24

Seengen, 2010

Sie wollen mich wohl veräppeln.«

Der Polizist blickte von Anouk zu Max und wieder zurück, unterdrückte dann ein Gähnen und schüttelte den Kopf.

Es war Dienstagmorgen kurz nach sechs Uhr. Anouk und Max hatten die vergangenen Stunden damit verbracht, sich einen Schlachtplan auszudenken. Jetzt saßen sie mit unschuldiger Miene in dem kargen Büro der Seenger Polizei.

»Aber wo denken Sie hin, Herr …«, Anouk warf einen Blick auf das Namensschild des Beamten, »… Huggentobler. Nicht wahr, Max, genau so hat es sich zugetragen.«

Max nickte beflissen und wurde ein bisschen rot. Der Polizist nahm das Aussageprotokoll zur Hand und las es nochmals durch.

»Sie behaupten also allen Ernstes, dass Sie, weil ihnen Ihr Verlobungsring in den Abfluss der Halle gefallen ist, diesen aufgebrochen haben und in den Schacht hinabgestiegen sind, um das Schmuckstück wieder herauszuholen, und dabei ein Skelett gefunden haben?«

Anouk lehnte sich auf dem unbequemen Holzstuhl zurück. »Genau so ist es gewesen!« Sie lächelte Herrn Huggentobler gewinnend an. »Natürlich tut es uns außerordentlich leid, dass wir ein öffentliches Bauwerk beschädigt haben, aber sehen Sie … Verlobung bei Mondschein … ein Diamantring. Man kann seine gemeinsame Zukunft doch nicht mit dem Verlust eines solch symbolträchtigen Gegenstandes beginnen? Das verstehen Sie doch sicher?«

Anouks Augen füllten sich mit Tränen, und sie nestelte ein Taschentuch hervor. Dann schnäuzte sie sich kräftig die Nase und warf Max dabei einen warnenden Blick zu, als sie bemerkte, dass seine Mundwinkel verräterisch zu zucken begannen.

»Nun, ja, das heißt, nein, sicher nicht. Es ist nur … reichlich ungewöhnlich.« Der Polizist räusperte sich. »Aber wir müssen der Sache natürlich nachgehen. Ein Skelett, sagten Sie?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »So etwas hat es hier ja noch nie gegeben.« Er griff nach dem Telefonhörer und schaute zur Uhr, die oberhalb eines Aktenschrankes an der Wand hing. »Ich trommle jetzt erst mal meine Kollegen zusammen und danach die Feuerwehr. So, wie Sie mir das geschildert haben, müssen da Fachleute ran.«

Anouk nickte zufrieden und stand auf. »Und Sie geben uns bitte Bescheid, wenn Sie herausgefunden haben, um wen es sich bei dem Skelett handelt. Nicht wahr?«

»Über laufende Ermittlungen darf ich keine Auskünfte erteilen«, brummte Herr Huggentobler mürrisch. Doch als er Anouks enttäuschtes Gesicht sah, fügte er versöhnlich hinzu: »Aber Sie erfahren es sicher aus der Presse. Ein solcher Fund kann nicht lange geheim gehalten werden.«

»Ja, vermutlich.« Anouk legte theatralisch eine Hand auf ihre Brust. »Ich hoffe nur, dass mich keine Alpträume plagen werden, denn …«

»Auf Wiedersehen, Herr Huggentobler. Und danke für Ihre Hilfe«, unterbrach Max Anouks Vorstellung und zog sie kurzerhand aus dem Büro.

»Unsere Telefonnummern haben Sie ja!«, rief sie noch, bevor die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel.

Vor der Tür sahen sie sich einen Moment lang an und brachen dann in unterdrücktes Gelächter aus. Sie beeilten sich, aus dem Revier zu kommen, und liefen zum Auto.

Anouk lachte sogar noch, als Max auf die Hauptstraße einbog. Sie war völlig überdreht und konnte sich kaum beruhigen.

»Sein Gesicht! Hast du sein Gesicht gesehen?« Sie hielt sich vor lauter Lachen den Bauch. »Das hätte man filmen sollen.«

Max hatte Bernhardine in der letzten Nacht tatsächlich in dem alten Brunnen gefunden. Sie lag auf einer erhöhten Stelle am Grund des Schachts. Vermutlich war ihr Körper während einer Hochwasserperiode auf diesen Sandhügel geschwemmt worden. Viel war nicht mehr von ihr übrig, hatte Max erzählt, aber dass sie einst ein rotes Kleid getragen hatte, war anhand einiger vereinzelter Stofffetzen noch zu erkennen gewesen. Die Krux war nur, wie sollten sie der Öffentlichkeit klarmachen, dass es sich bei der Toten um Bernhardine von Hallwyl handelte? Sie mussten einen untrüglichen Beweis für ihre Identität erbringen, sonst würde man sie in den Akten als Jane Doe, als unbekannte Tote, eintragen.

