Kapitel 20

Es war fast Mitternacht, als Gregorio leise die Tür von Zimmer 13 hinter sich schloss. Alles war dunkel. Er vermutete, dass Rebecca bereits schlief. Als er ihr Bett unberührt vorfand, schaltete er die Deckenbeleuchtung ein. Gleich fiel ihm auf, dass sein Radiowecker fort war. Er riss den Kleiderschrank auf – leer. Panik erfasste ihn. Was war hier geschehen? Er fuhr mit der Hand durch sein Haar, als er überlegte, was zu tun war. Emilia! Ganz sicher  hatte sie etwas damit zu tun.

Nur wenige Minuten später stand er vor ihrer Tür. Ihre Augen strahlten, als sie Gregorio erblickte.

»Finalmente, sei tornato da me! Endlich hast du zu mir zurückgefunden!«, sagte sie, doch Gregorio schob sie beiseite.

»Wo ist sie?«, wollte er wissen.

»Sie? Du meinst doch nicht etwa die kleine deutsche Schlampe?«

»Es wird sich noch zeigen, wer hier die Schlampe ist«, entgegnete er kalt.

»Sie ist fort«, sagte Emilia ohne mit der Wimper zu zucken. »Da war so ein Typ auf der Feier. Mit dem ist sie zurück nach Deutschland, glaube ich. War ihr wohl doch zu anstrengend, die Arbeit hier.«

 

Ohne Antwort verließ Gregorio den Raum und eilte zu Zimmer 9, wo er kurz darauf einem verschlafenen Matteo und Ariana gegenüber stand.

»Ma, che cos’ è sucesso? Was ist denn los?«, fragte Matteo, während Ariana  Gregorio ins Innere des Zimmers zog.

»Sie ist weg! Mein Mädchen ist abgehauen mit einem Deutschen, sagt Emilia.«

Das Pärchen sah sich an. Dann sagten sie wie aus einem Munde: »Impossibile! Das ist vollkommen ausgeschlossen. Das muss eine ihrer Lügen sein.«

 

Gregorio suchte das ganze Hotel ab: die Küche, die Etage, auf der Rebecca saubermachte, den Garten im Innenhof. Nichts! Eine halbe Stunde später fiel sein Blick auf die Bürotür seines Vaters. Ein Lichtschein unter der Tür verriet ihm, dass er noch auf war. Mit seiner Mutter war er gerade schon heftig aneinander geraten. Nun kam es auf seinen Vater auch nicht mehr an, dachte er, und betrat ohne anzuklopfen das Büro.

»Was habt ihr mit Rebecca gemacht?«, fragte er ohne Umschweife.

»Siediti! Setz dich! Ich dachte mir schon, dass ich dich heute noch sehen würde«, entgegnete Signor Savera gelassen.

»Es ist also wahr, was Emilia gesagt hat«, schlussfolgerte Gregorio. »Sie ist mit einem Deutschen abgehauen.«

Signor Savera lachte laut auf. »Das sagt sie? Es ist eher so, dass deine liebe Emilia Rebecca rausgeekelt hat. Sie hat ihr von einer Abmachung mit deiner Mutter erzählt, dass sie als deine zukünftige Frau vorgesehen ist.«

Gregorio kochte innerlich. Sein Puls raste.

»Papà«, sagte er, nachdem er tief durchgeatmet hatte. »Macht es dir etwas aus, wenn ich Signorina Emilia noch heute Nacht hinauswerfe?«

Signor Savera lächelte. »Aber nein, ganz und gar nicht. Es wird Zeit, dass du auch diesen deiner Aufgabenbereiche als Hotelier kennenlernst.«

Gregorio erhob sich. »Ti ringrazio, Papà! Ich danke dir.« Dann stürmte er davon.

