18
Seengen, 2010
Anouk lehnte mit verschränkten Armen an Max’ Auto und sah übers Seetal. Es war kurz nach Mittag. Auf dem See kreuzten Segelboote, die von ihrem Standort, oben auf dem Berg, wie Spielzeuge aussahen, denen ein Riese einen Schubs gegeben hatte. Anouk schwitzte und beneidete all jene, die sich zurzeit in den Strandbädern tummelten.
Max hatte sich in den Kopf gesetzt, seinen liegen gebliebenen Wagen selbst zu reparieren, deshalb waren sie nach dem Mittagessen mit Tatis Auto den Eichberg hinaufgefahren. Seit einer Dreiviertelstunde beugte sich Max nun schon über den Motor, hatte aber, außer sich schwarze Finger zu holen, noch nichts zustande gebracht.
»So eine Mistkarre!«, tönte es unter der Kühlerhaube hervor. Anouk lachte.
»Wie wär’s mit dem Pannendienst? Oder ist der Herr vielleicht zu stolz, um Hilfe anzufordern?«
Max knurrte etwas Unverständliches, richtete sich auf und putzte seine verschmierten Hände an einem Lappen ab.
»Meinst du, er hat seinen Bruder umgebracht?«, fragte Anouk unvermittelt und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Das traue ich dem Kurator durchaus zu«, erwiderte Max. »Walter wollte Viola heiraten, das passte Herbert nicht in den Kram, und schwups, hat der Bruder wenig später einen Badeunfall. Ganz schön praktisch, nicht?«
Anouk nickte und verscheuchte eine lästige Fliege.
»Aber was hat er bloß gegen meine Familie?« Sie öffnete den Kofferraum von Valeries BMW, holte eine karierte Decke heraus und breitete sie im Schatten des Wagens aus. Dann ließ sie sich auf ihr nieder und klopfte auffordernd mit der Hand neben sich. »Selbst Tati kannte nicht den Grund dafür. Vielleicht hätte uns ja meine Großmutter mehr darüber erzählen können.«
Max setzte sich ächzend auf die Decke und wischte sich mit dem schmutzigen Lappen den Schweiß von der Stirn. Dabei blieb ein Streifen Motoröl zurück. Anouk grinste.
»Ich vermute, dass irgendwann einmal etwas Schlimmes zwischen euren Familien vorgefallen ist. Das liegt doch auf der Hand. Und Rufli hat gegenüber Walter ja auch etwas Ähnliches angedeutet.«
Anouk runzelte die Stirn. »Das ist aber doch noch lange kein Grund, seinen Bruder gleich umzubringen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nun ja, fragt sich, was damals passiert ist. Eine Scheidung. Ehebruch. Betrug. Rufschändung. Früher war man in mancherlei Hinsicht noch nicht so aufgeschlossen wie heute.«
Anouk wiegte zweifelnd den Kopf hin und her. »Früher? Du meinst im achtzehnten Jahrhundert? Aber wenn das stimmt, müssten doch irgendwelche Aufzeichnungen darüber zu finden sein. Im Kirchenregister oder in einer Chronik.«
Max lehnte sich mit dem Rücken ans Auto und seufzte. »Vermutlich, aber das sind in jedem Fall vertrauliche Akten, und ich kann mir nicht vorstellen, dass wir so ohne weiteres die Erlaubnis erhalten werde, sie einzusehen oder eventuell sogar zu kopieren.«
»Stimmt, daran habe ich nicht gedacht.« Anouk legte ihren Kopf an seine Schulter. »Sollen wir also aufgeben?«
»Möchtest du das denn?«
»Im Grunde nicht, aber wenn Rufli wirklich seinen Bruder auf dem Gewissen hat, wird er auch vor einem weiteren Verbrechen nicht zurückschrecken. Für ihn steht zu viel auf dem Spiel. Ist uns die Frau in Rot dieses Risiko wert?«
Max drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel.
»Wir müssen einfach nur vorsichtig sein. Rufli ist zwar gewarnt, wir aber auch. Außerdem weiß er nichts von Valeries Beobachtungen. Ich denke, dahin gehend sind wir im Vorteil.« Anouk nickte, wischte Max den Ölstreifen von der Stirn und stand auf.
