22

Seengen, 2010

Ein Friseur in getigerten Leggings, der sich als Maskenbildner ausgab, schminkte Anouk tiefe Falten auf die Stirn und um den Mund herum, bis sie aussah, als würde sie demnächst das Zeitliche segnen.

»Exquisit!«

Er trat einen Schritt zurück, küsste seine Fingerspitzen und scheuchte sie dann vom Stuhl, denn hinter ihr warteten bereits die anderen Schauspieler auf ihre Verwandlung. Als sie Anouk erblickten, brachen sie in schallendes Gelächter aus. Die schnaubte entrüstet und stülpte sich die Haube über ihre Locken. Im Schatten einer Eiche saß die Bibliothekarin in ihrem wunderschönen Kostüm, ein riesiges, weiß gepudertes Etwas auf dem Kopf, das mit Stoffblumen und Perlen geschmückt war, und himmelte Max an. Der hatte sich neben ihr auf die Bank gefläzt, die Beine weit ausgestreckt, und starrte finster zu Anouk hinüber.

Die ganze Nacht lang hatte Anouk gegrübelt, an welcher Stelle ihre gestrige Unterhaltung gekippt und in gegenseitiges Unverständnis und Missstimmung umgeschlagen war, und mit Schrecken festgestellt, dass erst ab ihrer haltlosen Unterstellung, Max könne wie Rufli reagieren, alles schiefgelaufen war. Deshalb hatte sie sich, in der Hoffnung, zu retten, was noch zu retten war, auch gleich nach dem Aufstehen vorgenommen, sich bei Max zu entschuldigen. Schließlich liebte sie ihn – das war ihr in der vergangenen Nacht ebenfalls klar geworden – und wollte nicht, dass ihre Beziehung wegen eines dummen Missverständnisses in die Brüche ging. Aber seine abweisende Miene, als sie zur Theaterprobe erschienen war, hatte sie abgeschreckt. Außerdem hatte sie keine Lust, sich vor versammelter Mannschaft lächerlich zu machen. Also hatte sie ihm nur kurz zugenickt und sich danach schnell umgezogen. Sie hoffte aber, ihn später noch unter vier Augen sprechen zu können. Ihr Autounfall und Julias Tod hatten Anouk bewusst gemacht, wie schnell sich das Leben ändern konnte und dass manchmal keine Zeit mehr blieb, etwas klarzustellen. Wie schmerzlich dies auch immer war.

Heute war die Hauptprobe. Die erste Vorstellung würde am Mittwoch stattfinden, die zweite am Samstagabend. Und voller Stolz hatte Brigitte verkündet, dass bereits alle Karten verkauft wären. Anouk neigte zur Nervosität, aber ihre momentane Unruhe war wohl eher das, was man Lampenfieber nannte. Was, wenn sie ihren Text vergaß? Oder von der Bühne fiel? Ihr wurde schlecht, und sie schloss für einen Moment die Augen, atmete tief ein und wieder aus und konzentrierte sich auf ihre Körpermitte. Doch es half nichts. Ihr Magen rebellierte, kalter Schweiß trat auf ihre Stirn und drohte das Werk des Maskenbildners zu ruinieren.

Sie zog ihre Armbanduhr aus der Rocktasche. Ihr blieb noch genügend Zeit, um sich die Füße zu vertreten. Also schlenderte sie zum Schlosstor hinaus und ging auf die hohen Bäume zu, die den hinteren Teil des Vorplatzes in bläuliche Schatten tauchten. Zu ihrer Rechten befand sich der Schlossfriedhof, und Anouk musste unwillkürlich an Bernhardines Gedicht denken. Wie sollte sie nur herausfinden, wo man sie begraben hatte? Ob es vielleicht ein Gerät gab, mit dem man Knochen unter der Erde ausfindig machen konnte? Sie setzte sich auf einen der vielen hier aufgestellten Findlinge und musterte das Wasserschloss. Die untergehende Sonne tauchte die Zinnen und Türme in warmes Gold. Es war ein friedliches Bild. Nichts deutete darauf hin, dass sich hier vor nicht ganz dreihundert Jahren eine Tragödie abgespielt haben musste. Wenn Steine sprechen könnten!

»Ich brauche ein Zeichen, Bernhardine«, murmelte Anouk vor sich hin, »ansonsten kann ich dich nicht finden.«

»Hallo.«

Anouk schaute erschrocken hoch. Max stand vor ihr, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben.

