11

Seengen, 2010

Möchten Sie etwas essen?«

Anouk tauchte aus ihrer Gedankenwelt auf wie ein Schatzsucher aus der Tiefsee. Sie blickte in die fragenden Augen der Bedienung und runzelte verwirrt die Stirn.

»Bitte?« Dann aber bemerkte sie, dass alle Tische im Café bereits fürs Mittagessen eingedeckt waren. Die Uhr hinter dem Tresen zeigte Viertel vor zwölf. »Nein, danke«, erklärte sie und schob hastig die Papierschnipsel zusammen. »Die Rechnung, bitte.«

Der Himmel hatte aufgeklart. Anouk klemmte sich den Schirm unter den Arm und suchte in ihrer Handtasche nach ihrem Handy. Sie wollte Max anrufen und ihn bitten, nochmals sein Laptop benützen zu dürfen. Mit gesenktem Kopf lief sie durchs Dorf, bis sie unsanft gegen einen Passanten prallte. Ihre Louis-Vuitton-Tasche flog in hohem Bogen in eine Pfütze.

»Können Sie denn nicht aufpassen?«, knirschte Anouk mit zusammengebissenen Zähnen.

Sie bückte sich nach der triefenden Ledertasche. Während sie sich wieder aufrichtete, wanderte ihr Blick an einer dunkelblauen Leinenhose, braun gebrannten Armen und einer gestreiften Krawatte entlang in die Höhe.

»Anouk? Entschuldige, ich war in Gedanken.«

»Oh, Herr Rufli …« Sie legte den Kopf in den Nacken und lächelte erfreut zum Kurator hoch. »Keine Gemäldeausstellung zu organisieren?«

Valeries Jugendfreund lachte und zeigte dabei eine Anzahl perfekt gearbeiteter Jacketkronen.

»In der Tat, junge Dame«, entgegnete er, »sobald das Theaterstück aufgeführt worden ist, wird im Schloss eine Vernissage stattfinden.«

Junge Dame? Sie hob amüsiert die Augenbrauen.

»Wie ich gehört habe«, fuhr der Kurator fort und zwinkerte ihr dabei schelmisch zu, »hat das dörfliche Ensemble dieses Jahr einen berühmten Gaststar verpflichten können.«

Anouk lächelte säuerlich. »Star ist gut«, meinte sie und hielt die tropfende Handtasche auf Armeslänge von sich. »Ich werde mich sicher bis auf die Knochen blamieren.«

»Aber nicht doch. Wenn du das Talent deiner Großtante geerbt hast, wird dir ganz Seengen zu Füßen liegen.«

Anouk wiegte zweifelnd den Kopf, fühlte sich aber komischerweise getröstet.

»Für die Provinz wird’s schon reichen«, entfuhr es ihr.

Sie verstummte. Das hätte sie besser nicht sagen sollen, es war sehr unhöflich von ihr gewesen. Ruflis Augenbrauen zogen sich daraufhin denn auch für einen Moment zu einem durchgehenden Strich zusammen. Doch sogleich entspannten sich seine Gesichtszüge wieder.

»So, ich muss weiter«, sagte er nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr. »Grüße bitte Valerie von mir! Ich werde sie in den nächsten Tagen einmal anrufen.«

Vom Kirchturm schlug es zwölf. Sie wandten beide den Kopf, dabei streifte Rufli Anouks Arm.

»Abi in malam crucem!«

»Bitte?«, fragte sie verwirrt.

»Wie?« Der Kurator hatte sich bereits umgedreht und schaute über seine Schulter zurück.

»Sie haben noch etwas zu mir gesagt.«

»Ich? Nein. Nur, dass du deine Großtante grüßen sollst.« Doch sein Tonfall war eine Spur zu beiläufig, als dass sie ihm geglaubt hätte.

»Aber …«

»Tut mir leid, Anouk, ich würde ja gerne noch etwas mit dir plaudern, aber ich habe einen wichtigen Termin.«

Der Kurator blinzelte und zeigte wieder sein Gebiss, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und davoneilte.

