Kapitel 12

 

Es war noch nicht ganz dunkel draußen, als Rebecca schon im Bett lag und an die Decke starrte. Sie hatte sich den Staub und Schweiß des Tages vom Körper gespült und war dann von Ariana noch mit den Resten des Mittagessens versorgt worden. Wobei in einem Luxushotel selbst Essensreste noch als Delikatessen zu bezeichnen waren.

Rebecca dachte an die Stunden zuvor. Ohne Probleme hatte Gregorio sie zur Rialtobrücke geführt. Doch zuvor lud er sie in eine Gelateria ein, die einem Bekannten gehörte und die seiner Meinung nach das beste Eis Venedigs herstellte. In der Tat schmeckte es köstlich. Gregorio offenbarte ihr, dass er in seinem Wohnbereich über ein eigenes Atelier verfügte. Er lud Rebecca ein, irgendwann einmal seine Zeichnungen dort anzusehen.

 

Nun fragte sie sich, wie es möglich sein konnte, dass seine Eltern ihn in aller Öffentlichkeit einen Nichtsnutz schimpften. Wer so eine Gabe besaß, der konnte nicht überflüssig sein. Ausgeschlossen! Je mehr sie darüber nachdachte, desto wütender machte sie das Thema. Ihre Mutter wäre unendlich stolz auf sie. Ja, wenn sie es sich genau überlegte, dann war ihre Mutter stolz auf sie, auch ohne dass sie bisher irgendetwas Außergewöhnliches vollbracht hatte. Leider hatte sie sich heute nicht getraut, Gregorio auf dieses Thema anzusprechen. Sie wollte den glücklichen Moment, den sie beide erlebten, nicht zerstören. Doch nun rumorte der unschöne Gedanke allein in ihrem Kopf herum. Sie verdrängte ihn und würde zu gegebener Zeit mit Gregorio darüber sprechen. Vielleicht.

Weil sie gerade an ihre Mutter dachte, schrieb sie ihr noch eine Gute-Nacht-SMS und schloss die Augen.

 

Um Punkt sechs Uhr morgens war sie wach und ausgeschlafen. Die Sonne lachte vom Himmel, als Rebecca die Vorhänge aufzog. Ein paar Möwen kreischten in der Ferne und erinnerten daran, dass das Meer nicht weit war. Ans Meer wollte sie auch noch, unbedingt! 

Für den heutigen Tag hatte sie einen Ausflug auf die andere Seite des Canale Grande geplant, denn auch dort wimmelte es von Kirchen und Museen.

Nach dem Frühstück packte sie abermals ihren Rucksack und machte sich auf zum Anleger, um ein Vaporetto zu erwischen.

 

»Buongiorno, piccola!«, hauchte eine bekannte Stimme in Rebeccas Ohr. Unwillkürlich erschauderte sie und ihr Herz machte einen Sprung, bevor es wieder heftig in ihrer Brust zu schlagen begann. Er umfasste von hinten ihre Taille und drehte sie zu sich um. Er küsste ihre Wangen.

»Ciao, Gregorio«, krächzte Rebecca und musste sich räuspern, damit er die Flut an Gefühlen, die er soeben in ihr ausgelöst hatte, nicht bemerkte.

»Was tust du schon so früh hier draußen? Ich dachte, Taugenichtse würden mindestens bis mittags schlafen?«

Die steile Falte, die sich auf seiner Stirn bildete, zeigte ihr, dass Gregorio diesen Scherz nicht witzig fand.

»Wer sagt das?«, fragte er.

Rebecca öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen, aber Gregorio verschloss ihn einfach mit einen Kuss.

»Nein, sag‘ nichts. Ich weiß es auch so. Lass uns an etwas anderes denken. Lass uns etwas Schönes tun.«

Rebecca war so schwindelig von dieser Geste, dass sie ohnehin nichts sagen konnte. Also nickte sie stumm.

»Ich bin auf dem Weg zum Blumenmarkt. Montags stelle ich die Sträuße für die Woche zusammen. Möchtest du mich vielleicht begleiten?«

Und ob sie wollte! Aber das musste er nicht gleich wissen. Also sagte sie so desinteressiert wie möglich:

»Also, eigentlich warten heute die Kirchen und Museen links vom Canale Grande auf mich.«

 

»Ach, so«, sagte er. »Ich verstehe. Du möchtest dich also lieber wieder verlaufen gehen.«

Rebecca tat beleidigt und schubste ihn fort. Er lachte nur, hob sie wieder in die Arme und drehte sie im Kreis.

