Kapitel 2
Rebecca atmete tief ein. Das Wasser roch nicht moderig, wie sie in einem der Reiseführer gelesen hatte. Im Gegenteil! Es roch nach Meer und die Morgensonne wärmte ihr Gesicht. Sie schloss die Augen und gab sich ganz dem sanften Schaukeln des Bootes hin, das sie durch die Kanäle sicher ans Ziel brachte.
Gerade noch rechtzeitig öffnete sie die Augen.
»Prossima fermata: San Zaccaria!«, brüllte der Bootsführer. Eilig griff Rebecca nach ihrem schweren Koffer. Im Wassertaxi nützten ihr die Rollen wenig. Zum Glück halfen ihr zwei freundlich lächelnde Italiener, das Ungetüm von Bord zu bekommen. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Es war noch Vormittag, aber die Sommersonne konnte auch hier im Norden Italiens um diese Jahreszeit erbarmungslos sein. Schnell wischte sie eine blonde Strähne beiseite, dann sah sie auf.
»Wow!«, entfuhr es ihr, als ihr Blick die Fassade des barocken Gebäudes emporwanderte. Der große Palazzo war in gotischem Stil erbaut und sicher mehrere hundert Jahre alt. Mit der freien Hand schirmte Rebecca die Sonne ab. Ihre kunsthistorische Leidenschaft machte sich sofort bemerkbar, denn am liebsten hätte sie die alten Mauern sanft berührt, an ihnen geschnuppert, als könne sie dem Stein dadurch die lange Geschichte vergangener Epochen entlocken.
»Signorina! Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Erschrocken blickte Rebecca sich nach der Stimme um. Ein akkurat gekleideter Portier mittleren Alters wartete auf Antwort. Sein dunkelblauer Anzug trug das Logo des Hotels und die goldenen Knöpfe glänzten mit seinen Schuhen um die Wette.
Ob der Portier sie die ganze Zeit beobachtet hatte? Wenn ja, so ließ er es sich nicht anmerken.
»Wie peinlich!«, schoss es Rebecca durch den Kopf. Dann aber straffte sie die Schultern und sagte in ihrem schönsten Italienisch:
»Mein Name ist Rebecca Hauser und ich bin aus Berlin angereist, um in diesem Hotel - «, dabei versuchte sie mit einer ausladenden Armbewegung, das pompöse Bauwerk zu erfassen. »Weil ich hier eine Stelle als Zimmermädchen antreten möchte.«
Der Portier lächelte, verbeugte sich leicht und griff nach ihrem Koffer, dann führte er die junge Frau ins Innere des Hotels.
Rebecca machte große Augen. Das Foyer war einfach atemberaubend: die meterhohe Decke stuckverziert und von Rundbögen gehalten. Neben einigen pompösen Sitzgelegenheiten, bezogen mit cremefarbenem Samt, ein ausladend schönes Blumenarrangement in einem handgearbeiteten Terracottakübel. Eine langgeschwungene Freitreppe führte in die darüber gelegene Etage, genau wie in alten Hollywood Filmen. Rebecca wusste nicht, wohin sie zuerst blicken sollte. Als der Portier ihren Koffer an einen Pagen weiterreichte und sich verabschiedete, vergaß sie sogar, sich zu bedanken. Ein attraktiver Mann mit schwarzem Haar kreuzte ihren Weg. Beinahe wäre er mit Rebecca zusammengestoßen. Als er sie erblickte, pfiff er anerkennend durch die Zähne und zwinkerte ihr zu, wandte sich dann aber einer der Angestellten zu, bevor Rebecca reagieren konnte.
»Signorina!«, riss der Page sie schließlich aus ihren Beobachtungen. »Ich soll Sie zu Ihrem Zimmer bringen. Es ist im Hinterhaus. Da, wo wir anderen auch untergebracht sind. Das hier ist leider nur den zahlenden Gästen vorbehalten.« Er lächelte sie entschuldigend an.
»Das ist gar kein Problem«, versicherte Rebecca ihm.
»Ich studiere Kunstgeschichte. Das ist meine Leidenschaft. Ich war nur etwas überwältigt. So großartig habe ich mir das Hotel in meinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt.«
»Na dann hoffe ich, du wirst deine Meinung gleich nicht ändern. Ich darf doch Du sagen? Ich bin übrigens Matteo«, stellte er sich vor.
»Rebecca heiße ich.« Sie reichte ihm die Hand.
»Allora, vieni! Komm, ich zeige dir, wo du von nun an schlafen wirst.«
Damit griff er wieder nach ihrem Gepäck und marschierte los.
Unterwegs beobachtete sie den jungen Mann. Er war relativ groß für einen Italiener, aber noch sehr schlaksig. Trotzdem trug er den Trolley am Griff und ließ ihn nicht rollen. Er schien es gewohnt zu sein, schweres Gepäck zu tragen. Natürlich, es war ja sein Job. Sein Haar war rabenschwarz und glänzend glatt. Es reichte ihm bis zum Kinn. Eine Frisur, die nur den Männern dieses Landes stand. Warum, wusste Rebecca auch nicht. Jedenfalls war er nett und sie fühlte sich gleich nicht mehr so allein.
Sie gelangten in den hinteren Teil des Hotels, wo Matteo sie durch ein reich verziertes Holztor hindurch in ein weniger imposantes Nebengebäude führte. Hier war der Boden nur blassblau gefliest. Der lange Flur wurde auf der einen Seite von einer breiten Fensterfront erhellt, während von der anderen Seite diverse Holztüren vermutlich zu kleinen Zimmern führten, die ausschließlich dem Dienstpersonal vorbehalten waren. Zum Glück waren die Türen nummeriert, sonst wäre Rebecca sicher Gefahr gelaufen, aus Versehen statt ihres Zimmers eines der anderen Angestellten zu betreten.
Ausgerechnet vor der Zimmernummer 13 stellte Matteo den Koffer ab.
»Och, nee!«, entfuhr es Rebecca auf Deutsch. Fragend sah Matteo sie an.
Sie lachte: »Die Zahl 13 ist eine Unglückszahl. Wusstest du das nicht?«
Matteo schüttelte den Kopf. »Ma no! Aber nein! In Italien ist es eine Glückszahl.«
»Davvero? Echt?« Rebecca war skeptisch, folgte Matteo dann aber durch die Tür, durch einen winzigen Flur, in ihr neues, Zuhause. Im Vorbeigehen sah sie ein kleines, aber sauberes Badezimmer. Das würde sie sofort benutzen, sobald Matteo gegangen war. Er stellte Rebeccas Koffer neben einem schlichten Sekretär ab, ging zum Fenster und zog die schweren, blauen Vorhänge auf. Sofort durchflutete die Sonne den Raum. Rebecca sah sich um: ein schmales Bett, ein Schrank, der Sekretär und ein Tisch mit zwei Stühlen. Nicht sehr gemütlich, aber zweckmäßig. Rebecca würde dem Zimmer schon Leben einhauchen, sobald sie sich eingerichtet hatte.
»Tutto bene?« Matteo sah sie fragend an. Rebecca nickte. »Ja, danke! Es ist alles bestens.« Erschöpft ließ sie sich auf einen der Stühle sinken.
»Allora, ti lascio, dann lasse ich dich jetzt. In einer Stunde gibt es Mittagessen für uns in dem Raum neben der Großküche. Ich hole dich rechtzeitig ab.«