Anouk schaute ihm verblüfft hinterher. War das etwa Latein gewesen? Jetzt rächte sich, dass sie diese Sprache nie gelernt hatte. Ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass Tati vermutlich mit dem Mittagessen auf sie wartete. Anouk schüttelte den Kopf. Alte Leute wurden eben wunderlich. Sie wandte sich um und schritt zügig aus. Plötzlich dachte sie an den Anruf. Jetzt hatte sie doch tatsächlich vergessen, Rufli zu fragen, was er von ihr gewollt hatte.

»Zu allem Übel auch noch vergesslich!«, murmelte sie. »Das Leben ist doch schön.«

Der Maler und Valerie saßen bereits beim Essen, als Anouk eine Viertelstunde später in die Küche platzte. Ihre Großtante hatte sich eine rot karierte Küchenschürze über ihr gelbes Baiserkostüm gebunden, was ihr das Aussehen einer verkleideten Pampelmuse verlieh. Es gab Bratwurst mit Rösti. Anouk lief das Wasser im Mund zusammen. Bei Tatis Kochkünsten würde es sicher nicht länger als einen Monat dauern, bis sie ihr altes Gewicht wieder erreicht hätte, wenn nicht sogar noch ein paar Kilos darüber hinaus.

»Entschuldigt bitte die Verspätung!«, keuchte sie und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Mir lief die Zeit davon.«

Ihre Großtante quittierte die Entschuldigung mit einem Augenrollen, der Maler grinste dümmlich. Anouk häufte sich einen riesigen Berg Rösti auf den Teller. »Übrigens habe ich vorhin den Kurator im Dorf getroffen. Er lässt grüßen.«

Valeries Augen wurden groß. »Herbert?«, fragte sie. Anouk nickte. »Komisch, soweit ich weiß, ist er diese Woche doch außer Landes. Bist du sicher?«

»Aber ja, Tati, wir haben ja miteinander gesprochen. Wie sollte ich dir sonst Grüße von ihm ausrichten können?«

Ihre Großtante schürzte die Lippen. »Natürlich, wie dumm von mir«, murmelte sie, »da habe ich wohl etwas falsch verstanden.«

Valerie lud dem Belgier eine zusätzliche Portion Rösti auf den Teller, ohne seinen Protest auch nur ansatzweise zu beachten. Der Maler resignierte und widmete sich, nachdem er den Knopf an seinem Hosenbund geöffnet hatte, weiter seiner Mahlzeit. Anouk schmunzelte. Der würde vermutlich schon nach einer Woche nicht mehr in seine Garderobe passen.

»Wie läuft’s denn mit dem Porträt?«, fragte sie.

Über Valeries Gesicht lief ein Strahlen. »Du musst es dir unbedingt anschauen, Liebes. Monsieur van der Hulst ist ein wahrer Meister seines Faches!«

Sie legte dem Maler lächelnd die Hand auf den Arm. Dieser schreckte auf und hielt schützend seine Hände über den Teller, in der Angst, noch einen Nachschlag zu bekommen. Anouk lachte schallend, verschluckte sich und fing an zu husten.

Nach dem Kaffee entschuldigte sie sich und ging auf ihr Zimmer. Sie rief ihre Mutter an, die sich natürlich darüber beklagte, dass sie sich so selten bei ihr meldete. Beide vermieden es tunlichst, auf Julia zu sprechen zu kommen. Danach versuchte Anouk, ihre Schwester zu erreichen – ohne Erfolg. Sie nahm sich vor, es am Abend noch einmal zu versuchen. Kurz überlegte sie, auch Max anzurufen, doch vermutlich hatte seine Sprechstunde schon begonnen, und sie wollte ihn nicht bei der Arbeit stören. Anouk räumte ihre durchweichte Handtasche aus und legte sie zum Trocknen auf einen Stuhl. Die Papierschnipsel und ihren Spiralblock verstaute sie in der Nachttischschublade.