 

Um neun Uhr wachte Rebecca auf. Es war angenehm kühl in ihrem neuen Zimmer, das offenbar über eine Klimaanlag verfügte. Ansonsten war es schlicht, aber zweckmäßig eingerichtet. Das Bad war auch hier nicht groß, aber sauber und voll ausgestattet. Als Rebecca sich nach dem Duschen mit dem weißen Badetuch abrubbelte, musste sie fast schon wieder weinen. Es waren die gleichen Handtücher wie in Venedig. »Hotel Savera« war auch hier in den oberen Rand eingestickt worden.

 

Sie packte gerade ihren Koffer aus, als es klopfte. Vor der Tür stand Mariella zusammen mit ihrer Tochter Stella.

»Buongiorno, du Schlafmütze«, sagte Stella und grinste Rebecca an. Die hockte sich hin und fragte:

»Sie wurden mir noch gar nicht vorgestellt, kleine Schönheit.«

Das Mädchen lachte und ihre smaragdgrünen Augen trafen Rebecca mitten ins Herz.

»Aber ich bin doch Stella«, antwortete diese, als hätte Rebecca das längst wissen müssen.

»Ach, so!«, ging sie spielerisch darauf ein. »Na dann wünsche ich dir doch auch einen schönen Guten Morgen, Prinzessin Stella!«

Lachend hüpfte das Mädchen auf einem Bein durch das Zimmer. Rebecca richtete sich auf und bat Mariella herein. »Und? Schläft es sich auch in den römischen Betten der Saveras gut?«, fragte diese.

»Besser, muss ich gestehen, denn in Venedig hatte ich keine Klimaanlage.«

»Das wird daran liegen, dass sie dir dort kein vernünftiges Zimmer zur Verfügung gestellt haben. Ich werde mich bei meinem Vater beschweren für dich.«

Sie lachte. Rebecca aber schüttelte den Kopf:

»Nein, bitte nicht. Er war so freundlich zu mir, als ich ihn brauchte. Dabei hatte ich es gerade von ihm am wenigsten erwartet«, sagte sie.

»Ach, mein Vater tut nur so. Er hat ein gutes Herz. Nur die Schale hat sich ein wenig verhärtet mit der Zeit.«

 

»Ma guarda, mamma! Mama, guck doch mal! So ein schönes Bild will ich auch malen.«

Stella zeigte auf das Bild, das Rebecca auf dem Tisch ausgebreitet liegen hatte, damit es wieder glatt wurde.

»Attenzione«, ermahnte Mariella ihre Tochter. »Das sieht mir aus wie ein Originalkunstwerk meines Bruders, oder?« Rebecca nickte. »Also hat er doch jemandem seine Zeichnungen gezeigt.«

»Ja, mir und manchmal Stella. Sonst hat sich ja auch nicht wirklich jemand dafür interessiert. Im Gegenteil! Er wurde schon als kleiner Junge von unserer Mutter ausgeschimpft, wenn er zu viel Zeit mit seinen Stiften verbrachte. Sie wollte immer, dass aus ihm ein knallharter Geschäftsmann wird. Aber so ist Gregorio nicht. Er ist so vielseitig und offen für alles in dieser Welt. Die Verkleidung eines Geschäftsmanns würde ihn nur einengen und letztendlich ersticken«, sinnierte Mariella.

 

»Ich hätte so gern einen Rahmen für das Bild.« Fragend sah Rebecca Mariella an. »Ich habe Angst, dass es sonst irgendwann Schaden nimmt. Außerdem würde ich es gern irgendwo aufhängen. Es ist, zusammen mit dieser Kette«, sie zeigte auf den bunten Glasanhänger an ihrem Hals, »das Einzige, was mir von Gregorio geblieben ist.«

Traurig sah sie die Italienerin an.

»Mamma! Signor Bertollini soll ihr einen Rahmen machen. Ich weiß, dass er das kann. Er hat mir doch auch schon welche für meine Glitzerbilder gemacht. Weißt du noch, Mama?« Sie zupfte an ihrem Rock.

»Eine wunderbare Idee, Stellina mia!« Mariella streichelte ihrer Tochter über den Kopf.

»Am besten gehst du und zeigst Rebecca unser Esszimmer. Sicher hat sie Hunger.«

Rebecca bejahte das.

