Kapitel 19

 

Gegen 21 Uhr klopfte es an Rebeccas Zimmertür. Erschrocken fuhr sie aus ihrem Bett hoch. Sie hatte sich nur ein wenig ausruhen wollen von der harten Arbeit und von ihren schmerzlichen Gedanken. Sie wollte niemanden sehen, schon gar nicht Gregorio. Sicher kümmerte sich Emilia heute Abend schon um ihn. Ihre Gedanken begannen sich zu verselbständigen, als es erneut kräftig klopfte.

»Signorina, ich bin es.« Signor Savera klopfte persönlich an ihre Tür? Beeindruckt ging Rebecca zur Tür und öffnete sie einen Spalt breit.

»Hätten Sie vielleicht die Güte, mich einzulassen? Oder haben Sie schon vergessen, dass auch dieses Zimmer mir gehört?«, scherzte er. Sie hatte ihn noch nie scherzen hören und bis eben hätte sie sogar geschworen, dass er das nicht konnte.

»Certo, natürlich!« Sie öffnete die Tür ganz. Mit einem leisen »Permesso« trat er ein und sah sich um.

»Na wenigstens scheinen Sie eine ordentliche Person zu sein«, sagte er. »Aber das sagt man ja den Deutschen sowieso nach«, fügte er hinzu und setzte sich auf einen der beiden Stühle. »Zum Glück kennt er die WG meines Bruders nicht. Dann müsste er sein Weltbild noch einmal neu überdenken«, dachte sie.

 

»Es ist spät. Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie stattdessen. Signor Savera sah den Koffer in der Ecke stehen. Darauf eine Papierrolle.

»Ist das von meinem Sohn?« Er zeigte auf die Rolle. Rebecca nickte. »Ja, er hat mir die Zeichnung geschenkt. Als Erinnerung an unseren ersten gemeinsamen Ausflug.«

»Darf ich es sehen?« Bittend sah er sie an.

»Gern!« Sie reichte ihm die Rolle. »Allerdings weiß ich nicht, ob ich damit in Gregorios Sinn handle. Soweit ich weiß, zeigt er seine Bilder nicht herum.«

»Vermutlich, weil sich sowieso nie jemand dafür interessiert hat«, schnaubte Signor Savera. Er entrollte das Papier und sah sich die Zeichnung lange an. Dann rollte er sie wieder zusammen, nickte anerkennend und gab sie Rebecca zurück.

»Ich habe nachgedacht. Über alles, was Sie mir erzählt haben, habe ich mir Gedanken gemacht. Leider habe ich in diesem Moment noch keine Lösung parat. Das Einzige, was ich Ihnen auf die Schnelle anbieten kann, ist, Ihnen entweder einen Flug nach Berlin für morgen früh zu buchen, mit der Garantie, dass Sie von mir persönlich ein erstklassiges Arbeitszeugnis erhalten werden.«

Rebecca war gerührt. Es steckte offenbar mehr hinter der harten Schale des Italieners, als sie vermutet hatte.

 

»Oder«, fuhr er fort. »Ich lasse Sie noch heute Nacht mit meinem Privatjet nach Rom ausfliegen. Ich habe mit meiner Tochter Mariella telefoniert und ihr flüchtig die missliche Lage erklärt, in der Sie sich derzeit befinden. Wie Ihnen Gregorio möglicherweise erzählt hat, verfügen wir über weitere Hotels. Eins davon befindet sich in Rom. Meine Tochter und ihr Mann haben vor ein paar Jahren die Leitung dort übernommen. Da Sie morgen und übermorgen sowieso frei haben - vorausgesetzt, ich bin richtig informiert - dann könnten Sie sich dort ein wenig umsehen, und ab Dienstag eben dort als Zimmermädchen weitermachen. Dann wären Sie weiterhin in Italien, aber fort von Signorina Emilia. Und auch mein Sohn bekäme so Gelegenheit, sich darüber klarzuwerden, wie er sich sein zukünftiges Leben vorstellt. Er ist achtundzwanzig. Es wird Zeit. Denn wenn er weiß, was er will, dann muss sich auch seine Mutter nicht mehr um seine Zukunft kümmern. Non è così? Ist es nicht so?«

Er zwinkerte Rebecca verschwörerisch zu. Sie nickte dankbar.

 

»Sehr gern würde ich nach Rom fliegen«, sagte sie. »Ich möchte doch noch gar nicht nach Deutschland zurück. Was sollte ich meiner Familie auch sagen? Niemand würde mir glauben, denn alle wissen, dass ich schon seit Jahren davon geträumt habe, dieses Land kennenzulernen.«

»Va bene, also schön! Dann lassen Sie uns keine Zeit verlieren. Da ich mir Ihrer Antwort fast gewiss war, habe ich bereits alles vorbereiten lassen.« Er schien erleichtert.