»Hallo«, erwiderte sie, zu überrascht, um etwas Originelles von sich zu geben.

»Siehst toll aus!«, sagte er und grinste.

Anouk grinste zurück. »Ja, nicht wahr? Sozusagen ein Blick in die Zukunft: ich mit sechzig.«

Eine Strähne fiel Max in die Stirn. Der Drang, sie ihm zurückzustreichen, war übermächtig.

»Kann ich mich setzen?«

Als Antwort rutschte Anouk ein Stück zur Seite, und Max quetschte sich neben sie auf den Findling. Eine Weile blieben beide stumm und lauschten den Geräuschen der Dämmerung: Vogelgeschrei in den Bäumen, glucksendes Wasser, zirpende Grillen.

»Ich …«, begann Anouk.

»Wir …«, sagte Max zur gleichen Zeit.

Sie sahen sich an und mussten dann beide lachen.

»Ich zuerst.« Anouk holte tief Luft. »Es war dumm von mir, dir zu unterstellen, dass die Verwandtschaft mit Rufli ein Problem für dich sein könnte. Ich war nur … na ja, so überrascht und hatte gleichzeitig Angst, dich zu verlieren. Verzeihst du mir?«

Max musterte sie von der Seite. »Schon vergessen«, erwiderte er und machte eine kurze Pause. »Ich hatte die gleiche Angst«, meinte er dann und schüttelte den Kopf. »Und so etwas nennt man nun erwachsen sein.«

»Also ich bin es auf alle Fälle … wenigstens äußerlich«, erwiderte Anouk trocken.

Max lachte. »Ich würde dich jetzt gerne küssen, aber Thierry erschlägt mich, wenn sein Meisterwerk dadurch zerstört wird.« Er nahm ihre Hand und drückte einen Kuss auf ihre Handfläche. »Sozusagen als Appetithäppchen.«

Anouk spürte ein Prickeln im Nacken. Am liebsten hätte sie sich mit Max gleich hier und jetzt in die Büsche geschlagen. Er hatte wohl dieselbe Idee, denn sie sah, wie seine Augen aufleuchteten und er mehrmals schlucken musste.

»Übrigens«, räusperte er sich und sah auf die Uhr, »habe ich mir vergangene Nacht noch Gedanken darüber gemacht, wo Bernhardine begraben sein könnte.«

Anouk riss die Augen auf. »Und?«

»Mir kam da plötzlich eine Idee. Huldrich Erismann lebte ja zur selben Zeit wie unsere Dame auf dem Porträt.« Anouk nickte. »Ist dir noch nicht aufgefallen, dass wir ein Stück aufführen, in dem nahezu die gleichen Charaktere vereint sind, wie sie dazumal auf dem Schloss gelebt haben müssen? Ganz abgesehen von dem eindeutigen Titel, den das Stück trägt.«

Anouk war völlig perplex. Natürlich! Wie hatte sie das nur übersehen können? Das Stück hieß sogar »Das Porträt«. War sie denn blind gewesen?

»Himmel, ja!«, rief sie aufgeregt und stand auf. »Sie sind alle da. Eleanor ist Bernhardine und Josef Johannes von Hallwyl. Eusebius von Hallwyl ist … hm, das wissen wir noch nicht … aber auf alle Fälle der Böse. Man müsste die Ahnengalerie nochmals durchsehen. Und Nick, der den Künstler im Stück spielt, ist Bernhardines Seitensprung. Ich fasse es nicht! Max, du bist ein Genie!« Sie umarmte ihn stürmisch, und er lächelte geschmeichelt. »Aber«, sie setzte sich wieder hin und krauste die Stirn, »im Stück kommt kein Grab vor, oder?«

Max schüttelte den Kopf. »Nein, aber es gibt eine Stelle im dritten Akt, wo Joggeli und Eusebius miteinander streiten.« Max griff in seine Hosentasche und holte das Skript hervor. »Lies selbst.«

Anouk blätterte das Heft durch, schlug besagte Seite auf und las laut vor: »Joggeli und Eusebius stehen am Ufer des Sees bei Schloss Brestenberg. Beide sind wütend. Joggeli schaut zu Eusebius auf. – Joggeli: ›Das kann nicht Gottes Wille sein!‹ – Eusebius: ›Schweig, Knabe, was weißt du schon vom Herrn?‹ – Joggeli: ›Er ist gütig.‹ – Eusebius, laut lachend: ›Gütig bin ich, der ich es beendet habe.‹ – Joggeli, weinend: ›Und ich war Euer Helfer.‹ – Eusebius: ›Es soll dein Schaden nicht sein.‹« Anouk krauste die Nase. »Das sagt mir nichts«, meinte sie gedehnt und gab Max das Drehbuch zurück.

