Kapitel 15
Um 5.30 Uhr trällerte ein Sänger sein fröhliches Lied in den Raum. Erst wusste Rebecca das Geräusch nicht einzuordnen, dann fiel ihr ein, dass es Gregorios Wecker war, der sie zur Arbeit rief. Sie gönnte sich noch zehn Minuten, in denen sie von der vergangenen Nacht träumte. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Gregorio bereits gegangen war. Sie hatte es nicht anders erwartet. War sie es nicht selbst gewesen, die ihn bat, es niemanden wissen zu lassen?
Ihre Glieder schmerzten von den ungewohnten Aktivitäten des Vortages. Eine Dusche würde wie immer helfen.
Nackt ging sie ins Badezimmer, setzte sich auf die Toilette und schaute dabei zum Spiegel. Tränen traten ihr in die Augen, als sie das Blatt dort klemmen sah. Es war eine Zeichnung des Blumenmarktes. Mit Lippenstift stand auf dem Spiegel: Grazie. Daneben ein Herz.
»Grazie a te. Ich danke dir«, flüsterte sie, erhob sich und presste die Zeichnung an ihre Brust. Sie versteckte das Blatt in ihrem leeren Koffer. Dann beeilte sie sich, fertig zu werden.
Die zweite Arbeitswoche ging Rebecca viel leichter von der Hand. Zum einen lag es einfach daran, dass die Arbeitsabläufe ihr langsam in Fleisch und Blut übergingen, zum anderen konnte sie die Anzeichen von Verliebtheit nicht mehr leugnen. Immer wieder hing Rebecca ihren Gedanken nach und stets kam Gregorio darin vor. Sie erinnerte sich an seine Blicke und Gesten und ebenso daran, wie konzentriert er aussah, wenn er zeichnete oder sie liebte. Sie spürte sein Haar zwischen den Fingern, seinen Mund auf ihren Lippen und seine Härte in ihrem Schoß.
Rebecca blickte von ihrer Arbeit auf, weil sie sich beobachtet fühlte. Emilia lehnte im Türrahmen von Zimmer Nummer 168 und betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. Erschrocken richtete Rebecca sich auf. Sie fühlte sich ertappt, als hätte sie etwas Verbotenes getan. »Tutto bene? Alles in Ordnung mit dir?« Emilia sah sie prüfend an.
»Na klar! Was führt dich denn in meine Etage?«
Rebecca versuchte, so locker wie möglich zu wirken.
»Ach, eigentlich nichts«, erwiderte die Rivalin. »Ich dachte nur, du wüsstest vielleicht, wo der Sohn vom Chef ist.«
Ohne es zu wollen, wurde Rebecca rot.
»Aber, aber! Nun schäm dich doch nicht gleich! Nur, weil du auch mal mit ihm gevögelt hast. Ist ja nicht so schlimm. Da mussten wir schließlich alle schon mal durch.«
Emilia lachte anzüglich und strich sich den kurzen Rock glatt.
Rebecca traten die Tränen in die Augen vor Wut und Scham, aber sie sagte nichts. Diese Genugtuung würde sie Emilia nicht schenken.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, antwortete sie stattdessen. »Und nein, ich weiß nicht, wo er ist.«
»Ma non importa! Macht ja nichts! Dann sehe ich ihn sicher heute Abend im Fitnessraum oder in der Sauna.«
Sie grinste böse, öffnete keck einen weiteren Knopf ihrer ohnehin viel zu engen Bluse und machte auf dem Absatz kehrt. Am liebsten hätte Rebecca mit dem Handfeger nach ihr geworfen.
Den ganzen Dienstag über lief ihr Gregorio kein einziges Mal über den Weg. Sie wusste nicht, was für Aufgaben er hier im Hotel ausführte. Auch später, als Rebecca den Abend auf der Bank im Innenhof ausklingen ließ, blieb sie allein. Vergeblich versuchte sie, sich auf ihre leichte Lektüre zu konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu dem besagten Fitnessraum ab. Sie stellte sich vor, wie Emilia mit Gregorio in der Sauna saß und wie ihr dabei der Schweiß in einem Rinnsal zwischen den nackten Brüsten hindurch floss, Richtung Schoß. Rebecca stellte sich vor, wie Gregorio dabei zusah und wie seine Männlichkeit dabei wuchs. Mit einem lauten Knall klappte sie das Buch zu und ging in ihr Zimmer. Doch auch hier wollte der Schlaf sie nicht von den Fantasien erlösen, die Emilia ihr in den Kopf gepflanzt hatte.
