13

Seengen, 2010

Das glaub ich nicht!«

Anouk hielt sich noch immer fassungslos die Hand vor den Mund und schüttelte ungläubig den Kopf. Sie setzte sich auf den Boden, ungeachtet dessen, dass ihre Kleider dadurch noch schmutziger wurden, stützte ihre Ellbogen auf die Knie und starrte auf das Bild.

»Du meinst …« Max ging in die Hocke und wischte sorgfältig den Staub von der Leinwand. Dann pustete er die letzten Schmutzpartikel fort. Das Bild war trotz seines ungewöhnlichen Aufbewahrungsortes in erstaunlich gutem Zustand. Das Kleid der darauf porträtierten Frau leuchtete in einem satten Rot, als wäre das Gemälde erst kürzlich hinter der Bretterwand versteckt worden.

»Sie ist es«, flüsterte Anouk bewegt. »Ich wusste, dass ich sie mir nicht eingebildet habe.«

Die Porträtierte trug ihre langen Haare offen, die ihr wildgelockt in einer kupferfarbenen Kaskade über den Rücken bis zur Taille hinabfielen. Sie hatte den Kopf leicht geneigt und blickte den Betrachter herausfordernd an. Der Stoff ihres üppigen Kleides schien aus schimmernder Seide zu bestehen. Als einzigen Schmuck trug sie eine Kette mit einem Perlenanhänger um den Hals, der Anouk seltsam vertraut vorkam. Im Hintergrund waren ein lichter Laubwald und ein Wasserfall zu sehen.

»Sie ist wunderschön, nicht wahr?« Anouk suchte Max’ Blick. Dieser hatte sich ebenfalls auf den Boden gesetzt und betrachtete das Gemälde mit gerunzelter Stirn. »Max!« Sie schubste ihn an.

»Wie?«

Anouk verdrehte die Augen. »Ich sagte, dass sie wunderschön ist. Findest du nicht?«

»Ja, das ist sie«, antwortete er schließlich und warf ihr dabei einen eigentümlichen Blick zu.

Was war denn nun wieder los? Da hatten sie endlich einen Beweis dafür gefunden, dass ihre Beobachtungen nicht aus der Luft gegriffen waren, und jetzt kam es ihr fast so vor, als würde Max dies weder freuen noch beruhigen.

»Ist etwas?«, fragte sie und verlor sich erneut in dem herausfordernden Blick der Abgebildeten, der sie ein wenig an den ihrer Schwester Aimée erinnerte. Anouk neigte den Kopf.

»Tja, also …«, stotterte Max und biss sich auf die Lippen. »Ich bin etwas, na ja, sagen wir mal … erstaunt.«

Anouk lachte. »Kein Wunder, schließlich findet man nicht jeden Tag ein antikes Bild in einer Toilette versteckt.«

»Das ist es nicht«, erwiderte er gedehnt und musterte Anouk erneut prüfend.

»Ich verstehe nicht«, sagte sie und strich dabei mit ihrem Finger behutsam über die Oberfläche des Ölgemäldes. Es war uneben. Für das Kleid hatte der Künstler mehrfach kräftig Farbe aufgetragen. Kleine Erhebungen und einzelne Pinselstriche waren deutlich auszumachen. Das Gesicht der Frau war jedoch vollkommen eben und in einem zarten Pastell gehalten, das dem Teint der Dame genau die vornehme Blässe verlieh, die dazumal in Mode gewesen war. Der Maler war auf alle Fälle kein Dilettant gewesen. Anouk suchte die Ecken des Gemäldes nach einer Signatur ab. Doch bei dem Dämmerlicht, das mittlerweile in der Kammer herrschte, konnte sie keine erkennen. Bei Tageslicht würden sie hoffentlich eine entdecken können.

»Du hast wirklich keine Ahnung, oder?« Max schüttelte ungläubig den Kopf. »Siehst du denn nicht, wie sehr ihr euch ähnelt?«

Anouk verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. »Aber ja, alle Rothaarige gleichen sich. Wir sind wie siamesische Zwillinge – nahezu identisch.«

Max stand auf und klopfte sich den Staub von der Jeans.

»Du musst mir ja nicht glauben«, sagte er, »aber schau doch mal! Die gleiche ungebändigte Lockenmähne, die gleichen grünen Augen und dieser … tja, vorwitzige Schalk im Blick. Des Weiteren habt ihr ein kongruentes Os zygomaticum.« Anouk runzelte die Stirn. »Das heißt Jochbein«, erklärte er.