»Also los!«, sagte sie uns streckte ihm die Hand hin.
Er griff danach, und Anouk zog ihn mit einem Ruck auf die Füße.
»Was hast du vor?«
»Wir gehen beichten!«
Vom Kirchturm schlug es ein Uhr, als sie auf den Parkplatz am Friedhof einbogen. Die Luft über dem heißen Asphalt flirrte vor Hitze. Ein rostiges Fahrrad mit verbogenem Vorderrad lehnte an der Begrenzungsmauer, ansonsten war das Areal leer. Anouk stieg aus Tati Valeries BMW aus und wischte sich ihre schweißigen Hände an den Shorts ab. Noch immer bekam sie Panikattacken, sobald sie in einen Wagen stieg. Ob sich das binnen kurzem ändern würde? Wenn nicht, würde sie sich einer Therapie unterziehen müssen, denn es ging nicht an, dass ein Topmodel nicht mobil war. Aber war sie das denn überhaupt noch? Mit ihrer Narbe, all ihren Abschürfungen und blauen Flecken? Als Model für einen fingierten Boxkampf war sie sicherlich gut geeignet, aber Laufstege und Shootings konnte sie im Moment vergessen. Max sah nicht minder lädiert aus. Statt seiner Patienten behandelte er in letzter Zeit vorwiegend sich selbst. Es wäre im Grunde doch so einfach, das ganze Unternehmen aufzugeben und sich ein paar Tage Auszeit zu gönnen; baden zu gehen, eine Segeltour zu machen und alte Bilder, belgische Maler und rote Kleider zu vergessen. Doch dafür kannte sie sich zu gut. Sie würde nicht kapitulieren. Schon als Kind hatte sie verbissen auf das hingearbeitet, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte, weshalb ihr Vater sie auch liebevoll »mein kleiner Terrier« genannt hatte. Und meist hatte sie das Gewünschte auch erreicht. Doch sie wusste, dass es im Leben Dinge gab, die man weder durch Hartnäckigkeit noch durch kontinuierliche Arbeit bekommen konnte: Loyalität, Vertrauen, Liebe oder eine beste Freundin. Das alles waren Dinge, die einem oft nur durch Glück zuteilwurden und die man auch oft nur dank glücklicher Umstände behielt.
Anouk bemerkte, dass Max sie aufmerksam musterte. Ihre Gedanken standen ihr sicher ins Gesicht geschrieben, und so straffte sie die Schultern und hakte sich bei ihm unter.
»Jetzt wollen wir doch einmal sehen, ob das Theaterspielen Früchte bei mir getragen hat.«
Das Pfarrhaus befand sich hinter der Kirche in einem parkähnlichen Garten. Es war ein massiv gebautes zweistöckiges Gebäude mit wettergegerbten Sichtbalken. Eine blaue Kinderschaukel hing am Ast einer Eiche und pendelte sachte hin und her. Durch ein offenes Fenster sah man in die Küche, wo ein Mann mittleren Alters am Tisch saß und in einer Zeitung las.
»Du weißt aber schon, dass die Reformierten nicht beichten, oder?«, sagte Max, bevor er die Klingel betätigte.
»Wart’s ab«, erwiderte Anouk geheimnisvoll.
Der Pfarrer in einem kurzärmligen, karierten Hemd, Jeans und Sandalen wirkte überrascht, als er die Haustür öffnete.
»Herr Sandmeier?«, rief er und sah über seine randlose Brille hinweg zuerst Max und dann Anouk fragend an. »Gibt es einen Todesfall zu beklagen?« Max beeilte sich zu verneinen und machte ihn daraufhin mit Anouk bekannt. »Oh, die Großnichte unserer lieben Valerie. Von Ihnen hört man ja so Einiges«, stellte der Geistliche mit einem Schmunzeln fest.
Anouk seufzte ergeben. Dem Dorfklatsch war nicht beizukommen. Am besten man ignorierte ihn einfach.
»Was kann ich für Sie tun? Aber kommen Sie doch erst einmal herein. Oder nein, gehen wir besser in den Garten.« Er wandte sich um. »Schatz«, rief er ins Innere des Hauses, »wir haben Besuch! Würdest du uns bitte eine Kanne Eistee in die Laube bringen?«
Irgendwo im Haus fiel eine Tür ins Schloss, etwas krachte zu Boden, und gleichzeitig brach ein ohrenbetäubendes Kindergeheul los.