Vollkommen gerädert wachte sie schon auf, bevor der Wecker die Musik erklingen ließ, machte sich fertig und ließ sich von Ariana einen doppelten Espresso zubereiten. Als sie mit ihrer Arbeit begann, hoffte sie inständig, dass Emilia sie heute in Ruhe lassen würde. Warum konnte Rebecca sie nicht einfach ignorieren? Sie hatte so schöne Momente mit Gregorio erlebt, von denen sie zehren konnte. Sie hatte schließlich keinen Anspruch darauf, dass er jede freie Minute mit ihr verbrachte, nur, weil sie einmal miteinander geschlafen hatten. Wünschte sie ihn wirklich beständig in ihrer Nähe? Oder wollte sie ihn nur unter Kontrolle haben, damit er nicht zu Emilia oder einer der anderen ging? Normalerweise war es nicht Rebeccas Art, andere an sich zu ketten, aber sie konnte nicht leugnen, dass Emilias Sticheleien sie bis ins Mark verletzten. Mit diesen und ähnlichen Gedanken verging der Tag. Umso dankbarer war Rebecca darüber, dass sie für heute mit der Arbeit fertig war, ohne Emilia begegnet zu sein.
Leider jedoch hatte sie sich zu früh gefreut. Als Rebecca gerade ihren leeren Pastateller einem der Küchenmädchen reichte und sich an ihr Brasato - einen toskanischen Rinderschmorbraten - machen wollte, tauchte Emilia auf. Zusammen mit einem schmächtigen Zimmermädchen mit dünnen, schwarzen Strähnen, setzte sie sich ans andere Ende des langen Holztisches, wo sie ungeniert gackerten und ebenso ungeniert den Namen Gregorio erwähnten.
»Er war wieder so unglaublich ausdauernd«, hörte Rebecca die Feindin schwärmen. »Du solltest seinen verschwitzten Körper sehen, wenn er Sport gemacht hat.«
Die Schwarzhaarige kicherte hysterisch auf.
Rebecca nahm den Rotwein und schenkte sich das Glas voll. Der zarte Braten quoll in ihrem Mund auf und wollte nicht rutschen. Sie brauchte ein weiteres Glas Wein, um ihren Teller leer zu essen. Schließlich hatte der Rotwein ihre Nerven so weit beruhigt, dass sie ohne zu zittern aufstehen und ihren Teller abräumen konnte.
Emilia würdigte sie derweil keines Blickes. Auch wenn Rebecca genau spürte, dass sie jede ihrer Bewegungen verfolgte.
Auf dem Weg zu ihrem Zimmer schwor Rebecca, sich diese einzigartigen Wochen hier in Italien nicht mehr von einer einzigen Person kaputtmachen zu lassen. Obwohl es wochentags war, nahm Rebecca ihren Rucksack und machte sich auf zu einem Spaziergang den Canale Grande entlang. Die Luft war lauwarm, die Sonne fast untergegangen. Die Dämmerung in Venedig war viel kürzer, als Rebecca es aus Deutschland gewohnt war. Und so dauerte es nicht lange, bis dass es dunkel war.
Nur von den Straßenlaternen erleuchtet, bekam die Lagunenstadt ein ganz anderes Flair: Geheimnisvoll wirkte das alte Gemäuer, romantisch die Gondeln, die verliebte Pärchen durch die dunklen Kanäle schipperten.
Rebecca hatte nichts Besonderes geplant. Sie wollte sich auch nicht weit entfernen. Daher schlenderte sie zur Piazza San Marco, bestaunte die Palazzi im nächtlichen Schein und kaufte sich schließlich ein Eis. Sie setzte sich auf einen Mauervorsprung und beobachtete das abendliche Treiben auf dem Canale Grande. Manche Touristen hatten keine Kosten gescheut, sich in einer beleuchteten Gondel der nächtlichen Romantik hinzugeben.
Wieder dachte sie an Gregorio. Nie hätte sie gedacht, dass zwei Tage ohne ihn, so lang sein würden. Wo war er nur? Verbrachte er tatsächlich seine Nächte mit Emilia? Nach allem, was sie miteinander erlebt hatten? Warum konnte sie nicht einfach glauben, was er ihr gesagt hatte? Und war da nicht diese wunderschöne Zeichnung unter ihrem Bett versteckt, die er extra für sie angefertigt hatte? Doch Rebecca war keine Italienerin. Mit ihr gab es keine Zukunft. Emilia wohnte hier, kannte das Hotel und offensichtlich auch seine Vorlieben. Hin und her wanderten ihre Gedanken. Mal war sie voller Hoffnung, dann wieder voller Zweifel und Resignation. Schließlich stand sie auf und kehrte zum Hotel zurück. Auch heute Abend war Gregorio nirgendwo zu sehen.