»Aber verstehst du denn nicht? Dort steht: am Ufer des Sees bei Schloss Brestenberg. Es gibt dort aber nur eine einzige Stelle, an der man ans Seeufer gelangen kann: die Badewiese. Dort läuft alles zusammen. Dort fand Herberts und Walters letztes Gespräch in der Herrengarderobe statt. Und das Pentagramm, das Valerie gesehen hat und das sogar den Titel unseres Theaterstücks schmückend umgibt, ist ein zusätzlicher Hinweis.« Er drehte das Skript um und wies auf den fünfeckigen Stern auf der Vorderseite. »Ich bin mir sicher, dass sich Bernhardines Grab auf dieser Badewiese befindet. Vermutlich sogar in dem kleinen Kiosk, der heute an der Stelle der ehemaligen Herrengarderobe steht.«

Anouks Augen wurden kugelrund. »Du hast recht«, flüsterte sie atemlos. »Das muss es sein.«

»Und weißt du, was ich denke?« Anouk schüttelte den Kopf. »Ich glaube, dass wir Joggeli falsch besetzt haben. Joggeli ist kein junger Mann, sondern ein halbwüchsiger Junge. Und meiner Meinung nach ist dieser Junge auch derjenige, der das Stück dann später als Erwachsener geschrieben hat.«

Anouk schlug die Hand vor den Mund. »Du meinst …?«

»Ja, Joggeli ist Huldrich Erismann, geborener Rufli. Er schrieb seine Kindheitserlebnisse als Theaterstück nieder.« »Wenn das stimmt, hat er diesem Eusebius, also dem Bösen, damals geholfen, Bernhardines Leiche zu vergraben.«

Anouk fröstelte plötzlich. War das die Lösung? War Huldrich deshalb später Pfarrer geworden, um dieses Vergehen zu sühnen? Sie schluckte. Am liebsten hätte sie sich umgehend eine Schaufel besorgt, um die Wiese beim Brestenberg umzugraben.

»Kommt ihr?« Auf der Schlossbrücke stand Nick und schwenkte die Arme. »Wäre nett, wenn der Regisseur bei der Hauptprobe auch anwesend wäre!«, rief er.

»Den Spruch kenne ich bereits«, witzelte Max.

Sie standen auf und überquerten den Platz.

»Sag mal«, wandte sich Anouk an ihn, »Brigitte … sie scheint ja immer noch sehr interessiert an dir zu sein.«

Es sollte beiläufig klingen, aber sie merkte selbst, dass sich ein lauernder Unterton in ihre Stimme eingeschlichen hatte.

Max hob amüsiert die Augenbrauen. »Höre ich da etwa einen Hauch von Eifersucht aus deiner Frage heraus?«

»Ich will’s einfach wissen.«

»Ja und nein«, beantwortete er ihre Frage. »Ich musste mich bei ihr entschuldigen, weil ich ihre Geburtstagsparty vergessen habe. Ich war vorgestern zu der Zeit ja … anderweitig beschäftigt.«

Er grinste vielsagend.

»Ach, tatsächlich?«, sagte Anouk und klimperte unschuldig mit den Wimpern. »Erzähl doch mal!«

Max schüttelte den Kopf und ließ ihr den Vortritt beim Tor. »Nix da, darüber spricht man nicht. Aber ich kann es dir gerne zeigen.«


Die Hauptprobe war, wie alle Hauptproben, ein einziges Fiasko. Die Hitze ließ die Schminke auf den Gesichtern der Schauspieler zerfließen. Ein Statist schlug einem anderen mit seinem Rechen auf den Kopf, so dass sich dieser von Max verarzten lassen musste. Brigitte konnte jetzt zwar ihren Text, verlor jedoch ständig ihre Perücke, was die Schauspieler zu albernem Gelächter animierte und die Bibliothekarin fast an den Rand eines Weinkrampfs brachte. Anouk glänzte mit ihren zwei Zeilen, ging aber auf der falschen Seite von der Bühne und musste deshalb hinter den Kulissen einen Spurt hinlegen, um ihren zweiten, gleich darauffolgenden Auftritt nicht zu verpassen.

