Weile zu, wie neue Glasskulpturen erschaffen wurden. Wie immer sog Rebecca interessiert und mit großen Augen alle Sehenswürdigkeiten in sich auf, was Gregorio das Herz erwärmte. Er würde wiederkommen, wenn sie fort war. Jeden Ort, den er mit ihr besuchte, würde er für sie zeichnen. Das nahm er sich fest vor. Ein schmerzvolles Ziehen ließ ihn jedoch schnell wieder ins Hier und Jetzt zurückkehren, und sie von hinten fest umarmen.
Rebecca drehte sich zu ihm um und lachte.
»Es ist wundervoll hier. Alles ist so unglaublich schön.«
Dann küsste sie ihn vor allen Leuten, lang und innig.
Gregorio kaufte Rebecca einen Anhänger aus rundem Glas. Lauter kleinste, bunte Glasblüten waren darin eingeschmolzen, umrahmt von einem Rand aus Gold. Dazu wählte Gregorio eine passende Goldkette. Gerührt drückte Rebecca das kleine Kunstwerk an ihre Brust, nachdem er ihr die Kette umgelegt hatte.
Hand in Hand besichtigten sie die Kirche »San Pietro Martiere, die von innen noch viel beeindruckender war als von außen. Als es langsam Abend wurde, gingen sie in einer Trattoria essen. Unter einem Sonnenschirm aßen sie Mozzarella mit Tomaten und Basilikum, »agnello al forno«, im Ofen gebratenes Lamm. Dazu tranken sie Rotwein, der Rebeccas Wangen zum Glühen brachte, sie aber auch noch müder machte, als sie von den vielen Eindrücken, der Sonne und dem Seeklima ohnehin schon war. Beschwipst und losgelöst von allen Sorgen fühlte sich Rebecca, als Gregorio sie schließlich an Bord seines Bootes bugsierte, wo sie sich wie ein schnurrendes Kätzchen in seinen Schoß kuschelte, während er diesmal im Sitzen das Steuer hielt.
Tief und fest schlief Rebecca in seinem Schoß, als Gregorio das Boot schließlich vor dem Hotel an einen lächelnden Giacomo abgab. Eigentlich war er der Portier, doch zu dieser nächtlichen Stunde übernahm er auch den hinteren Eingang des Hotels, wo auch die Boote lagen. Vorsichtig trug Gregorio Rebecca ins Haus, während Giacomo ihm die Türen aufhielt. Das blonde Haar bedeckte fast gänzlich ihr schönes Gesicht. Am liebsten hätte Gregorio den Portier gebeten, ihr die Locken aus dem Gesicht zu streichen, damit er sie besser sehen konnte. Als er sie endlich entkleidet und ins Bett gelegt hatte, sah er sie noch eine Weile an. Ihr schlanker Körper, der hell wie Mozzarella im Mondlicht schimmerte, erregte ihn über alle Maßen. Er wollte ihre wohlgeformten Rundungen berühren und liebkosen, wollte sie seinen Namen rufen hören, wenn er mit ihr verschmolz. Sein Atem ging schwer und das Herz schlug ihm hart in der Brust, als er sie liebevoll mit einem leichten Laken bedeckte und sich auf den Weg zu seiner Suite machte.