Im Zimmer war es stickig. Anouk öffnete ein Fenster und atmete tief durch. Der Hallwilersee schimmerte in den unterschiedlichsten Blautönen unter einer gleißenden Mittagssonne. Der regnerische Morgen hatte die Luft und die staubige Vegetation reingewaschen. Die fleischigen Blätter der Bergenien am Gartenzaun und der dahinterliegende Asphalt glänzten wie frisch poliert. Plötzlich schoss knapp vor ihrem Gesicht eine Krähe vorbei. Anouk zuckte erschrocken zurück.

»Mistvieh!«, murmelte sie und erinnerte sich unwillkürlich an deren aggressive Artgenossin auf dem Friedhof. »Kein Wunder, dass euch keiner mag!«, rief sie dem Vogel hinterher, der spöttisch krächzte und sich auf dem Briefkasten niederließ. Er plusterte seine Federn auf und äugte aufmerksam zur Brombeerhecke.

Anouk lehnte sich weit aus dem Fenster und blickte ebenfalls in Richtung der Büsche. Dort stand das rotgelockte Mädchen vom vergangenen Montag, die Hände wie zum Gebet vor der Brust verschränkt, auf dem noch feuchten Rasen und schaute zu ihr hoch. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte es, hob eine Hand und winkte ihr zu. Anouk winkte zurück.

Was für ein süßes Ding! Das Mädchen trug dasselbe Nachthemd wie am Montag. Seine üppigen Locken umwehten das herzförmige Gesicht, als würde das Kind unter Strom stehen. Ein schneller Blick in die Runde bestätigte Anouk, dass es erneut allein unterwegs war. Eine kleine Abenteurerin im Vorschulalter?

»Hi, Süße!«, rief sie in den Garten hinab. »Hast du dich verlaufen?«

Die Augen des Mädchens wurden kugelrund. Es verzog das Gesicht, seine Lippen fingen an zu zittern, und eine einzelne Träne rann die pausbäckige Wange hinab. Anouk erschrak. Was hatte die Kleine denn?

»Warte, ich komme runter.«

Eilig schloss sie das Fenster und lief die Treppe hinab.

»Du wolltest doch das Bild …«

»Später, Tati!«, rief Anouk und quetschte sich an ihrer Großtante vorbei. »Bin gleich zurück.«

Als Anouk die Haustüre aufriss, hörte sie ein schrilles Krächzen, unterbrochen von spitzen Mädchenschreien. Vermaledeites Krähenvolk! Jetzt griffen diese Schwarzröcke schon kleine Kinder an. Irgendetwas konnte mit den hiesigen Krähen nicht stimmen.

»Verschwinde!«, schrie Anouk und sauste um die Hausecke. »Hau bloß ab, du Mistvieh!«

Sie stoppte abrupt. Der Vogel war nirgendwo mehr zu sehen. Und auch die Brombeerhecke lag verlassen unter der strahlenden Sonne. Anouk runzelte die Stirn. Wo war die Kleine nur so schnell hin?

»Hallo?«, rief sie und umrundete Tatis Haus. Keine Antwort. Außer ein paar auffliegenden Spatzen, die sich lautstark darüber beschwerten, dass Anouk sie dabei störte, ein ausgiebiges Bad im Vogelbecken zu nehmen, war nichts zu sehen.

