Kapitel 11
Ein sanftes Liebeslied entführte Rebecca aus ihren Träumen. Warum nur hatte sie den Wecker gestern nicht abgeschaltet? Es war doch ihr freier Tag heute. Dabei war es ein so schöner Traum gewesen: Sie träumte, dass starke Hände ihr Laken lösten, und sanfte Hände die Linie ihrer Hüfte nachzeichneten. Sie träumte von Fingern, die über ihre Knospen strichen und einem Mund, der ihr Haar küsste.
Rebecca rekelte sich wohlig und die Morgensonne streichelte ihren nackten Körper. Plötzlich schrak sie hoch. Gregorio! Sie war in seinen Armen eingeschlafen. Und nun war sie nackt. Und er war fort. Auf einmal fror sie und griff eilig nach dem Badelaken, auf dem sie geschlafen hatte. Sogar der Teller und die Flasche waren verschwunden. Einzig ein paar Krümel auf der orangefarbenen Tischdecke gaben Rebecca die Gewissheit, die letzte Nacht nicht nur geträumt zu haben. Allerdings war sie nicht sicher, ob dieser Umstand sie glücklich oder traurig stimmen sollte.
Immerhin war es noch früh und da sie glücklicherweise keine Kopfschmerzen davongetragen hatte, machte sie sich bereit für den neuen Tag.
Das ganze Hotel schien noch zu schlafen, sich von dem Fest zu erholen. Nur die Küchenmädchen wuselten schon in Küche und Lounge herum. Die Spuren vom Vorabend wollten beseitigt und das Frühstück vorbereitet werden. So wunderte es Rebecca nicht, dass Ariana bereits einen Cappuccino für sie bereithielt.
»Ich sehe, es geht dir besser«, befand die Italienerin. »Gut siehst du aus in deinem Ausgehkleid.«
Rebecca freute sich. »Es ist so schön luftig. Ich fürchte nur, es wird mir trotzdem warm werden da draußen.«
Sie zeigte zum Fenster, wo die Sonne schon vom Himmel strahlte.
»Und ja, es geht mir wieder gut. Gregorio hat mich im Hof erwischt, als es mir schlecht ging. Er hat mich so lange gefüttert, bis ich wieder nüchtern war.«
Rebecca lachte zunächst, konnte aber dem kritischen Blick der Freundin nicht standhalten und sah schließlich beschämt zu Boden. »Davvero? So, so, Gregorio war also mal wieder im rechten Moment zur Stelle. Das sieht ihm ähnlich.«
Rebecca stimmte in Arianas Lachen mit ein, wenngleich ihre Worte ihr einen Stich versetzten.
Es war also, wie sie dachte: nichts als der erste Schachzug in seinem Spiel.
Rebecca war jedoch nicht gewillt, sich den heutigen Tag durch trübe Gedanken verderben zu lassen. Sie küsste die Freundin auf beide Wangen und machte sich auf den Weg.
Da das Hotel Savera sich bereits in unmittelbarer Nähe der Piazza San Marco befand, machte sich Rebecca zu Fuß auf den Weg. Den Reiseführer und ihr Handy, das mit einem Fotoapparat ausgestattet war, sowie eine Flasche Wasser und ein belegtes Brötchen trug sie in einem kleinen Rucksack bei sich.
Auf der Piazza San Marco war es zu dieser frühen Stunde noch relativ leer. Nur die Tauben suchten nach Essbarem, das die Touristen am Vorabend fallengelassen hatten. Rebecca stand auf der Piazza und wusste nicht, wo sie zuerst hinsehen sollte. Auf dem weitläufigen Platz erhob sich der wunderschöne Dogenpalast. Was für ein beeindruckendes Zeugnis vergangener Zeiten. Sie konnte nicht umhin: Ein paar Fotos musste sie schießen.
Von außen bestand der Palazzo Ducale aus drei Flügeln: dem Südflügel, der zur Lagune zeigte, dem Westflügel, in Richtung des Platzes und dem Ostflügel an der Kanalseite. Hier befand sich auch die Seufzerbrücke.
Der Dogenpalast wurde erst richtig schön durch die zweigeschossigen Arkadenreihen. Der geschlossene Teil des Bauwerks darüber war aus weißem und rosa Marmor. Auf den Ecken des Gebäudes bewunderte Rebecca die Statuen. In ihrem Reiseführer hatte sie gelesen, dass sie aus dem 14. Jahrhundert stammten.
Wenig später betrat sie den Dogenpalast. Das heißt, sie gelangte zunächst in den Innenhof. Im hinteren Teil des Hofes sah Rebecca eine breite Treppe sowie einen reich dekorierten Triumphbogen. Auf der obersten Stufe hatte der Doge seinen Schwur zu leisten gehabt, bevor er einst sein Amt hatte antreten können, so hatte sie gelesen.
Im Inneren des Dogenpalastes gab es Sitzungssäle, Folterkammern, ein Gefängnis und natürlich die Privatgemächer des Dogen zu besichtigen.
Kaum war Rebecca wieder an der frischen Luft, bewunderte sie ein weiteres Bauwerk: die Biblioteca Marciana, die Nationalbibliothek. Diese wirkte so herrlich und prunkvoll, dass Rebecca sich wünschte, darin die Klassiker studiert zu haben.
