Kapitel 10
Die Schürze hatte Rebecca gleich in der Küche gelassen. Am liebsten hätte sie sich schon auf dem Weg zum Innenhof ihres engen Rocks entledigt, aber so betrunken war sie nun doch nicht, dass sie nicht wusste, was sich gehörte und was nicht. Wenigstens die Bluse. Zwei Knöpfe nur, um ein bisschen Luft an den verschwitzten Körper zu lassen.
Sie öffnete die Tür zum Innenhof und lauschte, ob sie Emilia hörte. Auf die Beiden hatte sie nun wirklich keinen Nerv mehr heute Nacht. Alles war still, nur die Blätter rauschten leise im Wind. Sie zog die Schuhe aus und ging den Sandweg entlang. Am Brunnen machte sie halt und benetzte ihr Gesicht mit dem kühlen Wasser. Ihr Kopf war schwer und sie wünschte, sie hätte nicht so viel getrunken. Oder wenigstens etwas gegessen. Bei dem Gedanken an Essen wurde ihr schlecht.
»Oh, nein!«, stöhnte sie auf Deutsch. »Nicht das auch noch!« Aber es half nichts. Sie schaffte es gerade noch, sich in die Büsche zu schlagen, als sie auch schon die Getränke erbrach. Glas für Glas, so schien es ihr.
Als es vorbei war, lehnte sie erschöpft den Kopf an den Stamm einer Palme. Sie fröstelte. Minuten später setzte sie sich wieder an den Brunnenrand und schöpfte mit der Hand von dem Wasser, um sich wenigstens den Mund auszuspülen. Sie beugte sich vor und tauchte das ganze Gesicht ins Wasser. Sie wollte wieder klar im Kopf werden. Was für eine peinliche Aktion. Das war so gar nicht ihre Art. Schon gar nicht für irgendeinen Typ. Da waren ihr bisher ihre Studien viel wichtiger gewesen. Was war nur in sie gefahren? Da freute sie sich die ganze Woche auf ihren ersten freien Tag, um sich die Stadt anzusehen, und was tat sie? Sie würde mit Kopfschmerzen aufwachen, wohlmöglich gar nicht aufstehen können. Noch einmal tauchte sie den Kopf unter Wasser. Als sie sich aufrichtete und sich die nassen Haare aus dem Gesicht strich, stand ein Becher mit Cappuccino vor ihr auf der Mauer. Erschrocken blickte sie sich um.
»Ciao, piccola! Ti senti meglio adesso?«
Sie erkannte seine dunkle, samtene Stimme sofort. Aber wieso nannte er sie »Kleine«?
»Ja, danke! Es geht schon wieder«, antwortete sie stattdessen. »Der Amaretto hat mir wohl zu gut geschmeckt.«
»Sì, das schätze ich auch.« Er hielt ihr den Becher an die Lippen.
»Trink, piccola! Das hilft!«
Und es half tatsächlich. Zumindest half es, den bitteren Geschmack loszuwerden. Auch der Schwindel ließ etwas nach.
»Haben dir die Blumen gefallen?«, fragte Gregorio. Rebecca errötete, aber es war dunkel. Sowieso musste sie schrecklich aussehen: mit nassen Haaren und verschmiertem Make-up. Zum Glück hatte sie es nur ganz dünn aufgetragen.
»Sì, tanto!« Sie hatten ihr sehr gefallen.
»Ich wollte, dass du an mich denkst, während ich fort bin«, sagte er leise und streifte ihren Arm. Sofort breitete sich eine wohlige Gänsehaut an der Stelle aus, an der er sie berührt hatte.
»Haben Emilia und die anderen Zimmermädchen auch einen Strauß abbekommen?«, fragte sie stattdessen und sah ihm dabei fest in die Augen. »Sicher könntest du es nicht ertragen, dass auch nur eine Einzige von uns nicht an dich denkt, stimmt‘s?«
»Sie denken nicht an mich«, antwortete er. »Sie denken an den Besitz der Savera, den ich für sie verkörpere.«
Rebecca dachte nach, was nicht so einfach war, denn noch immer war ihr schwindelig. Nur wusste sie inzwischen nicht mehr, ob es am Alkohol oder an Gregorios vermeidlich charmanter Seite lag.
»Was sollte ich mit deinem Besitz wollen? Ich meine, es ist wunderschön, euer Hotel. Aber ich möchte Venedig kennenlernen. Das ist alles.«
Er sah ihr tief in die Augen. Dann nickte er. »Ja, ich weiß!«
Laut knurrte Rebeccas Magen, als Gregorio sie zu ihrem Zimmer begleitete.
»Ich werde dir noch ein paar Kleinigkeiten zu essen besorgen, während du dich frisch machst«, sagte er.