»Komisch«, murmelte sie. »Ich habe doch keine Halluzinationen.« Sie stapfte über das feuchte Gras zu den Brombeerbüschen zurück. Aber nachdem der Rasen erst kürzlich gemäht worden war, konnte sie keine Fußspuren ausmachen. »Hallo?«, rief sie nochmals. »Hab keine Angst. Ich will dir helfen.«

Eine plötzliche Windböe verursachte ihr eine Gänsehaut. Sie rieb sich die Arme und wollte schon ins Haus zurückkehren, als sie mit den nackten Zehen an einen Gegenstand stieß. Sie bückte sich und hob ihn auf. Es handelte sich um einen Bergkristall, der an einer goldenen Brokatkordel hing. Ob er dem kleinen Mädchen gehörte? Der Stein fühlte sich merkwürdig organisch und warm an. Als ob er längere Zeit in der Sonne gelegen hätte. Anouks Finger schlossen sich um das Schmuckstück. Sie spürte ein leichtes Vibrieren. Erschrocken ließ sie den Kristall wieder fallen, der kurz aufleuchtete, als hätte er Licht gespeichert. Anouk hob den Anhänger erneut auf, aber diesmal kam es zu keiner ungewöhnlichen Reaktion. Diesmal war und blieb er lediglich ein Kristall an einer Kordel. Sie steckte ihn in die Hosentasche, schaute sich nochmals um und ging dann kopfschüttelnd ins Haus.


»Kannst du Latein?«

Anouk hatte keine Lust gehabt, Max die Neuigkeiten am Telefon zu erzählen, und war deshalb gegen fünf zu seiner Praxis geradelt. Kurz nach siebzehn Uhr hatte zuerst seine Praxishilfe das Haus verlassen, und wenig später war er selbst herausgekommen und schloss gerade die Tür ab, als Anouk ihn von hinten ansprach.

»Gott, Anouk, du kannst einen aber auch erschrecken!«

Er drehte sich um und schenkte ihr ein solch strahlendes Lächeln, dass sie unwillkürlich errötete. Verlegen strich sie sich eine nicht vorhandene Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Also, ich nehme an, da du Medizin studiert hast, wirst du es können, oder?«

Max steckte seinen Schlüsselbund in die Jeans und nickte.

»Richtig gedacht. Es ist Pflichtfach im Medizinstudium. »Citius, altius, fortius!«, deklamierte er. Und nach einem Blick in Anouks verwirrtes Gesicht übersetzte er lachend: »Schneller, höher, weiter!«

»Fein«, sagte sie und schob ihren Drahtesel zu seinem Auto, »dann kannst du mir sicher auch folgende Worte übersetzen. Ich hoffe, ich kriege sie noch zusammen. Es klang etwa so: Abi in malam krutschem.«

Max brach in schallendes Gelächter aus. »Nicht sehr höflich, aber heutzutage durchaus gebräuchlich«, sagte er und schloss sein Auto auf. Er warf seine Aktentasche auf den Rücksitz und ließ die Tür offen, damit die angestaute Hitze entweichen konnte.

»Ja, und? Was heißt das jetzt übersetzt?«

»Etwas, das ich von dir nicht hören möchte«, sagte er und zwinkerte ihr zu.

»Max!«

»Okay, okay …« Er hob abwehrend die Hände, als Anouk drohend auf ihn zukam. »Scher dich zum Teufel!«

»Sehr freundlich«, sagte sie und zog einen Flunsch.

Max grinste. »Du wolltest die Übersetzung doch hören. Das war sie. Abi in malam crucem heißt: Scher dich zum Teufel.«

»Bist du sicher?«, fragte sie ungläubig.

»Hundertprozentig. Warum? Möchtest du einen unerwünschten Verehrer in die Wüste schicken?« Er schmunzelte, wurde aber sofort ernst, als er ihren fassungslosen Gesichtsausdruck bemerkte. »Wer hat das denn zu dir gesagt?«

»Rufli«, beantwortete sie seine Frage und ließ sich seufzend auf die Bank fallen, die am Rande des Parkplatzes stand.