Anouk rollte mit den Augen. »Du siehst ja Gespenster«, meinte sie lachend und stand ebenfalls auf. »Meinst du, wir können das Bild mitnehmen?«

Max seufzte. »Im Grunde nicht. Es gehört dem Schloss; besser gesagt der Erbengemeinschaft. Ich müsste folglich dem Verwalter Bescheid geben.«

»Aber?«

Er schnalzte mit der Zunge und zwinkerte ihr zu. »Wir könnten uns das Porträt der unbekannten Dame auch einfach für eine Weile ausleihen.«

Sie brachten die Kammer wieder in einen geordneten Zustand. Vor die zersplitterte Bretterwand schoben sie eine wurmstichige Truhe. Bertas Kostüm landete, unprobiert, auf dem Ständer. Anschließend wickelte Max das Gemälde kurzerhand in eine Wolldecke, die mit zum Requisitenfundus der Theatergruppe gehörte. Bevor sie die Umkleide verließen, äugte Anouk vorsichtig durch den Türspalt. Auf der anderen Seite des Innenhofes erblickte sie Frau Döbeli, die soeben mit einem Eimer und einem Besen in der Hand im Kornhaus verschwand. Ansonsten war weit und breit niemand zu sehen.

Anouk gab Max ein Zeichen. Unauffällig schlichen sie an der Mauer entlang Richtung Ausgang. Sie hatten den Torbogen schon durchschritten, als plötzlich ein lauter Pfiff ertönte. Sie erstarrten.

»Herr Doktor, so geht das aber nicht!«, wetterte eine Stimme hinter ihnen.

Anouk wurde leichenblass, Max hingegen puterrot. Beide drehten sich wie ertappte Schulkinder um.

Ein untersetzter Mann mit einer Halbglatze stiefelte auf sie zu und wackelte dabei mit dem Kopf.

»Nein, nein!«, fuhr er in tadelndem Ton fort. »Wenn Sie die Ankleide nicht zuschließen, geht da jeder rein. Und dann habe ich den Salat. Und Sie schlussendlich auch. Und am Ende werden noch die Requisiten gestohlen. Alles schon mal da gewesen, glauben Sie mir!«

Anouk fiel ein Stein vom Herzen, und Max stieß hörbar die Luft aus.

»Ach, wie dumm von mir, Herr Ramseier«, sagte er. »Ich war in Gedanken. Zum Glück passen Sie so gut auf! Natürlich, immer sorgfältig abschließen.«

Der Aufseher nickte mit Nachdruck, trat näher und beugte sich mit zusammengekniffenen Augen vor.

»Was haben Sie denn …«

»Wir müssen jetzt … leider. Bis bald. Und danke nochmals.«

Max wandte sich um und marschierte eilig über die Brücke. Anouk schenkte dem kleinen Mann ein strahlendes Lächeln und stolperte dann hinter Max drein. Ihre Fingerspitzen kribbelten. So musste sich ein Dieb fühlen, der seinen Häschern knapp entronnen war.

Ein Krächzen in der Nähe fesselte Anouks Aufmerksamkeit. Als sie den Kopf wandte, sah sie eine Schar Krähen, die auf einer Eiche hockten. Die Vögel flatterten hektisch mit den Flügeln und beäugten den davoneilenden Max. Anouk stockte der Atem. Sie öffnete den Mund, doch es war schon zu spät. Der Schwarm hatte sich bereits in die Luft erhoben. Max hatte gut dreißig Meter Vorsprung. Er wartete an der Hauptstraße auf eine Lücke im vorbeibrausenden Verkehr. Sein Wagen stand auf dem Parkplatz gegenüber.

»Max!«, rief sie aus Leibeskräften. Ihre Stimme überschlug sich. »Pass auf … die Krähen!«

Er drehte sich um, konnte sie aber nicht verstehen, denn in diesem Augenblick näherte sich ihm ein Sattelschlepper, ein riesiger, gelber Laster, beladen mit Baumstämmen. Anouk fuchtelte wild mit den Armen. Max hob seine Hand, um zurückzuwinken, und genau in diesem Moment attackierten ihn die Krähen von hinten. Er versuchte sein Gesicht mit einem Arm zu schützen, mit dem anderen hielt er das Bild noch immer fest an sich gepresst. Anouk fing an zu rennen, während Max, der noch immer vor den Vögeln auf der Flucht war, rückwärts auf die Straße stolperte. Ohrenbetäubendes Hupen erfüllte die Luft, darauf das Quietschen bremsender Reifen. Anouk schrie entsetzt auf. Max stand wie erstarrt auf der Fahrbahn und blickte verblüfft auf den heranrollenden Laster, dessen Räder nun offensichtlich blockierten.