»Aber sicher wartet Emilia schon auf dich. Oder wer auch immer«, entgegnete sie.
»Mag sein! Aber ich gehöre ihr nicht. Und auch sonst keiner anderen«, antwortete er beinahe mürrisch. »Wir sind da. Ich bin gleich zurück.«
Damit ließ er sie stehen und verschwand durch die große Holztür, die ins Hauptgebäude führte. Kurz hörte Rebecca Musik und die ausgelassenen Gäste. Als die massive Tür sich schloss, war jedoch alles wieder still.
Rebecca putzte sich die Zähne, hängte ihre Kleidung über den Stuhl und verschwand wieder einmal unter der kalten Dusche. Fast hätte sie sein Klopfen überhört. Schnell stellte sie das Wasser ab, schlang sich eins der flauschigen Handtücher um ihren schlanken Körper und ging zur Tür.
Auf der linken Hand balancierte Gregorio einen großen Teller mit Antipasti. Unter dem rechten Arm klemmte ein Ciabattabrot, in der Hand hielt er eine große Flasche San Pellegrino. Rebecca lief das Wasser im Mund zusammen. »Und ich hatte schon gedacht, du hättest endlich Benehmen an den Tag gelegt und klopfst an, bevor du reinkommst.« Mit diesen Worten ließ sie ihn ein.
»Permesso!«, sagte er laut und deutlich, um sein gutes Benehmen noch einmal zu unterstreichen.
»Aber bitte, Signor Savera, so treten Sie ein in mein kleines Reich!«, antwortete sie und lachte.
Als Gregorio alles auf dem Tisch aufgebaut hatte, befahl er Rebecca, sich auf das Bett zu setzen. Er selbst setzte sich falsch herum auf den Stuhl und brach zunächst ein Stück Brot, das er ihr reichte. Ein weiteres Stück stopfte er sich selbst in den Mund. Dann begann er, sie zu füttern: Es gab eingelegte Auberginenscheiben in Knoblauch, gegrillte Paprikastreifen, Artischockenherzen und Käsewürfel. Zwischendurch reichte er ihr die Wasserflasche. Erst danach trank auch er davon. Zum Schluss, als sie es sich schon satt und schläfrig in den Kissen gemütlich gemacht hatte, setzte er sich mit einer Rebe auf die Bettkante und steckte immer abwechselnd, erst Rebecca, dann sich selbst, eine der saftigen Trauben in den Mund.
Rebecca schloss die Augen und hätte am liebsten wie ein Kätzchen geschnurrt. Im Paradies könnte es nicht schöner sein als hier und jetzt mit ihm in diesem winzigen Raum.
»So, und nun die letzte Traube.« Seine Stimme klang leise und rau. Gerade wollte sie die Augen öffnen, als die Traube in ihren Mund glitt ... und ihr Mund von warmen, weichen Lippen versiegelt wurde.
Eine heiße Welle der Erregung flutete durch Rebeccas Körper und entlockte ihr einen tiefen Seufzer. Es war ihr vollkommen unmöglich, Gregorio von sich zu stoßen. Das Gefühl war einzigartig: diese Wärme, dieser Duft, dieser Geschmack. Unwillkürlich öffnete sie die Lippen und ließ ihn ein. Mal spielten ihre Zungen mit der Traube, mal berührten sich die Zungenspitzen. Rebecca biss die Frucht in zwei Hälften und schob eine davon in seinen Mund zurück. Er stöhnte leise. Als beide Hälften gegessen waren, gab es kein Halt mehr für den Tanz in ihrem Mund. Rebecca griff in sein schwarzes Haar, um seinen Mund noch dichter an sich zu ziehen. Noch nie war sie so leidenschaftlich geküsst worden. Und noch nie hatte sie einen Kuss so leidenschaftlich erwidert.
Schwer atmend ließ er schließlich von ihr ab.
»Basta, piccola! Bitte lass uns aufhören. Du bist betrunken. Ich möchte nicht, dass du etwas tust, was du später bereust.«
Langsam drangen die Worte zu Rebeccas von Leidenschaft beschwipstem Hirn vor. Er hatte ja recht. Wie konnte sie nur. Nun war sie nur ein weiteres dummes Zimmermädchen mehr auf seiner Liste der Eroberungen. Sie hatte es ihm wahrlich nicht schwer gemacht.
Empört über sich selbst, wollte sie sich aufrichten, aber Gregorio drückte sie sanft in die Kissen zurück. Dann legte er sich hinter sie und legte einen Arm um ihre Taille. »Dormi, piccola! Schlaf jetzt! Ich werde dich wärmen«, flüsterte er in ihr Ohr und sie schloss erneut die Augen. Zu angenehm war seine Wärme. Zu müde war sie, um nicht augenblicklich in den Schlaf zu sinken.