»Aber ich habe mich gar nicht von Ariana und Matteo verabschiedet?« Sofort traten ihr wieder Tränen in die Augen. »Sie waren so freundlich zu mir. Sie haben mich vom ersten Tag an in ihrer Mitte aufgenommen, haben immer zu mir gehalten, waren immer für mich da.«

»Ich verspreche Ihnen, dass ich sie zu mir rufen werde, sobald Sie fort sind. Ich werde ihnen die Umstände erklären. Und wenn die Beiden es wünschen, werde ich auch gerne Nachrichten an Sie weiterleiten oder ihnen eine Telefonnummer nennen, unter der sie Sie erreichen können. Vorausgesetzt, Sie mögen mir Ihre Nummer mitteilen.«

»Natürlich! Sehr gern!«

»Na, dann lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren. Ausnahmsweise werde ich persönlich Ihren Koffer tragen. Wie man ja weiß, ist das Personal immer sehr redselig.«

Rebecca nickte zustimmend, nahm ihren Rucksack in die eine sowie die Zeichnung in die andere Hand. Traurig sah sie sich noch einmal in ihrem Zimmer um, blickte auf das Bett, auf dem sie und Gregorio sich noch vor einer Woche geliebt hatten. Dann klappte sie entschlossen die Tür hinter sich zu.

 

Am Hintereingang wurden sie von Signor Saveras Privatchauffeur bereits erwartet. Er nahm den Koffer entgegen und startete das Boot.

»Franco wird Sie sicher zum Flughafen bringen. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Signorina Hauser. Und vielleicht kreuzen sich unsere Wege ja eines Tages wieder.«

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll!«

Rebecca nahm seine Hand, schüttelte sie und küsste ihn dann - auf italienische Art - erst auf die eine, dann auf die andere Wange. Dann sprang sie ins Boot und blickte nicht mehr zurück.

 

Gegen 23 Uhr bestieg Rebecca den Privatjet der Familie Savera, der auf dem »Aeroporto di Venezia Marco Polo« für sie bereitstand. Kurz vor Mitternacht setzte das Flugzeug bereits zum Landeanflug auf den »Aeroporto di Roma-Fiumicino Leonardo da Vinci« an. Da der Flughafen 34 Kilometer vom Stadtzentrum Roms entfernt und direkt an der Mittelmeerküste lag, erwartete Rebecca auch hier feuchtes Mittelmeerklima. Trotz der späten Stunde war es warm genug für das leichte Kleid, das sie trug.

 

Sie hatte Mariella erst einmal gesehen: auf der Feier in Venedig, als sie dachte, sie sei Gregorios Frau.

Mariella holte sie persönlich ab. Während der Blick der Italienerin suchend über die Passagiere glitt - der Jet war zusammen mit der letzte Passagiermaschine des Tages gelandet - erkannte Rebecca die schöne Frau sofort. Sie trug ein cremefarbenes Kostüm und ihre hohen Riemchensandalen waren farblich exakt auf das dunkelrote Seidentuch abgestimmt, das sie trotz der Wärme um den Hals trug. Als sie sah, dass Rebecca auf sie zukam, winkte Mariella.

»Benvenuta a Roma! Willkommen in Rom!«

Sie umarmte sie und küsste ihre Wangen.

»Ich freue mich, dich endlich persönlich kennenzulernen«, sagte sie und es klang wirklich herzlich in Rebeccas Ohren. Mariella sah sich um, schnippte mit dem Finger und schon kam ein freundlicher, kleiner Mann angelaufen, der das Hotellogo der Saveras auf der Brusttasche trug. Sofort nahm er Rebecca den Koffer ab und trug ihn zu einer schwarzen Limousine.

 

Mariella setzte sich neben Rebecca und schaute sie an.

»Du bist genauso schön, wie mein Bruder dich beschrieben hat, als er vor ein paar Wochen hier war.«

Rebecca errötete. »So, hat er das?« Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.

»Aber natürlich!«, sagte Mariella. »Er hat von nichts anderem gesprochen.«

Rebecca schluckte schwer. Wie ungerecht das Leben manchmal war. Anscheinend empfand er mehr für sie als Emilia ihr hatte weis machen wollen. Doch nun war sie fort und hatte Emilia das Feld überlassen.

 

Mariella schwieg, als die Tränen in Rebeccas Augen schimmerten. Sie würden noch genug Zeit haben, um sich über ihren Bruder auszutauschen.

Gregorios Wecker - Rebecca hatte ihn achtlos mit eingepackt - zeigte 2:30 Uhr an, als sie schließlich vollkommen erschöpft in einen unruhigen Schlaf fiel.