»Dai, amore, vieni con me! Komm doch bitte mit mir, meine Liebste! Ich verspreche dir, nächsten Sonntag mit dir weitere Touristenattraktionen zu erobern. Und die, die dir am besten gefällt, werde ich für dich zeichnen.«

Tief berührt sah Rebecca ihn an. Was machte er nur mit ihr? Er war so fröhlich, offen und interessiert. Konnte es wirklich sein, dass das alles nur eine Show war, die er jeder x-beliebigen Bediensteten zeigte? Rebecca befand, dass er es Wert war, das herauszufinden. Sie wollte sich ihre eigene Meinung bilden, nicht achtlos auf das Geschwätz der anderen hören. Auch auf die Gefahr hin, dass sie sich ganz furchtbar dabei verletzen könnte.

Also legte sie ihre Hand in seine, sah in seine bittenden grünen Augen und nickte. Dann rannten sie los.

 

Die Saveras besaßen einen eigenen Anleger. Eines der Boote trug den Namen »Figlio«, was Sohn bedeutete. Unter dem Schriftzug war auch hier das Emblem der Hotelkette angebracht. Da Gregorio der einzige Sohn war, ging Rebecca zurecht davon aus, dass das Boot ihm gehörte. Gekonnt sprang Gregorio auf das schaukelnde Motorboot und half ihr, es ihm nachzutun. Er drückte sie sanft auf den Beifahrersitz aus weißem Leder. Verkrampft klammerte sie sich an ihrem Rucksack fest, als Gregorio das Boot startklar machte und es geschickt auf den Kanal hinausmanövrierte. Obgleich es noch früh war, herrschte schon reger Verkehr auf dem Canale Grande. Fast kam es ihr vor wie eine Hauptverkehrsstraße, deren Asphalt sich in Wasser verwandelt hatte.

So unauffällig wie möglich beobachtete sie den Italiener von der Seite. Das Spiel seiner gebräunten Muskeln unter dem leichten, aber teuer wirkenden Hemd. Den Wind, der sich in seinen dunklen Haaren verfing. Er trug jetzt eine dunkle Sonnenbrille, sodass sie seine außergewöhnlichen Augen nicht sehen konnte,die einfach verboten schön waren. Hochgewachsen und stolz stand er am Steuer. Rebeccas Magen zog sich wohlig zusammen bei seinem Anblick. Kurz sah er zu ihr herüber und schenkte ihr sein strahlendes Lächeln.

»Es ist nicht mehr weit, piccolina. Gleich sind wir da.«

 

Der Markt wurde in einer riesigen Halle abgehalten, in der sich unzählige Stände, überladen mit den buntesten Blüten und Pflanzen aus aller Herren Ländern, aneinanderreihten. Rebecca gingen die Augen über von dieser Pracht. Der Duft, den die Blumen verströmten, betörte sie.

»Na, wenn dies kein Ort zum Verlieben ist!«, dachte sie und drängte sich unwillkürlich an ihren Begleiter. Der lächelte, legte den Arm um ihre Taille und zog sie noch dichter zu sich heran. Nun konnte sie seinen Körper sogar spüren. Rebecca wusste nicht, was atemberaubender war: das, was sie sah, oder das, was sie spürte. Während Gregorio sich mit den ersten Händlern austauschte, genoss Rebecca einfach nur den Augenblick. Es war einer dieser seltenen Momente, in denen einfach alles perfekt war. Momente, in denen man einfach nur existierte, zufrieden, ohne irgendeinen weiteren Wunsch zu hegen.

 

Während die Händler eifrig damit begannen, die Sträuße, die Gregorio für das Hotel Savera geordert hatte, fertigzustellen, führte Gregorio sie durch Straßen jenseits der Touristenströme. In einer winzigen Trattoria machten sie Halt.

»Hier gibt es den besten Fisch von ganz Venedig«, erklärte er und setzte sich mit ihr an einen der hinteren Tische. Dort war es erfrischend kühl und das Licht gedämpft. Ein Kerzenstummel brannte auf einer Weinflasche. Ihre Knie berührten sich, als er den Kellner wie einen alten Freund begrüßte. Er orderte den Fisch des Tages, bestellte dazu Salat und eine Flasche Wein.

»Gefällt es dir hier?«, fragte Gregorio und hypnotisierte Rebecca mit seinen Augen, deren Grün im Kerzenlicht flackerte. Rebecca schluckte hart, als seine Beine sie unter dem Tisch streiften.