Der Pfarrer stutzte. »Ich kann den Krug aber auch gleich selbst mitnehmen. Warten Sie einen Moment!« Er drehte sich um und lief durch den Flur in die Küche, aus der er mit drei Gläsern und einer Karaffe mit bräunlichem Inhalt wieder zurückkam. »Hier entlang, bitte.«
Sie umrundeten das Pfarrhaus und traten durch einen gemauerten Torbogen an dessen Rückseite hindurch. Danach überquerten sie ein Rasenstück, bis sie zu einer weiß gestrichenen Gartenlaube gelangten, die von einer wuchernden Rosenhecke umgeben war. Dort bat sie der Pfarrer, Platz zu nehmen. Er füllte die Gläser und prostete ihnen zu. Entgegen Anouks anfänglicher Befürchtung schmeckte der Eistee hervorragend, und sie leerte ihr Glas in einem Zug.
»Also«, begann er und legte seine gepflegten Hände auf den Holztisch. »In welcher Angelegenheit kann ich Ihnen behilflich sein?«
Anouk warf Max einen schnellen Blick zu. »Wir möchten heiraten«, sagte sie.
Max verschluckte sich an seinem Getränk und begann zu husten. Er wurde puterrot im Gesicht und schnappte hilflos nach Luft. Anouk klopfte ihm hilfsbereit auf den Rücken.
»Na, dann herzliche Gratulation!«, sagte der Pfarrer gedehnt und warf Max einen irritierten Blick zu.
»Danke«, entgegnete Anouk. »Es gibt aber ein Problem. Wir befürchten, dass wir miteinander verwandt sind. Und da wir gerne Kinder möchten«, sie strich Max bei den Worten liebevoll über die Wange, »sind wir natürlich … etwas besorgt. Sie verstehen?«
Der Pfarrer nickte. »Das scheint mir aber eher ein Problem medizinischer Natur zu sein, für das Sie ja bereits einen geeigneten Fachmann an Ihrer Seite haben.« Er musterte Max, der sich die tränenden Augen mit einem Taschentuch abwischte und zu niesen anfing. »Ich als Seelenhirte werde Ihnen dabei wohl kaum weiterhelfen können.«
»Ja, natürlich«, bestätigte Anouk. »Es wäre uns aber ein großes Anliegen, jeden Verdacht, auch in moralischer Hinsicht, auszuräumen. Ich würde mich sonst unwohl fühlen. Und deshalb sind wir hier. Wir würden gerne Einsicht ins Kirchenregister nehmen. Den fraglichen Zeitraum, um den es geht, haben wir bereits eingegrenzt, er umfasst die Jahre von circa siebzehnhundertsechsundvierzig bis heute.«
Anouk schenkte dem Pfarrer ein strahlendes Lächeln und strich sich eine Locke aus dem Gesicht. Max biss sich auf die Lippen und betrachtete interessiert eine Ameisenkolonne, die in gerader Linie die Laube durchquerte.
Der Geistliche lehnte sich zurück, nahm seine Brille ab und fing an, sie mit seinem Hemdzipfel zu putzen. Anschließend hielt er sie gegen das Licht, schien mit dem Ergebnis zufrieden und setzte sie wieder auf.
Anouk musste an sich halten, um nicht vor lauter Ungeduld mit den Fingern auf die Tischplatte zu trommeln. Ihr Lächeln bröckelte mit jeder Sekunde, in der der Pfarrer nichts sagte. Endlich räusperte er sich, wischte einen Krümel vom Tisch und blickte Anouk geradewegs in die Augen.
»Das ist der größte Bockmist, der mir je untergekommen ist.« Dann warf er den Kopf in den Nacken und fing schallend an zu lachen, dabei klopfte er so übermütig auf den Tisch, dass die Gläser hüpften. »Und das Gesicht des Doktors während Ihrer Ausführungen hätte man fotografieren und im Seenger Landboten abdrucken sollen! Himmel, das ist das Witzigste, was ich seit langem gehört habe.« Er gluckste. »Sie reden tatsächlich von Blutschande?«
Ein erneuter Lachkrampf schüttelte ihn. Anouk und Max sahen einander betreten an.