Blickte sie gen Himmel, sah sie den Marcusturm. Und wenige Schritte weiter ließ sie auch schon das nächste Kunstwerk ehrfürchtig stehen bleiben: Il Torre dell‘ Orologio, der berühmte Uhrturm an der Piazza San Marco, erbaut im Stil der Renaissance bis 1499 n. Chr. Ein sternenübersätes, blaues Mosaikfeld und der Markuslöwe verstärkten sein Erscheinungsbild. Die Prunkuhr zeigte neben der Zeit auch Monate, Mondphasen und Sternzeichen an. Wie unglaublich beeindruckend, was schon vor so langer Zeit von Menschenhand geschaffen worden war. Das waren die Dinge, die Rebecca immer wieder aufs Neue faszinierten. Und das war der Grund, warum sie ihr Studium mit solcher Leidenschaft absolvierte.
Sie setzte sich einen Moment und trank von dem Wasser. Die Sonne brannte inzwischen ohne Erbarmen vom Himmel. Schließlich machte sie sich auf zur Kirche Santa Maria Formosa. Zunächst passierte sie noch die Mercerie, Venedigs Flaniermeile. Doch hier waren die Preise derart hoch, dass Rebecca beschloss, sich lieber in die kleinen Gassen zu begeben, eben Richtung besagter Kirche.
Erst hier in diesen verwinkelten Gassen spürte sie die uralte Seele der Stadt. Mit dem Kopfsteinpflaster unter den Füßen, blickte sie immer wieder die alten Mauern empor. Plötzlich tat sich ein kleiner Platz vor Rebecca auf und die Kirche der »dicken Maria« zeigte sich ihr. Während sie auf einer Mauer saß und ihr Brötchen verzehrte, erfreute sie sich eine Weile an dem barocken Glockenturm aus dem 17. Jahrhundert. Kurz darauf begab sie sich wieder in die schattigeren Gassen.
Inzwischen war es früher Nachmittag und sie wollte noch gern die Kirche San Salvador besichtigen, bevor sie sich auf den Rückweg machte. Sie musste ja nicht ganz Venedig an einem Tag erobern, sondern würde noch genügend andere Gelegenheiten haben. So versuchte sie, wieder zurück auf die Geschäftsstraße Venedigs zu gelangen. Aber die schmalen Gassen wollten kein Ende nehmen. Egal wo sie abbog, sie traf nur immer wieder auf eine andere urige Gasse. Menschen traf sie nicht, die sie hätte fragen können. Es war Nachmittag. Die Venezianer waren - im Gegensatz zu den Touristen - schlau genug, die heißeste Zeit des Tages in ihren Wohnungen zu verbringen. Verzweifelt suchte sie weiter nach einem Ausgang aus dem Labyrinth. Sie war den Tränen nah, als sie den hochgewachsenen Mann mit dem Zeichenblock erblickte. Er saß etwas abseits auf einer Treppenstufe. Sein Haar glänzte schwarz und als er aufblickte, glänzten auch seine Augen: smaragdgrün. »Gregorio!«, rief sie und stürzte erleichtert auf ihn zu. Er hatte gerade noch Zeit, sich aufzurichten, den Block abzulegen und die Arme auszubreiten, in die sie sich erleichtert fallen ließ.
Rebecca hatte sich eigentlich fest vorgenommen, ihre nächste Begegnung distanzierter ausfallen zu lassen, doch sie war so erschöpft und froh, ihn zu sehen, dass sie alle Vorsätze vergaß. Auch konnte sie nicht gänzlich das angenehme Kribbeln ignorieren, das ihren gesamten Körper bei der Umarmung erfasste.
»Ma piccola! Aber Kleines, was machst du denn hier? Bei dieser Hitze und ganz allein?«
»Ich besichtige Venedig. Endlich habe ich frei. Endlich kann ich das tun, warum ich hier bin.« Ihre Augen leuchteten. »Und das wäre?« Gregorio sah sie fragend an.
»Ich atme die Vergangenheit dieser Stadt ein.«
Gregorio lachte und drückte sie fest an sich, bevor er ihr einen Kuss auf die Stirn drückte, was das Kribbeln nur noch verstärkte.
»Und stattdessen hätte die Stadt nun fast dich eingeatmet und verschluckt, was?«
»Ich wollte nur noch kurz die San Salvador-Kirche aufsuchen, dann zur Rialtobrücke und von dort mit dem Vaporetto zurück zum Hotel. Aber ich habe mich wohl verlaufen.«
Unglücklich sah sie zu ihm auf.
»Und was tust du hier?«, fragte sie dann.
»Also, wenn du die Vergangenheit einatmest, dann muss ich sie ja noch schnell zeichnen, bevor sie weg ist.«
Er zwinkerte ihr zu.
»Was? Das kannst du?« Begeistert griff Rebecca nach seinem Zeichenblock. Belustigt sah er zu, wie sie mit großen Augen jede seiner Zeichnungen, die er heute angefertigt hatte, studierte.
»Das ist einfach fantastisch!«, sagte sie schließlich mit roten Wangen.
»Es freut mich, dass sie dir gefallen.« Er nahm ihr den Block aus der Hand.
»Gefallen?« Sie boxte ihn in die Seite. »Ich würde alles geben, für solche Bilder«, sagte sie leidenschaftlich.
»So, so!«, sagte er und legte einen Arm um Rebecca. Ihre Knie wurden weich und sie errötete.
»Dann wollen wir mal sehen, ob wir gemeinsam die Rialtobrücke finden. Aber bevor du ablegst, essen wir noch ein Eis. Versprochen?«
Dankbar nickte Rebecca. »Na, dann mal los!«