»Der Kurator?«

»Nein, der nächste Präsident der USA«, entgegnete sie bissig. »Ja, Tatis Charmebolzen.«

Max setzte sich neben sie. »Und warum sagt er so etwas zu dir?«

Anouk hob die Schultern. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist er senil … oder hat das Tourettesyndrom.«

Max lachte schallend. »Kaum. Professor Rufli ist eine der größten Koryphäen, wenn es um die Aargauer Geschichte geht. Er hat bedeutende Gemäldeausstellungen ins Schloss geholt, die im In- und Ausland hochgelobt wurden. Des Weiteren hat er letztes Jahr den Schweizer Historikerpreis mit seinem Buch über die Herren von Hallwyl gewonnen. Der Mann ist eine lebende Legende.«

»Mag sein, trotzdem redet er unflätiges Zeug.«

»Du hast ihn sicher falsch verstanden«, meinte er und kickte einen Stein über den Asphalt. »Oder er hat es zu jemand anders gesagt.«

Anouk schüttelte den Kopf. »Nein, aber was soll’s! Vielleicht ist der werte Professor einfach ein wenig verwirrt gewesen. In dieser Hinsicht passt er ja perfekt zu unserer Familie.« Sie versuchte zu lächeln, was ihr jedoch nicht so richtig gelang. »Aber das ist noch nicht alles, was heute passiert ist«, wechselte sie das Thema. »Schau …!«

In den nächsten Minuten zeigte sie ihm den Flyer, die Schnipsel, ihre Aufstellung der Ereignisse und die dazugehörenden Interpretationen. Von dem Mädchen erzählte sie ihm nichts. Es schien ihr nicht richtig. Weshalb, konnte sie jedoch nicht sagen. Als Anouk an die Kleine dachte, spürte sie ein leichtes Pochen an ihrem Oberschenkel. Sie griff in ihre Hosentasche und berührte den Kristall. Wieder vermeinte sie, ein Vibrieren zu spüren. Doch ihr blieb keine Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, denn Max schnellte plötzlich hoch und zog sie ebenfalls von der Bank.

»Komm«, sagte er aufgeregt, »lass das Fahrrad hier und steig ein! Mir kommt da eine Idee.«

Schloss Hallwyl, 1746

Ihre Schritte hallten dumpf in dem unterirdischen Gang. Es roch nach Moder und Feuchtigkeit. Bernhardine fröstelte. Ihre Stoffschuhe lösten sich langsam auf, und der Saum ihres Kleides starrte vor Spinnweben und Mäusekot. Bittere Galle stieg in ihrer Kehle hoch. Sie schluckte sie mühsam hinunter. Cornelis duckte sich. Der Korridor wurde niedriger. Die Fackel in seiner Hand zischte, als er damit an das durchnässte Mauerwerk stieß.

»Désirée!«, rief Bernhardine, doch es kam nur ein verzerrtes Echo zurück.

Sie war so müde, dass sie stolperte und hinfiel. Hart schlug sie auf dem glitschigen Boden auf und berührte dabei etwas Pelziges, das empört fiepte.

Normalerweise hätte sie laut aufgeschrien. Doch mittlerweile war ihr selbst ihre Angst vor Ratten abhandengekommen; wie auch die Hoffnung, noch ein Lebenszeichen von Désirée zu erhalten.

Seit Stunden irrten sie durch das Schloss. Doch hier, in den unterirdischen Gängen, die das Gemäuer wie Adern durchzogen, stand die Zeit still. An diesem Ort war sie nur ein Wort, dem keinerlei Bedeutung zukam.

Cornelis blieb abrupt stehen, und Bernhardine stieß gegen seinen Rücken. Sie taumelte und stützte sich am feuchten Mauerwerk ab.

»Was ist?«, flüsterte sie heiser.

Der Maler hielt die Fackel höher. Der Tunnel war zu Ende. Festes Gestein verhinderte jedes Weitergehen.

»Bernhardine …«

Cornelis verstummte, doch sie konnte aus diesem einen Wort all das heraushören, was er nicht sagte; sich nicht zu sagen getraute: Es ist sinnlos – wir müssen umkehren – das Kind kann unmöglich hier unten sein – es ist tot.