Über die Wiese kam eine Frau mit einem Kleinkind an der Hand und nickte grüßend in die Runde. »Was gibt es denn so Lustiges?«, fragte sie, setzte sich und hob das Mädchen auf ihren Schoß. Sie schaute neugierig von einem zum anderen.
Immer noch lachend deutete der Pfarrer auf Anouk. »Sie … ich …«, er brach ab und hielt sich den Bauch.
Die Frau hob verwirrt die Augenbrauen. »Ich entschuldige mich für meinen Mann. Wenn er nicht Geistlicher geworden wäre, dann sicher Komiker.«
Anouk lächelte säuerlich. Max verzog das Gesicht. Das Mädchen deutete auf die Schaukel und fing an zu quengeln. Die Pfarrersfrau setzte die Kleine ab, nahm sie bei der Hand und stand auf.
»Mutterpflichten«, seufzte sie ergeben. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag! Und du«, sie knuffte ihren Mann in den Arm, »solltest dich mal wieder beruhigen.«
Der Pfarrer räusperte sich mehrmals, wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen und atmete tief ein.
»Tut mir leid, aber das war eine Oscar-würdige Vorstellung.« Seine Mundwinkel zitterten. »Aber ganz unnötig. Unsere kirchlichen Register sind zwar prinzipiell nicht öffentlich, doch wenn Sie einen begründeten Interessennachweis erbringen können – zum Beispiel Nachforschungen wegen der Erstellung eines Familienstammbaums oder etwas Ähnliches –, dürfen Sie diese natürlich ohne weiteres einsehen.« Anouk atmete erleichtert auf. »Und das, ohne schwindeln zu müssen«, fügte er augenzwinkernd hinzu. »Das schätzt der Chef nämlich nicht besonders.«
Er wies mit dem Daumen zum Himmel hinauf.
Anouk errötete. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie angeflunkert habe«, sagte sie kleinlaut, »aber ich … wir müssen unbedingt einer Sache nachgehen, die sich vermutlich im achtzehnten Jahrhundert ereignet hat. Es könnte eine Verbindung zwischen meiner Familie und der der Ruflis geben, die wir näher untersuchen wollen.«
Der Geistliche hob die Augenbrauen. »Der Ruflis?«
Max nickte. »Ja, der Familie des Kurators.«
»Interessant«, murmelte der Pfarrer und stand auf. Anouk und Max blickten zu ihm hoch. »Dann auf ins Reich der verstaubten Folianten!«, rief er gut gelaunt.
Das Kirchenarchiv befand sich in einem Gebäude, das ganz offensichtlich zu einer späteren Zeit ans Pfarrhaus angebaut worden sein musste. Der Geistliche zog einen Schlüsselbund hervor, den er an seinem Gürtel befestigt hatte, und öffnete die Tür. Sie traten in einen hellen Raum mit einem zerschlissenen Orientteppich am Boden. Ein Schreibtisch mit Drehstuhl, ein Computer, Regale voller Ordner und eine mickrige Topfpflanze vervollständigten die Einrichtung.
Anouk war enttäuscht. Sie hatte modrige Luft, staubige Papierstapel und eiserne Schatullen erwartet.
»Mein Büro«, erklärte der Pfarrer. Er setzte sich an den Schreibtisch, startete den Computer und gab dann über die Tastatur ein paar Befehle ein. »Ah, ja«, murmelte er. »Glück gehabt!« Er schnippte mit den Fingern.
Anouk und Max sahen ihn verständnislos an.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Anouk und äugte auf den Bildschirm.