Anouk preschte vorwärts. In vollem Lauf prallte sie gegen Max’ Brust und riss ihn mit sich über den Mittelstreifen auf die andere Fahrbahnseite, wo sie hart auf dem heißen Asphalt aufschlugen. Das Bild flog in hohem Bogen ins Gebüsch. Weitere Wagen mussten abrupt abbremsen und fingen an zu hupen. Es roch nach verbranntem Gummi und Diesel. Anouk spürte ein Brennen an Armen und Beinen.

»Verdammt, mein Agent bringt mich um!«, stöhnte sie, als sie ihre aufgeschürfte Haut betrachtete.


»Aua, das brennt!«

Max saß in seiner Praxis auf einer Metallliege, die mit einem breiten Papierstreifen abgedeckt war, und verzog das Gesicht, als Anouk ihm den jodgetränkten Tupfer auf die Wunde presste.

»Männer!« Sie verdrehte die Augen. »Du kannst dich gleich selbst verarzten«, meinte sie schnippisch, als sie seine leidende Miene bemerkte. »Krankenpflege gehört nicht unbedingt zum Repertoire eines Models.«

Er hielt ihr Handgelenk fest. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte er leise.

Anouk stellte die braune Glasflasche auf den Beistelltisch und warf den Tupfer in eine Keramikschale.

»Du wärst nie in diese Situation gekommen, wenn du mir nicht geholfen hättest. Es ist also nur recht und billig, wenn ich … Und überhaupt war das reiner Instinkt.«

Max zog ihre Hand an seine Lippen und küsste ihre Finger. »Ich stehe für immer in deiner Schuld.«

Sie lachte, doch es klang gepresst. »Wie Winnetou und Old Shatterhand?«, scherzte sie, doch Max verzog keine Miene.

»Ich meine es ernst, Anouk. Ohne dich wäre ich jetzt tot.«

Anouk senkte den Blick. Es machte sie verlegen, dass Max sie ansah, als hätte sie gerade das Penicillin erfunden.

In der Ecke stand das Ölgemälde. Sie hatten es sofort nach dem Zwischenfall unbeschadet aus der bepflanzten Straßenböschung gezogen. Erstaunlich, wenn man bedachte, dass sie beide Schrammen davongetragen hatten und Max darüber hinaus vermutlich sogar noch eine leichte Gehirnerschütterung, das Porträt aber nicht den geringsten Schaden genommen hatte.

Anouk griff nach den Pflastern und reichte sie Max. Mit der Routine des geübten Mediziners befestigte er eines an seinem Oberarm und rutschte von der Liege. Anouk trat zum Waschbecken und wusch sich die Hände. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass er sie beobachtete. Hoffentlich fuhr er mit seiner Danksagung nicht fort.

»Du wirst es nicht glauben«, sagte er unvermittelt, und seine Stimme klang wie immer. »Aber ich habe Hunger.«

Sie atmete erleichtert auf und drehte sich um. »Doch«, erwiderte sie, »das glaube ich dir sofort – ich nämlich auch!« Sie lachten.

»Was machen wir nun mit dem Bild?«

Max zog sorgfältig die Hemdsärmel über seine Blessuren hinab und schaute Anouk fragend an. Die zog die Achseln hoch und stöhnte, als ihre Schulter mit einem schmerzhaften Stechen gegen diese Bewegung protestierte.

»Mir wäre es am liebsten, du behieltest es im Moment hier in deiner Praxis. Sonst attackiert uns das nächste Mal womöglich noch eine Horde Igel, wenn wir es in den Wagen bringen wollen.«

Er verzog das Gesicht. »Einverstanden! Morgen ist Samstag, da ist die Arztpraxis geschlossen. Es wird also keine neugierigen Fragen seitens meiner Sprechstundenhilfe geben.« Anouk nickte. Sie öffnete die Tür zum Korridor, hielt dann aber unvermittelt inne.