»Nein!«, schrie Bernhardine und fiel auf die Knie. »Désirée ist nicht tot!«


Johannes starrte auf die züngelnden Flammen im Kamin. Mit einem Knall zerplatzte ein Holzscheit, und glühende Funken spritzten auf den Steinboden. Achilles jaulte, rappelte sich auf und suchte sich einen ungefährlicheren Platz. Nachdem er sich zweimal um die eigene Achse gedreht hatte, legte er sich neben den Sessel, bettete den Kopf auf die Vorderpfoten und schaute zu seinem Herrn auf. Hector schnarchte leise in der anderen Ecke des Zimmers. Er wurde alt, die Suche im hohen Schnee hatte den Wolfshund erschöpft.

Ihm geht es wie mir, dachte Johannes und griff nach dem warmen Gewürzwein auf dem Beistelltisch. Das scharfe Aroma von Anis, Nelken und Zimt schoss ihm in die Nase und ließ seine Augen tränen. Er nahm einen großen Schluck und lockerte die Halsbinde.

Es hatte keinen Zweck, sich länger etwas vorzumachen. Seine Tochter war tot. Ertrunken im eiskalten Wasser des Aabachs, der das Schloss umschlang wie die Arme einer liebenden Frau den Leib eines Mannes.

Johannes stieß die Luft aus, und sein Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Fratze. Der Vergleich mit den Armen einer liebenden Frau hatte ihn unwillkürlich an Bernhardine denken lassen. Und die war alles andere als das. Er hatte gehofft, sie würde sich mit der Zeit an ihn gewöhnen und sich in ihr Schicksal fügen. Doch das war ein Trugschluss gewesen. Das Mädchen hatte ihm zwar die ersehnten Erben geboren, aber ihre Verbindung war von ehelichem Glück so weit entfernt wie der Mond von der Erde. Ihre übertriebenen Forderungen und Wünsche leerten seine Geldschatulle schneller als ein Säufer seinen Krug Bier. Er hatte sogar schon seinen Oheim um ein Darlehen bitten müssen.

»Ach, Viktoria«, murmelte Johannes und ließ den Kopf hängen, »warum musstest du mich nur so früh verlassen?«

Er nahm einen weiteren Schluck von dem starken Gebräu. Der Wein kratzte im Hals, ließ im Bauch jedoch eine wohlige Wärme entstehen, die ihm langsam in den Kopf stieg und ihn in einen warmen Nebel hüllte. Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn in seinen Gedanken. Noch mehr schlechte Nachrichten? Möglicherweise sogar das Unvermeidliche?

»Herein!«, seufzte Johannes ergeben.

Er drehte sich mit einem Ächzen um und machte sich darauf gefasst, in ernste Mienen zu blicken. Doch unter dem Torbogen stand Gerold. Sein Bruder hatte sich umgezogen und trug nun einen ausgeleierten, schwarzen Rock, der um seine hagere Gestalt schlotterte. Sein verfilztes Haar hatte er sich aus dem Gesicht gekämmt.

»Störe ich?«, fragte er und kratzte sich am Hals.

Johannes schüttelte den Kopf. Sein Bruder setzte sich auf einen Stuhl an seiner Seite und starrte ebenfalls in die Flammen. Eine Weile blieben sie stumm, dann räusperte sich Gerold und rückte mit seinem Stuhl näher ans Feuer. Erneut zerbarst ein Tannenscheit im Kamin. Ein roter Funke sprang auf seinen Rock, glühte einen kurzen Moment weiter und erlosch. Der Geruch von verbrannter Wolle hing plötzlich in der Luft.

»Mon Frère«, begann Gerold und rieb sich die Hände. »Es fällt mir unsagbar schwer, Euch dies zu berichten – gerade jetzt, in dieser dunklen Stunde. Aber ich sehe es als meine heilige Gottespflicht an, Euch mitzuteilen, dass …«

Johannes hob ruckartig die Hand. Der Wein schwappte über den Kelchrand und hinterließ einen Fleck auf dem Steinboden.