Max nahm das Ganze locker. Er wiederholte ständig, dass eine verpatzte Hauptprobe eine glänzende Premiere versprach. Am Ende glaubten ihm alle und gingen gut gelaunt nach Hause.

Wenig später saßen Max und Anouk auf Valeries Veranda, tranken eisgekühlten Fruchtsaft und bewunderten das verblassende Farbenspiel des Sonnenuntergangs.

»Ich hätte nicht übel Lust, zum Brestenberg-Bad zu laufen und mit einer Spitzhacke den Boden aufzubrechen«, brach Anouk das Schweigen und schaute Max herausfordernd an. Der verschluckte sich am Fruchtsaft und fing an zu husten.

»Schatz«, meinte er in dem Ton, den man bei Kindern anschlägt, wenn sie im Winter ein Eis verlangen. »In einer halben Stunde ist es stockfinster, und ich glaube kaum, dass wir dann noch in der Lage dazu sind, auch nur einen kaputten Schwimmgürtel zu finden.«

Schatz? Anouks Fingerspitzen fingen an zu kribbeln. Er nennt mich Schatz! Sie lächelte verzückt.

»Wie wär’s mit einer Lampe?«, entgegnete sie.

»Nur wenn es die von Aladin ist.« Max verschränkte die Arme hinter dem Kopf und stöhnte. »Ich bin todmüde, Anouk. Lass uns schlafen gehen, okay?«

Obwohl sie nichts lieber getan hätte als das, war es ihr unmöglich, seiner Bitte nachzukommen. Etwas in ihr drängte mit aller Kraft zum Brestenberg.

Max stand ächzend auf. »Wo?«, fragte er und schaute sich suchend um.

»Bitte was?« Anouk blickte erstaunt hoch.

»Wo sind die Lampe, die Spitzhacke und der Bagger? Du siehst wie ein Rennpferd kurz vor dem Start aus. Da wird’s mit ruhig schlafen wohl nichts werden. Also wo?«

Anouk sprang auf und schlang beide Arme um Max’ Hals. »Danke«, sagte sie strahlend. »Ich liebe dich!«

Die letzten Worte waren ihr einfach so rausgerutscht, und kaum dass sie heraus waren, hoffte sie auch schon inständig, dass er sie nicht gehört hätte. Er würde sich sonst genötigt fühlen, etwas darauf zu erwidern, und Anouk war sich nicht sicher, ob sie eine belanglose Bemerkung seinerseits verkraften könnte. Gott, war ihr das peinlich! Aber Max sagte nichts, was fast noch schlimmer war. Doch plötzlich nahm er sie in die Arme, küsste sie, bis sie nach Luft schnappte, und hielt sie dann eine Armeslänge weit von sich weg.

»Das trifft sich gut«, meinte er mit einem strahlenden Lächeln. »Ich dich nämlich auch.«


»Tja«, Max betrachtete betrübt den nackten Betonboden rund um den Kiosk. »Fehlanzeige.«

Anouk kamen vor Enttäuschung fast die Tränen. Der kleine Laden, der Getränke und Esswaren an die Badenden verkaufte, war mit einem massiven Metallgitter verriegelt. Früher mussten hier die Umkleidekabinen gestanden haben, von denen Valerie gesprochen hatte. Sowohl der Kiosk wie auch der Vorplatz bestanden jedoch aus festem Zement. Und um den aufbrechen zu können, hätte man schon einen Presslufthammer aus dem Hut zaubern müssen.

»So ein Mist!«, schimpfte Anouk und rutschte mit dem Rücken an der Wand des Kiosk auf den Boden hinab. Sie zog die Beine an und legte ihren Kopf auf die Knie. »Und jetzt?«

Max kratzte sich am Kinn. »Hast du eine Idee?«

Anouk schüttelte den Kopf. Voller Enthusiasmus hatten sie sich auf den Weg zum Brestenberg-Bad gemacht, nachdem sie sich in Tatis Schuppen eine Schaufel, eine Spitzhacke und eine Sturmlaterne gegriffen hatten. Sie kamen sich wie zwei Archäologen vor, die unterwegs waren, um das Grab des Tutenchamun zu öffnen.

Max stellte die Lampe auf den Boden, setzte sich neben Anouk und legte seinen Arm um ihre Schultern. Sie kuschelte sich in seine Armbeuge.