Der Priester lehnte sich zurück. »Das Pfarrhaus ist einmal komplett abgebrannt«, erklärte er. »Dabei wurden nahezu alle in ihm aufbewahrten Dokumente zerstört. Wenn ich mich recht erinnere, muss das gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts gewesen sein.« Er schaute verblüfft hoch. »Komischer Zufall!« Anouk und Max wechselten einen bedeutungsvollen Blick. »Wie dem auch sei«, fuhr der Geistliche fort. »Ein paar Akten aus der Zeit konnten vor dem Feuer gerettet werden. Irgendwann in den letzten Jahren wurden sie dann alle elektronisch erfasst und archiviert. Ich habe den Registraturplan hier im Computer.« Er drückte auf eine Taste, worauf in der Ecke ein Drucker zu rattern begann. Der Pfarrer stand auf und griff sich den Ausdruck. »Hier entlang, meine Herrschaften.«
Er zeigte auf eine eisenbeschlagene Tür neben einem Aktenregal, die Anouk zuvor nicht bemerkt hatte. Wieder zog er seinen Schlüsselbund hervor, schloss die Tür auf und ging ihnen voran. Nur wenige Meter später führte eine enge Wendeltreppe zu ihren Füßen in die Tiefe. Der Pfarrer betätigte einen Lichtschalter, und an der Decke flammte eine nackte Glühbirne auf.
»Bitte nicht stolpern, die Treppe ist recht steil!«, warnte er und stieg bereits die ersten Stufen hinab.
Anouks Augen wurden groß, und sie drückte Max’ Hand. »Aufregend, nicht?«, flüsterte sie, worauf er nur stumm mit dem Kopf nickte.
»Kommen Sie?«, tönte es von unten aus der Tiefe zu ihnen hinauf.
Die Stimme des Pfarrers hallte unheimlich in dem engen Abgang. Anouk fröstelte. Sie atmete tief durch, dann folgte sie Max vorsichtig die Treppenstufen hinunter.
Schloss Hallwyl, 1746
Marie stand am Fenster, hatte das Gesicht in den Händen vergraben und schluchzte. Die Zwillinge hatten die Pocken! Es war zu entsetzlich, um das Wort laut auszusprechen. Wie sollte sie das dem Herrn mitteilen, wie Bernhardine? Marie hatte schon Leute gesehen, die die Blattern überlebt hatten. Das waren aber alles erwachsene, gesunde Menschen gewesen; keine zarten Frauen oder Säuglinge. Aber selbst wenn man die Krankheit überstand, blieben hässliche, entstellende Narben zurück. Die armen Teufel waren für ihr ganzes Leben gezeichnet. Bernhardine würde das nicht ertragen können!
Marie setzte sich auf ihr Bett und versuchte, sich zu beruhigen. Es brachte keinem etwas, wenn sie jetzt den Kopf verlor. Sie war vermutlich die Einzige, die in diesem verfluchten Gemäuer noch bei klarem Verstand war. Der jungen Amme hatte sie nichts von ihrem Verdacht erzählt. Warum auch? Wenn es wirklich die Pocken waren, hatte sich das Mädchen ohnehin längst angesteckt. Außerdem wäre das dumme Ding danach sicher schreiend aus dem Schloss gelaufen und hätte unnötigen Tumult unter dem Gesinde ausgelöst. Marie hatte gehört, dass man die Infizierten von ihren Mitmenschen fernhalten sollte und zusätzlich die Kleider, das Bettzeug und alles andere, was die Kranken zuvor berührt hatten, verbrennen musste.
Bei den Zwillingen war sich Marie sicher, dass sie die Blattern hatten, bei Bernhardine jedoch nicht. Vielleicht waren die Sprenkel in ihrem Rachen etwas ganz anderes. Bis jetzt hatte Dinchen nämlich weder Flecken im Gesicht noch an den Armen. Aber die können noch kommen, flüsterte eine böse Stimme in Maries Kopf, wie auch die Bläschen voller Flüssigkeit und die aufbrechenden Pusteln, die diese schrecklichen Narben zurücklassen. Dann wird dein hübsches Dinchen eine garstige Hexe sein. Und was ist mit dir, alte Frau? Womöglich hast du dich auch angesteckt? Sag, schleicht sich schon Furcht in dein Herz?
