Kapitel 26

 

Es wollte Rebecca einfach nicht gelingen, wieder in ihren Alltag zurückzufinden. Zwar gaben sich Timo und Stefan große Mühe, die WG etwas sauberer zu halten. Stefan war sogar mehrmals freiwillig einkaufen gegangen. Timo hatte ohne Fragen zu stellen Nägel und einen Hammer ausfindig gemacht und die gerahmten Zeichnungen über Rebeccas Bett aufgehängt.

 

Sie hatte ihr Studium wieder aufgenommen und langsam verblassten die ersten Erinnerungen. Sie hatte panische Angst davor, dass sie eines Tages auch die Erinnerungen an Gregorio verlieren würde. Mindestens drei Mal pro Woche rief er sie an. Jedes Mal erklärte er ihr, wie sehr er sie vermisste. Zweimal hatte er ihr mit Fleurop Blumen geschickt. Sie presste die schönsten Blüten von ihnen in einem alten Telefonbuch.

 

Nach weiteren Wochen war Rebecca soweit wieder in der Normalität angekommen, dass sie sich gelegentlich mit ihren Freundinnen traf. Natürlich wollten die alles über ihren coolen Aufenthalt in Italien wissen. Aber bald schon merkten sie, dass das Thema Rebecca doch zu sehr aufwühlte. Was immer dort vorgefallen war, es hatte sie verändert. Also beschränkten sie sich darauf, einfach Spaß miteinander zu haben.

 

Rebeccas Mutter kam zu Besuch. Timo zog extra zu Stefan ins Zimmer - was dieser gar nicht so toll fand -, damit ihre Mutter ein Zimmer für sich hatte. Mit ihr gelang es Rebecca, erstmals über Italien und den schrecklichen Schmerz zu sprechen, der seit dem Verlust Gregorios ihr ständiger Begleiter war.

»Aber warum gehst du denn nicht nach Italien, Herzchen? Wenn es dir doch so gut gefallen hat da. Besser als diese heruntergekommene Bude ist es überall«, sagte ihre Mutter.

»Mama, weil ich studiere, natürlich.«

»Aber sagtest du nicht, der junge Mann sei wohlhabend?« Rebecca verdrehte die Augen. »Ja, ist er. Aber was hat das mit meinem Studium zu tun? Das mache ich für mich. Es interessiert mich. Es ist meine Leidenschaft.«

»Die Leidenschaft einer jungen Frau sollte in erster Linie ihrem Ehemann gelten«, erklärte sie. »So war das jedenfalls zu meiner Zeit.«

»Ach Mama, die Zeiten haben sich lange geändert. Gregorio ist meine Leidenschaft, ebenso wie Italien und mein Studium eben auch.«

»Man kann nun mal nicht auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig tanzen«, wusste die Mutter.

Rebecca begriff, dass auch ihre Mutter ihr keine Hilfe war. Also sagte sie: »Ist auch nicht so wichtig. Die Zeit wird schon die Wunden heilen. Lass uns zu den Jungs gehen und sehen, was im Fernsehen läuft.«

 

Der Sommer hatte sich endgültig aus Deutschland verabschiedet. Es war Oktober geworden und die Blätter verfärbten sich. Kurz darauf setzten die ersten Herbststürme ein. Wenn Rebecca morgens zur Uni aufbrach, konnte sie ihren Atem sehen. Sie kramte Schal und Handschuhe aus der hintersten Ecke ihres Schrankes hervor. Anfang November gab es den ersten Frost, Ende November den ersten Schnee. Auch wenn Gregorio sie weiterhin regelmäßig anrief und sich weder an ihren noch an seinen Gefühlen etwas geändert hatte, wurde sie immer depressiver. An einem besonders grauen und nasskalten Morgen Anfang Dezember spielte sie sogar mit dem Gedanken, sich von Gregorio zu trennen. Doch je öfter sie darüber nachdachte, umso mehr wurde ihr klar, dass diese Variante noch unerträglicher war als die, die sie momentan lebten. Sie entschied sich dafür, sich vorerst ganz auf ihr Studium zu konzentrieren. Wenn sie lernte, hatte sie keine Zeit, an Venedig zu denken.

 

Die Stadt war inzwischen weihnachtlich dekoriert worden. Überall machten die Leute Besorgungen, suchten nach Geschenken für ihre Liebsten. Das Fest der Liebe stand vor der Tür. Doch leider hatte Rebecca ihr Herz schon im Sommer in der Stadt der Liebe verloren. Immer hatte sie sich um die Weihnachtszeit Schnee gewünscht, weil er diese Zeit dann irgendwie romantischer machte.

Ausgerechnet in diesem Winter aber, in dem sie gern einen großen Bogen um jegliche romantische Illusion gemacht hätte, schneite es. Und gar nicht wenig. Es schneite drei Tage lang wattebauschdicke Flocken vom Himmel.

Rebecca saß am Fenster und sah mit trostlosem Blick zu, wie sie zur Erde hinabschwebten. Plötzlich klingelte ihr Handy. Es war Gregorio. Als sie seine Stimme hörte, brach sie in Tränen aus.

 

»Ma, piccola! Che cos‘ è sucesso? Aber Kleine, was ist denn passiert?« Seine Stimme klang besorgt.

»Es schneit«, schluchzte sie. »Und es will gar nicht mehr aufhören.«

»Aber das ist doch wundervoll«, fand Gregorio. „In Italien schneit es fast nie. Das ist doch sehr romantisch.«

Doch Rebecca weinte nur noch mehr, als er das sagte.

»Das ist ja gerade das Problem. Ich will nicht, dass es romantisch ist. Mein Leben ist eine einzige Katastrophe. Wäre ich bloß nie nach Italien gekommen!«

»Aber Piccolina, was sagst du denn da?«

Er klang verletzt.

»Wenn es romantisch ist, aber du nicht bei mir bist, dann kann ich es einfach nicht mehr ertragen.«

Sie konnte sich gar nicht wieder beruhigen. Der ganze Frust und die Entbehrungen der letzten Monate brachen aus ihr heraus. Geduldig hörte er ihr zu. Erst, als ihre Tränen versiegten, fragte er:

»Wenn ich jetzt bei dir wäre, hättest Du dann Lust, mit mir im Schnee spazierenzugehen?«

»Was für eine dumme Frage! Natürlich würde ich das. Nichts wünsche ich mir mehr als das.«

Ihr Weinen nahm wieder zu. »Gregorio, es tut mir leid, aber irgendetwas muss passieren. Ich glaube, ich kann das so nicht mehr.«