»Vielleicht soll es ja einfach nicht sein«, sagte er leise und hauchte ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Wir wissen aber wenigstens, wer sie war. Das ist doch immerhin etwas. Und wenn wir jetzt noch genügend Beweise für ihre Existenz zusammentragen, wird Rufli das nicht mehr ignorieren können. Er ist außerdem nicht der einzige namhafte Historiker im Land. Wir werden ganz sicher einen finden, der sich mit Genuss auf unsere Recherchen stürzt und Bernhardine rehabilitiert. Mehr können wir vermutlich nicht tun.«

Anouk nickte. Sie sah ein, dass er recht hatte, aber ein unbestimmtes Gefühl in ihr sagte ihr, dass sie noch nicht kapitulieren durften. Sie waren so kurz vor dem Ziel.

»Aber das Gedicht.« Sie hob den Kopf. »Darin heißt es doch, dass sie keine Ruhe findet, solange ihre Gebeine nicht in geweihter Erde bestattet sind.«

»Ich weiß.« Max seufzte. »Aber du siehst ja selbst, wie es ist.« Er wies mit seiner Hand auf den Boden. »Und ich glaube kaum, dass wir von der Gemeindeverwaltung die Bewilligung erhalten werden, den Boden des Kiosks aufzubrechen und umzugraben. Auch wenn uns jeder Architekt dafür vermutlich die Füße küssen würde.«

Anouk nickte seufzend. Sie erhob sich, ging zu einer Pappel, die neben dem Kiosk stand, und lehnte sich mit dem Rücken an den rauhen Stamm. Ein leichter Wind war aufgekommen. Anouk sah in die Baumkrone hinauf und hörte zu, wie die Blätter miteinander flüsterten. Irgendwo schrie ein Käuzchen, im Gestrüpp raschelten nachtaktive Tiere, und ganz in ihrer Nähe quakte ein Frosch sein Liebeslied.

»Wir müssen nachdenken«, ergriff sie von neuem das Wort. »Bis jetzt sind wir immer dann einen Schritt weiter gekommen, wenn wir die Informationen, die wir hatten, neu analysiert und kombiniert haben.« Sie unterdrückte ein Gähnen und schüttelte ihre Locken, um die Müdigkeit zu vertreiben. »Wenn Bernhardine tatsächlich unter dieser Betondecke liegt, werden wir sie nie finden.« Sie warf Max einen schnellen Blick zu. »Aber es wäre doch auch möglich, dass dieser von Hallwyl und Huldrich ihren Körper an einer anderen Stelle vergraben haben, nicht wahr?«

Max zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich hatte noch nie den Drang, eine Leiche zu verbuddeln.« An seinem Ton merkte Anouk, dass er bei diesen Worten grinste. »Aber sollte ich je in die Situation kommen, würde ich mir den Platz natürlich vorher genau aussuchen«, fügte er hinzu.

»Eben!«, meinte Anouk. »Was wissen wir also? Wir wissen, dass der Böse und Huldrich eine Frauenleiche verschwinden lassen müssen. Wir wissen aber nicht, wann genau Bernhardine gestorben ist. War es Sommer? Winter? Wie dem auch sei, die zwei müssen in jedem Fall ein Loch ausheben. Wenn wir jetzt annehmen, der Böse aus dem Stück ist ein von Hallwyl, also ein Edelmann, und Huldrich noch ein Kind, sind das zwei Personen, die sich mit dem Schaufeln von Gruben vermutlich nur wenig auskennen und keine Übung darin haben. Der eine ist ein piekfeiner Schnösel, der andere ein schwaches Bürschchen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die stundenlang in der Erde wühlen.«

»Das sehe ich genauso«, stimmte Max zu. »Welche Stelle könnten sie also dafür gewählt haben?«

Anouk blickte sich auf dem Gelände um. Die Wiese fiel zum Wasser leicht ab, zur Straße hin wurde sie von einer Backsteinmauer begrenzt. Auf dem Terrain standen außerdem mehrere hohe Eichen und Pappeln. Die Bäume konnten damals schon hier gewesen sein. Aber sie wuchsen kreuz und quer. Ihre Anordnung bildete keinerlei Muster, das auf eine bestimmte Stelle hätte hindeuten können.