»Schweig!«, schrie Marie und hielt sich die Ohren zu, als könnte sie die Stimme in ihrem Innern damit zum Verstummen bringen. »Wir vertrauen auf Gott und seine Güte.«
Der letzte Satz klang jedoch nicht sehr überzeugend. Denn seit Désirée nicht mehr war, hatte Marie Mühe, zu ihrem früheren Gottvertrauen zurückzufinden. Doch an wen sollte sie sich sonst in ihrer Not wenden, wenn nicht an den heiligen Jesus? Sie stand auf, öffnete die Tür zum Nebenzimmer und gewahrte, dass Bernhardine immer noch schlummerte. Marie zog sich leise wieder zurück, warf sich das Schultertuch über und kramte eine dicke, weiße Kerze aus ihrer Kommodenschublade. Sie hatte lange gespart, bis sie sich diese hatte kaufen können. Sie war überdies als ihr eigenes Totenlicht gedacht gewesen. Doch die Zwillinge und Bernhardine brauchten die Spende nun nötiger. Ein einfaches Weib wie sie würde auch mit einem bescheidenen Talglicht die Himmelspforte finden. Mit diesem Gedanken machte sie sich auf den Weg zur Kapelle.
Bernhardine erwachte keuchend. Im Traum hatte sie gesehen, wie Désirée auf die Zinnen gestiegen war. Halb nackt und tränenüberströmt, während ein Schneesturm tobte und an ihrem Nachthemd zerrte.
Bernhardines Hals war ein einziges Flammenmeer. Sie hustete und stöhnte. Jeder Atemzug schmerzte wie tausend Bienenstiche. Sie langte nach dem Gebräu auf dem Nachttisch. Es war kalt geworden und schmeckte scheußlich, linderte aber die Schluckbeschwerden.
»Marie«, krächzte sie, »bist du da?«
Nur das Ticken der Pendeluhr war zu hören, dazu das Heulen des Windes vor dem Fenster. Bernhardine musste sich erleichtern. Und zwar dringend. Sie schlug die Decke zurück und setzte vorsichtig einen Fuß auf den Boden. Ihr Morgenmantel lag griffbereit auf dem Stuhl neben ihrem Bett, die Pantoffeln standen darunter. Das rote Kleid hing zum Auslüften vor dem Kleiderschrank. Als sie sich erhob, wurde ihr schwindlig. Kein Wunder, wusste sie doch nicht, wann sie zuletzt etwas zu sich genommen hatte. Sie hielt sich am Bettpfosten fest, schleppte sich dann zum Waschtisch, verschnaufte einen Moment und schlich an der Wand entlang zum Abort. Selbst durch die mit Lammfell gefütterten Pantoffeln hindurch spürte sie den eiskalten Steinboden. Beim Wasserlassen fühlte sie einen brennenden Schmerz im Unterleib, doch sie durfte sich nicht gehen lassen. Ihre Söhne brauchten sie. Und obwohl ihr Körper vehement nach dem warmen Bett verlangte, machte sie sich auf den Weg ins Kinderzimmer.
Was Cornelis wohl gerade tat? Ob er am Porträt malte oder sich zur Abreise entschlossen hatte? Seit der Totenfeier hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Zum einen war sie froh darüber, zum anderen vermisste sie seine Gegenwart. Auch wenn es keine Zärtlichkeiten mehr zwischen ihnen geben würde; seine bloße Anwesenheit hatte ihr Leben bereichert. Und wenngleich sie sich verbot, die Stunden in der Kapelle ins Gedächtnis zurückzurufen, konnte sie nichts dagegen tun, dass sie fortwährend von Cornelis’ Mund, seinen Händen und den Gefühlen träumte, die er in ihr geweckt hatte. Bernhardine seufzte. Sie wollte jetzt nicht weinen, nicht in Selbstmitleid und sinnlose Träumerei verfallen. Die Zwillinge brauchten ihre Mutter.
Der Weg zu den Kinderzimmern schien ihr unendlich weit. Hoffentlich begegnete sie Gerold nicht. Sie fühlte sich außerstande, ihrem Schwager in ihrer jetzigen Verfassung gegenüberzutreten. Stattdessen zählte sie darauf, dass der Priester Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, um ihren Vorwürfen nachzugehen. Selbst wenn er gegen Gerold nichts ausrichten könnte, bliebe ein dunkler Fleck auf dessen Weste zurück, und er würde für alle Zeit den Makel der Häresie mit sich herumtragen. Ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen.