»Himmel«, wandte sie sich an Max, der ihr humpelnd folgte, »mir tut alles weh.«

»Dann sind wir schon zwei«, stellte er trocken fest. »Irgendwie witzig, nicht? Wir teilen in letzter Zeit nahezu alles miteinander, sogar den Schmerz.«

Anouk fröstelte plötzlich. Was vermutlich als Witz gemeint war, verursachte ihr ein ungutes Gefühl. Als ob Max’ Worte eine Prophezeiung wären, die schon bald ihrer beider Leben beeinflussen würde. Fragte sich nur, auf welche Weise.

Schloss Hallwyl, 1746

Auf Johannes’ Nachttisch brannte eine Kerze, die ein weiches Licht auf das wuchtige Bett warf. Daneben, in Reichweite des Kranken, befand sich eine Messingklingel. Der Duft von Lavendelöl lag in der Luft. Bernhardine reckte den Hals, konnte aber nur einen Teil des Kopfes oberhalb des Federbettes ausmachen. Vorsichtig trippelte sie auf den Zehenspitzen näher, damit ihre Absätze beim Auftreten nicht auf dem Boden klackten. Sollte sie lieber wieder gehen und Johannes schlafen lassen? Sie zögerte. Gerade als sie sich entschied, später wieder nach ihrem Gatten zu sehen, drehte er sich mit einem leisen Stöhnen um.

»Seid Ihr es, Madame?«

Seine Stimme klang rauh, als hätte er lange nicht mehr gesprochen. Er trug weder eine Schlafhaube noch ein Nachtgewand. Soweit sie erkennen konnte, hatte er immer noch sein Tageshemd an. Als sie den weißen Verband um seine Armbeuge bemerkte, hob sie missbilligend die Augenbrauen. Jemand hatte ihn zur Ader gelassen. Vermutlich der Verwalter, der sich nicht nur um die kranken Pferde kümmerte, sondern seine zweifelhaften medizinischen Dienste ab und an auch den Bewohnern des Schlosses angedeihen ließ. Sie hatte – dem Himmel sei Dank! – die fragwürdigen Bemühungen des Meiers noch nie in Anspruch nehmen müssen. Leider Gottes gab es hier im Hinterland aber auch kaum anständige Médecins. Der nächste Arzt wirkte im entlegenen Kloster Baldegg. Und während dieser Jahreszeit musste man ihm vermutlich ein Vermögen bieten, damit er seine warme Stube verließ.

»Oui, c’est moi«, antwortete sie, »ja, ich bin’s.« Sie setzte sich auf die Bettkante und ergriff Johannes’ bleiche Hand. »Was macht Ihr nur für Sachen, werter Gemahl?«, schimpfte sie. Über sein Gesicht lief ein Lächeln.

»Ihr habt recht, Madame. Alte Männer sollten lieber am Kamin sitzen und über vergangene Heldentaten schwadronieren, anstatt sich über die Wirrnisse des Lebens zu echauffieren.«

Bernhardine nickte, strich eine Falte auf der Bettdecke glatt und wollte sich schon wieder erheben, als sich Johannes’ Finger auf einmal um ihr Handgelenk schlossen und sie festhielten. Dann legte er seine Hand sachte auf die ihre.

»Geht noch nicht, Madame«, flüsterte er eindringlich, »ich muss etwas Wichtiges mit Euch besprechen!«


Marie warf sich im Bett hin und her. Sie konnte keinen Schlaf finden, schlug das Plumeau schließlich mit einem Seufzer ans Fußende des Bettes zurück und stand auf. Eisige Luft schnappte nach ihren bloßen Beinen. Sie fing an zu schlottern, zog ihr Nachthemd über die Knie und rieb die Füße aneinander.

Seit Stunden plagten sie hämmernde Kopfschmerzen, die sich weder mit Pfefferminztee noch mit einer Prise Schnupftabak hatten vertreiben lassen. Sie drückte Daumen und Zeigefinger gegen die Nasenwurzel, doch das Pochen blieb. Sie seufzte und machte sich auf den Weg zum Abort. Es war ein Kreuz mit dem Alter! Selbst das Wasserlassen wurde zu einer mühseligen Angelegenheit, wenn man nahezu jede Stunde auf den Abtritt musste.