Max richtete sich ächzend auf. »Vielleicht gab’s zu der Zeit ja einen Brunnen in der Nähe? Das wäre doch praktisch gewesen.«

»Ja, das wäre es tatsächlich«, pflichtete Anouk ihm bei. »Ich sehe aber keinen. Nur diese altmodische Dusche dort drüben, die in der kleinen, gemauerten Halle angebracht …«

Sie sahen sich verblüfft an und rannten dann beide gleichzeitig los.

Altdorf, 1746

»Du musst mir beim gekreuzigten Heiland schwören, dass du es nur der Gräfin Amandine von Diesbach übergeben wirst. Nur ihr persönlich! Keinem Diener, keiner Magd und schon gar nicht dem Freiherrn. Schwörst du mir das?«

Der Bote kratzte sich am Kinn, spuckte dann in die Hand und hob drei Finger. Marie nickte zufrieden und reichte ihm darauf ein mit Bindfaden verschnürtes Päckchen, das er umgehend in seiner Umhängetasche verstaute.

»Wir vom Kurierdienscht habn schließlich Ehrgfühl«, brummte er und hielt ihr die hohle Hand hin. Marie klaubte vier Münzen aus ihrem Gürtel. Jetzt blieb ihr nur noch eine. Sie seufzte. Der Mann tippte zum Gruß an seine Stirn und drehte sich um.

»Warte!«, rief sie und lief in den Stall, wo Cornelis auf einem Strohballen saß und seine Stiefel einfettete. »Schnell«, keuchte sie, »ein Papier. Und etwas zum Schreiben!«

Seit drei Tagen lagerten sie nun schon in Altdorf und warteten auf besseres Wetter, denn der Pfad nach Süden über den Gotthard war bei Schneefall nicht passierbar. Sie hatten sich einer Säumerkolonne angeschlossen, die mit vier Ochsen und zwei Schlitten die Passüberquerung wagen wollte. Cornelis hatte ihr mit leuchtenden Augen von Italien berichtet und von den alten Meistern vorgeschwärmt. Diese waren Marie jedoch ziemlich gleichgültig, sie hatte nur das Bedürfnis, so schnell wie möglich weit weg von hier zu kommen. Und ob sie jetzt ihren letzten Schnaufer auf dem Weg ins Tessin oder in Mailand tat, war ihr einerlei. Ihre Tage waren sowieso gezählt und alle ihre Liebsten dahin. Was sollte sie noch länger auf Erden? Doch als sie an diesem Morgen dem berittenen Kurier begegneten, war ihr eine Idee gekommen. War es wahnwitzig oder ein Zeichen des Himmels? Der Postdienst in dieser Gegend war zwar wenig verlässlich, doch sie musste es versuchen. Es war möglicherweise die letzte Gelegenheit.

Cornelis zog ein zerknittertes Stück Leinwand und einen Stift aus der Satteltasche. »Mehr habe ich nicht mehr«, sagte er und hob entschuldigend die Schultern.

Er hatte die vergangenen Tage über kleine Zeichnungen für die Reisenden angefertigt und sie gegen Speis und Trank eingetauscht. Obwohl ihnen ständig der Magen knurrte und man bereits die Rippen ihrer Pferde zählen konnte, hatten sie die überstürzte Flucht bislang heil überstanden.

Marie nickte. »Das muss genügen.«

Sie setzte sich neben die Futterkrippe, rieb ihre eiskalten Hände aneinander und langte nach dem Crayon. Sie befeuchtete die Spitze des Grafitstifts mit der Zunge und fing an zu schreiben:


Verehrte Gräfin!
Glaubt nicht, was man Euch über Dinchen zuträgt. Es ist nicht wahr! Nie und nimmer! Sie war ein liebes Kind und eine gute Mutter. Bewahrt das Einzige, was mir von ihr geblieben ist, gut auf! Sie hat es von Euch bekommen, und deshalb soll es auch wieder an Euch zurückgehen, das hätte sie so gewollt. Vielleicht bringt es einer anderen Dame aus Eurer Familie ja mehr Glück. Gott sei mit Euch!
Die Marie, Dinchens alte Amme.

Sie faltete das Schreiben zusammen und eilte wieder aus dem Stall hinaus. Der Kurier war eben dabei, sich in den Sattel zu schwingen.

»Hier!«, rief sie und streckte ihm die Mitteilung hin. »Das gehört dazu … und ist im Preis inbegriffen.«

Der Mann verdrehte die Augen, schnappte sich das zusammengefaltete Stück Leinwand und gab seinem Pferd die Sporen.

Die Frau in Rot: Roman
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