Im Kinderzimmer war es frisch, als hätte jemand kurz zuvor gelüftet. Die Amme war auf dem Stuhl eingenickt, die Zwillinge schliefen ebenfalls. Das beruhigte Bernhardine ein wenig. Demzufolge schien es ihren Söhnen besser zu gehen. Leise trat sie an die Wiege heran, um sich mit einem Blick zu vergewissern, dass auch wirklich alles in Ordnung war – und stieß einen markerschütternden Schrei aus.
In der Kapelle war es dunkel. Niemand hatte daran gedacht, eine Kerze anzuzünden. Die vergangenen Tage hatten den gleichmäßigen Gang der Dinge und die Menschen im Schloss erschüttert. Ob jemals wieder so etwas wie ein normaler Alltag einkehren würde?
Marie atmete tief durch und ging zum Opfertisch. Sie durfte nicht verzweifeln, denn ohne Hoffnung war das Leben sinnlos. Sie knickste vor dem gekreuzigten Heiland, zog ihre Kerze aus der Rocktasche hervor und stellte sie auf den Steinaltar. Mit klammen Fingern griff sie nach der Zunderbüchse, die neben dem verbrauchten Kerzenstummel lag.
»Kann ich helfen?«
Marie drehte sich erschrocken um. Vor ihr schälte sich die Gestalt des Malers aus der Finsternis zwischen den Bankreihen heraus und stellte sich neben sie. Er nahm ihr die Büchse unaufgefordert aus der Hand, entfachte geschickt einen Funken, hielt ihn an den Feuerschwamm und entzündete damit die Kerze.
»Schon besser«, meinte er, »die Dunkelheit frisst am Gemüt.«
Marie nickte, ohne etwas zu sagen. Sie wollte lieber allein sein, um zu beten. Und um einen kleinen Handel mit Gott abzuschließen. Eine Hand wäscht die andere, war ihr Motto, von dem auch der Herrgott nicht ausgenommen war.
»Wie geht es Eurer Herrin?«, fragte der Holländer und setzte sich in die vorderste Bankreihe.
Er sah schlecht aus. Seine Haare waren zerzaust, der Bart seit Tagen nicht gestutzt, im flackernden Kerzenschein wirkte sein Gesicht fahl, die Wangen eingefallen. Dieses Schloss machte alle krank!
Maries Augen wurden plötzlich riesengroß. Hatte Cornelis van Cleef womöglich die tödliche Krankheit eingeschleppt? Aber was spielte das noch für eine Rolle, es würde nichts mehr ändern, wenn man den Schuldigen kannte.
»Sie ist krank, Meister van Cleef«, sagte sie und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Sehr krank.«
Der Maler nickte und vergrub sein Gesicht in den Händen. Marie hatte plötzlich Mitleid mit ihm. Sie wusste schon lange, was zwischen ihm und Bernhardine vor sich ging, und hatte diese Entwicklung mit Sorge zur Kenntnis genommen. Die zwei spielten mit dem Feuer und waren sich dessen vermutlich nicht einmal bewusst. Und jetzt saß der Bursche hier wie ein Häuflein Elend. Nur weil er verliebt war. Und wer konnte ihm verdenken, dass Bernhardine sein Blut in Wallung brachte? Sie war jung, schön und reich. Jedes dieser drei Attribute für sich allein war schon Versuchung genug, und van Cleef war schließlich auch nur ein Mann.
Marie setzte sich zu Cornelis auf die Bank. Einen Moment überlegte sie, mit welchen Worten sie ihm Trost spenden könnte. Sie war nicht sehr gebildet, aber es drängte sie danach, dem Holländer wenigstens ein wenig Zuspruch zukommen zu lassen.
Sie blickte zum gekreuzigten Heiland hoch, dann auf das gesenkte Haupt des Malers und legte ihm zaghaft eine Hand auf den Arm.
»Schaut, Cornelis, Bernhardine ist eine Adlige, und das wird sie bleiben, was auch immer geschieht. Und der Spatz kann nun einmal nicht die Taube freien, auch wenn sie beide Flügel haben.«
Cornelis zog tief die Luft ein und nickte.