»Es ist wie in einem Märchen«, gestand sie und ihre Wortwahl kam ihr dabei sehr kitschig vor. Gregorio lächelte. »Du bist nicht einfach nur eine Touristin oder gar ein Zimmermädchen«, bemerkte er. »Du liebst wirklich, was du tust. Egal, was es ist. Deine Leidenschaft für die kleinen Dinge beeindruckt mich sehr.«

Rebecca spielte mit einer blonden Locke und wusste nicht, was sie auf dieses Kompliment antworten sollte. Es fühlte sich gut an. Es fühlte sich ehrlich an.

 

Wenig später brachte der Kellner das Essen. Es schmeckte köstlich: italienisch, leicht und sommerlich. Offenbar wusste Gregorio genau, was gerade das Richtige für sie war. Selbst der Wein - verdünnt mit prickelndem Wasser - erfrischte und belebte sie. Die Zweifel und Ängste, mit denen sie sich in seiner Gegenwart herumschlug, fielen allmählich von ihr ab.

»Seit wann malst Du?«, fragte sie und schob ihren leeren Teller beiseite.

»Oh, ich habe schon als kleiner Junge gemalt. Ganz zum Ärger meiner Mutter. Am liebsten hätte sie mich schon im Kindergartenalter mit der Buchhaltung des Hotels vertraut gemacht.« Er lachte bitter auf.

»Aber dafür gibt es Buchhalter«, entgegnete Rebecca. »Eben!« Er nickte. »Und die machen ihre Arbeit gar nicht mal schlecht, wie ich finde. Nur ist es meine Mutter, die keinem Fremden über den Weg traut. Am liebsten sähe sie es, dass alle unsere Hotels einzig und allein durch die Familie geführt würden. Was natürlich gar nicht möglich ist.«

 »Was ist mit deiner Schwester?«, wagte Rebecca sich vor. »Mariella ist wundervoll!« Seine Gesichtszüge entspannten sich. »Sie ist vier Jahre älter als ich und lebt mit ihrem Mann Sebastiano in unserem Hotel in Rom. Ich war am Boden zerstört, als sie ihn heiratete und nicht mich.« Er lachte kurz auf.

»Meine Mutter war nie wirklich für mich da. Sie lebte schon immer nur für ihr Hotel. Mariella war Schwester, Freundin und Mutter zugleich für mich. Sie ist auch die Einzige, die mein Zeichnen von Anfang an gelobt und gefördert hat. Was habe ich Sebastiano gehasst am Anfang. Alle möglichen Boshaftigkeiten habe ich mir einfallen lassen, um ihn meiner Schwester wieder auszutreiben. Letztendlich heirateten sie aber doch. Das Schlimmste für mich aber war, dass sie dem Drängen meiner Eltern nachgaben und das Hotel in Rom übernahmen. Von da an hatte ich niemanden mehr.« Nachdenklich nippte Gregorio an seiner Weinschorle.

»Aber, aber!«, versuchte Rebecca die Stimmung zu entspannen. »Du hast einen ganzen Harem an Zimmermädchen um dich, die dich alle vergöttern.«

»Tun sie das?« Gregorio sah von seinem Glas auf.

»Oder ist es vielleicht doch mehr mein Geld, das sie interessiert?«

Rebecca musste keine Sekunde überlegen. »Natürlich nicht! Du bist unglaublich sympathisch, siehst toll aus und kannst malen wie ein junger Gott«, platzte es aus ihr heraus. »Davvero? Du findest also, ich sehe gut aus?«

Er schmunzelte und sie wäre am liebsten vor Scham im Erdboden versunken.

»Ich liebe deine aufrichtige Art«, sagte er. »Ich wünschte, es gäbe mehr Menschen wie dich. Und ich wünschte, sie würden nicht immer wieder aus meinem Leben verschwinden«, fügte er mehr zu sich selbst hinzu. Rebecca aber verstand, was er meinte. Er sprach von seiner Schwester, die ihn verlassen hatte, um ihr Glück in einer anderen Stadt zu finden. Und auch Rebecca würde sich früher oder später verabschieden müssen.

»Es gibt Flugzeuge«, versuchte sie ihn aufzumuntern. »Ich meine, ihr verfügt sogar über ein hauseigenes Exemplar. Das macht weite Entfernungen zu einem bequemen Katzensprung.«

»Das ist nicht dasselbe«, sagte er und leerte den Rest seines Glases in einem Zug. »Komm, lass uns aufbrechen, piccolina. Die Blumen warten auf uns.«

Und Rebecca verstand, dass das Thema für ihn damit erledigt war.