»Nicht noch eine deiner Fegefeuertiraden. Nicht jetzt … bitte.« Er schleckte den Wein von seiner Hand und stellte den Becher hart auf den Tisch. »Bei aller Bruderliebe, aber ich vermisse meine Tochter. Sie ist womöglich tot! Du hast keine Kinder, weißt also nicht, was in meinem Herzen vor sich geht … und da willst du über Sünden reden?«

Johannes war so aufgebracht, dass er alle Höflichkeit fahren ließ und Gerold wie einen einfachen Lakaien anfuhr. Er wollte gerade erneut das Wort an ihn richten, als ihm plötzlich das Blut ins Gesicht schoss. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, und er hatte Mühe zu atmen.

Aber sein Bruder merkte nichts davon. Er war aufgesprungen und lief ruhelos auf und ab.

»Aber es handelt sich um etwas ganz anderes. Um einen Traum, den ich …«

»Was gehen mich deine vermaledeiten Träume an!«, keuchte Johannes, schnellte aus dem Sessel hoch und funkelte seinen Bruder wütend an. »Langweile gefälligst deine Gemeinde mit diesem Geseire. Oder deine Buhlschaften. Mir ist es verdammt noch mal einerlei, ob ich in die Hölle komme! Ich …«

Johannes’ Gesichtsausdruck wechselte plötzlich von Ärger in Überraschung. Er griff sich an die Brust, stieß ein heiseres Krächzen aus und sank in den Sessel zurück.

Gerold betrachtete ihn aus schmalen Augen, verbeugte sich dann hölzern und sagte: »Wie Ihr meint, geliebter Bruder. Ganz wie Ihr meint.«

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verließ den Raum.

Johannes streckte die Hand aus. Seine Brust wurde wie von einem unsichtbaren Schraubstock zusammengedrückt. Ein jäher Schmerz fuhr durch seinen linken Brustkorb und versuchte, ihm das Herz aus dem Leib zu reißen. Er stöhnte, schnappte nach Luft, als würde ihn jemand unter Wasser drücken, und trommelte sich mit der Faust gegen das Brustbein. Als er bemerkte, wie sich eine schwarze Wand vor seine Augen schob, tastete er mit letzter Kraft nach der Messingglocke auf dem Beistelltisch.


Marie saß mit einer Strickarbeit neben der Wiege der Zwillinge, als Bernhardine den Raum betrat.

»Jesses Maria und Josef!«, rief sie entsetzt, als sie Bernhardine erblickte. »Wo bist denn du gewesen?«

Bernhardine strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie fühlte sich wie zerschlagen. Ihr lief die Nase, Kälteschauer wechselten mit Hitzewallungen. Ihr Kleid war fleckig, feucht und zerrissen, die Fingernägel eingerissen, und ihre Haare glichen einem Krähennest.

»Ich habe Désirée gesucht«, flüsterte sie. Ihr war auf einmal schwindlig. Sie stützte sich schwer auf die Kommode und lächelte. »Schnell, Marie«, sagte sie, und ihre Augen blitzten, »geh in die Küche! Sie sollen Apfelringe backen. Mit ganz viel Zimt und Honig. So, wie Dédée sie am liebsten mag. Der Duft wird sie aus ihrem Versteck locken.«

Marie runzelte verwirrt die Stirn, legte eine Hand über die Augen und schluchzte. Ihre Schultern bebten. Die Strickarbeit entfiel ihren Händen.

»Es ist meine Schuld«, stammelte sie, »ich hätte sie keinen Moment aus den Augen lassen dürfen. Wie soll ich nur weiterleben?«

Bernhardine zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen.

»Was schwatzt du da für dummes Zeug, alte Frau? Désirée wird gleich zurück sein. Sie ist ein braves Kind; sie wird Mama um Verzeihung bitten, und alles wird gut. Hurtig jetzt, beeil dich! Es …«

Der Rest des Satzes erstarb ihr auf der Zunge. Ein großes, schwarzes Loch schien sich vor ihr zu öffnen, in das sie hineingezogen wurde. Schwindel erfasste sie, zerrte sie hinab. Immer weiter und weiter, bis in die Hölle.