»Ihr habt recht, Marie. Ich … wir wussten das immer, aber was will man gegen seine Gefühle tun? Wenn das Herz spricht, verstummt der Verstand.«
Marie lächelte. Der Holländer war nicht dumm. Sie konnte Bernhardines Empfindungen für den Künstler durchaus verstehen, obwohl sie sie nicht billigte. Aber im Gegensatz zu Johannes war der Maler eben ein ansprechendes Mannsbild. Es war nicht sein Fehler, dass er in die falsche Familie hineingeboren worden war. Aber ändern ließ sich das nun einmal nicht, sondern blieb, wie es war. Es gab Herren, und es gab Knechte. Und jeder musste auf seinem Platz bleiben.
»Betet für sie, Cornelis! Wenn Ihr sie liebt, bittet den Heiland inbrünstig darum, dass er sie und die Zwillinge wieder gesund macht.«
Bernhardine stolperte auf der Suche nach Johannes durch die Gänge. Ihr Morgenmantel flatterte wie ein Segel hinter ihr her. Sie keuchte, Tränen strömten über ihr Gesicht und nässten ihren Busen, aber sie merkte es nicht.
Die Zwillinge hatten die Pocken! Das Grauen drohte, sie angesichts dieser Erkenntnis zu überwältigen. Sie stützte sich auf einen Mauervorsprung und hustete sich die Seele aus dem Leib. Der Tod lauerte im Schloss. Hinter jeder Ecke vermeinte sie, seine Fratze zu erblicken und zu hören, wie er die Sense schliff. Er wollte mähen: die Ähren, die Schlossbewohner, die Kinder.
»Meine Kinder!«, schrie sie zwischen zwei Hustenanfällen. »Hast du denn immer noch nicht genug?«
Sie riss alle Türen auf. Johannes war nirgends zu erblicken. Es blieb nur noch eine Möglichkeit, wo er sich aufhalten konnte: bei seinem Bruder.
Sie schleppte sich in den ersten Stock hinauf und hämmerte an Gerolds Zimmertür. Nach einem Augenblick wurde diese geöffnet, und ihr Schwager musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Welch ungewöhnliches Habit, verehrte Brudergattin! Ist das die neueste Mode aus Paris?«
Bernhardine stieß einen unartikulierten Laut aus und zwängte sich an ihm vorbei ins Zimmer.
»Wo ist mein Gatte?«, keuchte sie und hielt sich an einem Stuhl fest. »Ich muss ihn unverzüglich sprechen.«
Gerold kratzte sich am Kinn, blickte demonstrativ um sich und schüttelte dann bedauernd den Kopf.
»Wie Ihr selbst seht, befindet er sich nicht in meinen Gemächern. Doch wartet …!« Er griff in seine Westentasche und machte ein betrübtes Gesicht. »Nein, ich bin untröstlich, auch hier hat er sich nicht versteckt.«
Bernhardine war zu schwach, um sich gegen seinen Spott zu wehren. Was spielte es noch für eine Rolle, dass er sie erniedrigte? Sollten die Zwillinge tatsächlich an den Pocken erkrankt sein, trüge sie den Keim der Krankheit vermutlich schon in sich. Und was das bedeutete, wusste sie nur zu gut. Dann waren alle auf dem Schloss in Gefahr, an der schrecklichen Geißel zu erkranken und vielleicht sogar zu sterben. Selbst dieser überhebliche Teufelsanbeter, der mit einem maliziösen Lächeln am Türrahmen lehnte. Sie wollte ihm die gute Nachricht bereits in seine anmaßende Visage schleudern, als ihr ein Gedanke kam und ein gefährliches Funkeln in ihren Augen aufglomm.
»Ja, lieber Schwager, Ihr habt recht, ich muss meinen Gatten anderweitig suchen. Habt Dank für Euren guten Rat.«
Sie trat so nahe an ihn heran, dass sie seinen sauren Atem riechen konnte und den Schweißgeruch, den er mit viel Parfüm zu überdecken versuchte. Gerolds rechtes Lid zuckte.
Bernhardine blickte in seine schwarzen Augen, sammelte ihren Speichel, schlang ihre Arme um seinen dürren Hals und presste ihre Lippen auf die seinen. Ihre Zunge drang schnell und fordernd in seinen Mund ein. Gerold keuchte und schreckte zurück. Bernhardine lächelte.
»Ein Geschenk, verehrter Schwager. Mögt Ihr lange Freude daran haben.«