Nächtliche Geräusche begleiteten sie auf ihrem Gang: knarrende Dielenbretter, der Wind, der durch Ritzen pfiff, pelzige Pfoten auf der Jagd nach Mäusen. Alles war wie immer und doch anders. Désirée! Keine leuchtenden Äuglein mehr, keine ausgestreckten Ärmchen oder dieses süße, glucksende Lachen, wenn Marie Grimassen für sie geschnitten hatte. Die zerzauste Puppe war das Einzige, was von ihrem Spätzchen übrig geblieben war. Und das Bild von Bernhardine und ihren Kindern hatte der Holländer noch nicht fertiggestellt. Die Gesichter fehlten noch zur Gänze. Ein Schluchzen stieg in Maries Kehle hoch. Sie war gescheitert. Gerolds schwarzer Zauber war mächtiger als ihre albernen Knoten, das Räucherwerk und die gemurmelten Beschwörungsformeln gewesen. Selbst der Anhänger mit dem Bergkristall hatte Désirée nicht schützen können. Der Abort befand sich direkt neben Gerolds Zimmer. Ein schmaler, gelber Lichtstreifen schimmerte unter der geschlossenen Tür hindurch. Dieser Mann war eine Bestie! Sicher heckte er in diesem Moment bereits weitere Teufeleien aus, um Bernhardine und den Kindern zu schaden.

Maries Rücken überzog sich mit einer Gänsehaut. Sie wagte kaum zu atmen und schlich leise am Gemach des Jüngeren von Hallwyl vorbei. Noch immer konnte sie nicht begreifen, was sie im Palas gesehen hatte. Ob das alles nicht doch nur ein Hirngespinst gewesen war? Hatte sich Bernhardines Schwager wirklich in einen Riesen verwandelt? Und dieses unheimliche Brausen, die Kälte und der Gestank. Hatte sie sich das alles nicht nur eingebildet? Und waren die schrecklichen Bilder nicht schlichtweg das Ergebnis ihrer überreizten Nerven gewesen? Aber der Holländer hatte es ebenfalls gesehen. Er war so weiß wie ein Bettlaken geworden, und Bernhardines Entsetzen hatte Marie bis in ihr Versteck hinein gespürt. Keiner hatte das furchterregende Geschehen danach auch nur mit einem Wort erwähnt. Als würde ein Benennen des Schreckens diesen erst zur unumstößlichen Tatsache machen. Stumm waren sie geflohen. Jeder mit sich und dem Erlebten beschäftigt; sich verstohlen umblickend, horchend, ob ihnen jemand oder etwas folgte.

Marie zitterte vor Kälte. Schnell verrichtete sie ihre Notdurft und hastete wieder zurück in ihre Kammer. Sie trat ans Fenster und öffnete einen Flügel. Unter sich hörte sie das Wasser in der Tiefe glucksen. Désirée, war dies das Letzte, was du gehört hast? Marie stützte sich schwer auf das Fenstersims und starrte ins Dunkel hinab. Der eiskalte Fluss verschlang alles und gab nichts mehr zurück. Erschüttert schloss sie die Augen.


»Wenn ich sterben sollte …«

Bernhardine erschrak und zog unwillkürlich ihre Hand zurück. Was redete Johannes da? Wieso sollte er sterben? Doch ein genauerer Blick in sein eingefallenes Gesicht rückte seine Aussage durchaus in den Bereich des Möglichen. Zuerst Désirée und nun ihr Gemahl? Wer käme als Nächstes? Ihr wurde eiskalt, als ihr bewusst wurde, was Johannes’ Tod für sie bedeuten würde. Die Zwillinge würden das Lehen erben und Gerold bis zu ihrer Volljährigkeit die Vormundschaft für sie übernehmen. Ihr wurde übel. Und schon sprach ihr Gatte ihre schlimmsten Befürchtungen aus.

»… dann versprecht mir, dass Ihr meinen Bruder ehelicht. Er wird ohnedies als Beistand für die Buben eingesetzt. Wenn Ihr sein Weib seid, ist für Euch gesorgt, und niemand wird Euch aus dem Schloss und von meinem … seinem Besitz vertreiben können.«

»Niemals!«, schrie Bernhardine und sprang auf. »Ihr dürft alles von mir verlangen, nur das nicht! Ich werde mich in alles fügen, was Ihr wollt! Aber keinesfalls werde ich diesen … Teufel heiraten, der Désirée beseitigt hat! Mit so einem soll ich das Bett teilen? Dieses Subjekt soll unsere Söhne aufziehen? Eher bringe ich uns alle um!«

Johannes schaute sie entgeistert an und richtete sich dann mühsam in seinem Bett auf.