»Siehst du! Und ich gehe derweil Signor Bertollini holen, damit ihr einen schönen Rahmen für das Bild bauen könnt, ja?«

Stella bekam große Augen. »Glaubst du, ich darf ihm helfen? Oder zuschauen?«

»Aber ganz bestimmt glaube ich das. Jetzt aber los, ihr Zwei!«

 

Die kleine Stella kannte das große Hotel wie ihre Westentasche. Flink hüpfte sie von einer Etage zur nächsten und verlief sich auch nicht in dem Labyrinth der vielen gleich aussehenden Gänge. Im Gegensatz zum venezianischen Hotel, war das römische Haus von schlichterer Eleganz. Klare Linien und Unitöne dominierten im gesamten Gebäudekomplex.

»Wohin führst du mich nur?«, fragte Rebecca lachend.

»Na, in unser Zuhause. Ich habe doch in unserem Esszimmer schon den Tisch für dich gedeckt.«

»Bist du ganz sicher, dass ich bei euch zuhause willkommen bin? Ich meine, ich werde ab morgen eines eurer Zimmermädchen sein.«

»Ich möchte das aber nicht«, sagte Stella. »Ich hab schon zu Mama gesagt, dass ich dich lieber als meine Nanni will. Du willst das doch auch, oder?« Die grünen Augen sahen flehend zu ihr auf.

»Das möchtest du?«, fragte Rebecca erstaunt.

»Na, klar! Du bist doch die Freundin von meinem Onkel Gregorio. Und da muss ich doch ausprobieren, ob du auch die Richtige für ihn bist.«

Sie zog Rebecca am Ärmel zu sich herunter. »Das musste ich meinem Nonno Lorenzo doch gestern am Telefon versprechen«, flüsterte sie Rebecca ins Ohr und kicherte. »Du meinst, dein Opa möchte, dass du guckst, was ich so für eine bin?«, hakte sie nach.

Stella nickte.

»Gut, wenn das so ist, dann will ich jetzt auch mal sehen, ob du mir ein schönes Frühstück zubereitet hast.«

Rebecca zwinkerte dem Mädchen zu.

»Wirst du gleich sehen«, sagte die Kleine, öffnete die Tür zu einer geräumigen Suite und führte sie in das Esszimmer.

 

Das Hotel war perfekt organisiert. Mariellas Mann Sebastiano beherrschte sein Handwerk, das merkte Rebecca sofort. Trotzdem war er ein herzlicher Mann und fürsorglicher Vater. Ein bisschen beneidete Rebecca die kleine Familie um ihr harmonisches Leben voller Liebe und Reichtum. Alle waren so gut zu ihr, nahmen sie auf wie eine Verwandte, sodass sie es niemandem mehr gegönnt hätte als ihnen, so leben zu dürfen. Sie genoss die Zeit wie einen Urlaub. Auf Stella aufzupassen, machte ihr überhaupt keine Mühe. Im Gegenteil! Das Mädchen war aufgeweckt und immer gut gelaunt. Es gab nichts, was sie nicht brennend interessierte. Schon am zweiten Nachmittag ihres Aufenthalts kam Stella in Rebeccas Zimmer gestürzt.

»Du musst mir das Bild von Zio Gregorio geben.«

»Was willst du mit der Zeichnung von deinem Onkel? Habt ihr etwa einen Rahmen gebaut?«

»Pah, doch nicht bloß einen«, verkündete das Mädchen stolz. »Zuerst hat Signor Bertollini den Rahmen für dich gebaut. Währenddessen habe ich auch ein Bild gemalt, ein Bild vom Strand. Und weil Signor Bertollini es so gut gelungen fand, hat er mit mir zusammen auch noch dafür einen Rahmen gebaut.«

»Das ist ja toll!«, lobte Rebecca. »Kann ich vielleicht mitkommen zu Signor Bertollini? Dann kann ich mein Bild selbst zu ihm bringen.«

»Na klar!«, rief sie und rannte los. Rebecca schnappte sich die Zeichnung und beeilte sich, der Kleinen zu folgen.