Ein beißender Geruch stach Bernhardine in die Nase, und ihre Lunge pumpte krampfartig Sauerstoff; sie hustete. Langsam kam sie wieder zu sich und fand sich in ihrem Bett liegend. Marie hielt das Riechfläschchen noch in der Hand und trat jetzt einen Schritt zurück. Hinter der Amme stand Cornelis. Er hatte den Kopf gesenkt.

»Entschuldige«, sagte Marie und rückte ihre Haube zurecht. »Ich musste Meister van Cleef rufen, um dich aufzuheben. Dein Gatte ist selbst bettlägerig, dein Schwager nicht auffindbar, der Meier noch unterwegs.«

Bernhardine warf einen Blick zum Fenster. Es war Nacht geworden. Ein Graupelschauer schlug an die Scheiben und blieb in den Ecken als weißer Saum auf dem Fensterbrett liegen.

»Was ist geschehen?«, fragte sie und richtete sich langsam auf. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Kopf. Sie fasste sich stöhnend an die Stirn.

»Ihr wurdet ohnmächtig, Herrin«, sagte Cornelis und hob den Blick. In seinen Augen lag Besorgnis. Ein dunkelbrauner Schmutzstreifen lief quer über seine Wange.

Bernhardine griff nach Maries Arm. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, und die Amme unterdrückte einen Schmerzensschrei.

»Désirée?« Marie und Cornelis schüttelten gleichzeitig den Kopf. Bernhardine ließ sich wimmernd in die Laken zurückfallen. »Warum?«, schrie sie. »Warum meine Kleine? Ich wünschte, ich wäre tot!«

Sie drehte sich auf die Seite und schluchzte.

»Dinchen«, flehte Marie. »Du musst jetzt stark sein! Dein Gatte ist krank. Er verlangt nach dir. Steh bitte auf!«

Bernhardine zog sich die Decke über den Kopf. Was ging sie der alte Mann an? Sie wollte ihre Tochter zurück. Sollte sich doch sein geliebter Bruder um Johannes kümmern, der mischte sich ja sowieso in alles ein. Ein schrecklicher Verdacht schlich sich unvermittelt in ihren Kopf. Ob Gerold etwas mit Désirées Verschwinden zu tun hatte? Sie traute ihrem Schwager jede Schlechtigkeit zu. Und hatte er ihr nicht gedroht? »Sie sollen deine Söhne und Töchter wegnehmen und das Übrige mit Feuer verbrennen.« Das waren seine Worte gewesen – aus dem Buch Hesekiel.

Sie schlug das Plumeau zurück. Diese bigotte Krähe! Aber sie würde dieses grässliche Subjekt zur Rede stellen. Und wenn es das Letzte war, was sie tat!

»Schnell, meinen Morgenmantel!«, befahl sie, und Marie atmete erleichtert auf. Sie reichte Bernhardine das gefütterte Gewand, das sich diese kurzerhand über ihr schmutziges Kleid anzog. »Komm mit!«, wandte sie sich an Marie. »Und Ihr, Meister van Cleef, ebenso! Ich werde jetzt zu Gerold gehen und brauche Zeugen. Ihr werdet aber beide vor der Tür warten, die ich einen Spalt offen lassen werde. Habt ihr mich verstanden?«

Marie erblasste. »Aber der Herr …«, stammelte sie, »er ist stark leidend.«

Bernhardine warf ihr einen eisigen Blick zu. »Er wird sich eben noch einen Moment in Geduld üben müssen«, erwiderte sie und stülpte sich eine Brokathaube über die Locken. »Und in den paar Minuten, die sich sein geliebtes Weib verspätet, schon nicht gleich sterben.«

Marie schüttelte resigniert den Kopf.

»Wie du meinst«, sagte sie und öffnete die Tür.

Die Frau in Rot: Roman
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