»Was redet Ihr da für dummes Zeug? Mein Bruder war eindringlich darum bemüht, unsere Tochter zu finden. Er scheute keine Mühe, war einer der strebsamsten Sucher und lief stundenlang durch Schnee und Eis. Wieso sollte er Hand an Désirée gelegt haben?« Johannes ließ sich wieder in die Kissen zurückfallen. Auf seiner Stirn stand Schweiß. Er griff an sein Herz und keuchte. »Ihr seid erregt«, fuhr er fort. »Ihr zieht Euch jetzt besser zurück und überdenkt meinen Vorschlag. Ich bin sicher, morgen werdet Ihr Eure Meinung geändert haben. Es ist der einzige Weg.«

Verstört stolperte Bernhardine in ihr Zimmer, schlug die Tür hinter sich zu und warf sich aufs Bett. »Versprecht mir, dass Ihr Gerold ehelicht.« Johannes’ Worte dröhnten in ihrem Kopf, wurden lauter und lauter, bis sie sich wimmernd die Ohren zuhielt.

Was sollte sie tun? Als Witwe hatte sie keinerlei Rechte. Keiner würde ihr Unterstützung antragen. Für die Seenger Bürger war sie auch nach drei Jahren immer noch die Fremde aus dem noblen Bern und mehr geduldet als anerkannt. Wäre Flucht eine Möglichkeit? Vielleicht zusammen mit Cornelis?

Eine winzige Hoffnung keimte in ihr auf. So klein und zart wie ein frisch geschlüpfter Schmetterling. Ein Leben … eine Liebe mit Cornelis? Frei aller Zwänge und Pflichten. Keine langweiligen Essen, keine gehaltlosen Gespräche mit ungehobelten Adeligen, kein ödes Sticken mehr. Und was ihr als das Erstrebenswerteste erschien: ein Ende der lästigen Ehepflichten! Stattdessen lockten Lust und Erfüllung in den Armen des Geliebten.

Bernhardines Herzschlag beschleunigte sich, und das Blut schoss ihr ins Gesicht. Doch eine kleine Stimme in ihrem Kopf meldete sich sogleich zu Wort. Eindringlich und nervtötend: Was ist dann mit deinen schönen Kleidern? Den wertvollen Juwelen? Und der jährlichen Fuchsjagd? Wer wird dir noch Hochachtung zollen? Und die Zwillinge? Werden sie ihrem Stand entsprechend aufwachsen und erzogen? Oder wären sie nichts und besäßen auch nichts? Außer einem Leben in Armut und Abhängigkeit? Willst du ihnen … willst du dir das antun?

»Schweig!«, schrie sie und trommelte mit den Fäusten auf das Kopfkissen. »Schweig endlich still!«

Eine Tür fiel ins Schloss. Bernhardine schreckte auf. Wer war zu dieser späten Stunde noch unterwegs? Sie horchte angespannt und vernahm jäh ein heiseres Lachen. Ruckartig wandte sie den Kopf, versuchte, in den dunklen Ecken des Raumes etwas zu erkennen. Doch da war nichts. Nun schien das Gelächter aus dem Kamin zu kommen. Nein, aus dem Schrank! Dann drang es plötzlich unter ihrem Bett hervor. Ihr stockte der Atem. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn, und ihr Herzschlag raste. Sie schlüpfte ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf.

»Vater, der Du bist im Himmel. Geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme, Dein …« Sie presste ihre gefalteten Hände fest an die Brust, »… erlöse uns von dem Bösen.«

Das Gelächter schwoll daraufhin kurz an, verebbte dann aber langsam wie eine Welle, die ans flache Ufer schlägt. Innerhalb von Sekunden war die Temperatur im Zimmer rapide gesunken; die Schweißtropfen auf Bernhardines Stirn kristallisierten zu Eis. Sie keuchte und schlotterte vor Angst. Doch plötzlich war der Spuk vorbei. Die Wärme des Kaminfeuers kroch unter die Decke zurück wie eine schläfrige Katze und wiegte sie in ihren Armen. Bernhardine war so erschöpft, dass sie sich keinen Zoll mehr bewegen konnte. Dennoch betete sie das Vaterunser so lange, bis der Schlaf sie schließlich übermannte.

Die Frau in Rot: Roman
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