Sie hatten lange überlegt und immer abstrusere Möglichkeiten in Betracht gezogen und wieder verworfen, bis Anouk eine zündende Idee gehabt hatte.

Als sie sechzehn Jahre alt gewesen war, hatte sie ein Praktikum bei einem Goldschmied absolviert, bevor sie sich fürs Gymnasium entschieden hatte. Dabei hatte sie auch gelernt, Schmuck zu gravieren, und selbst einige Ringe und Medaillons bearbeiten dürfen. Was, wenn das Skelett nun ein solches Schmuckstück trüge? Und zwar eines mit einer Namensgravur? Anouk wusste sogar schon, welche Art von Kleinod sie dem Skelett beilegen wollte. Überhaupt fügte sich alles bestens zusammen. Schließlich trug Bernhardine auf dem Porträt ebenfalls ein Schmuckstück, einen Perlenanhänger, der dem von Anouk zum Verwechseln ähnlich sah. Besser hätte es gar nicht kommen können. Denn wenn sie Bernhardines Namen in ihren eigenen Anhänger eingravieren und diesen danach dem Skelett um den Hals legen würden, hätte dies unweigerlich zur Folge, dass man nach einer Bernhardine von Hallwyl suchen würde. Später könnte Anouk zudem noch Juliens Stammbaum herausrücken. Zu dem Zeitpunkt, an dem man Rufli als Koryphäe zu dem Fall hinzuziehen würde, wären die Details schon aktenkundig und vom Kurator daher nicht mehr zu unterschlagen.

Nachdem sie Anouks Idee mehrmals auf mögliche Schwächen hin untersucht hatten, waren sie aufgebrochen. Hatten Sturmlampe, Spitzhacke und Schaufel gesäubert und wieder in Tatis Schuppen verstaut. Anschließend hatte Anouk ihren Perlenanhänger geholt und in Max’ Praxis mit dessen medizinischen Instrumenten eine Gravur in den Rand des Schmuckstückes eingeritzt. Der Schriftzug mit Bernhardines Namen gelang Anouk geradezu meisterhaft. Niemand würde Verdacht schöpfen.

Aber als sie zurück in der kleinen Halle gewesen waren und vor dem Brunnen standen, hatte Anouk einen kurzen Augenblick gezögert, das wertvolle Familienerbstück aus der Hand zu geben. Doch schließlich hatte sie es Max mit einem Lächeln in die Hand gedrückt, und er war noch einmal in den Schacht hinuntergestiegen, um es Bernhardine um den Hals zu legen.

»Gott, bin ich müde«, sagte er und rieb sich die Augen. »Seit ich dich kenne, mein Schatz, ist es mit meinen Schlafgewohnheiten nicht zum Besten bestellt.« Er lächelte und warf ihr einen schnellen Blick zu. »Alles in Ordnung?«

Sie nickte stumm. Jetzt, wo es vorbei war, fühlte sie sich leer und ausgelaugt. Hatten sie alles getan, was erforderlich war? Hatten sie alle Fäden miteinander verknüpft? Und würde Bernhardine jetzt endlich Ruhe finden?

»Können wir beim Friedhof kurz anhalten?«, fragte sie.

Max runzelte die Stirn. »Sicher, wenn du möchtest.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »In einer Stunde öffnet meine Praxis. Da macht es sowieso keinen Sinn mehr, vorher noch ins Bett zu gehen.«

Die Morgenluft war herrlich kühl, als sie aus dem Wagen stiegen. In den Bäumen zwitscherten Amseln, auf den Sträuchern lag glitzernder Tau. Es roch nach frischer Erde und Rosenblüten. Anouk marschierte schnurstracks in den hinteren Teil des Friedhofs und blieb dort vor den Gedenktafeln derer von Hallwyl stehen. Sie betrachtete die verwitterten Platten mit den Engeln.

»Das sind Bernhardines Kinder«, sagte sie und deutete auf die Namen, die unter dem Namen von Viktoria von Hallwyl in den Stein gemeißelt worden waren. Sie brauchte jetzt menschliche Nähe und Wärme und lehnte sich an Max. Der zog sie an sich, und sie schmiegte sich an seine Schulter. »Unglaublich, dass man ihr die einfach so weggenommen … ich meine, einer anderen Frau zugeschrieben hat. Was war das nur für ein Mensch, der das getan hat? Und warum hat nie jemand etwas bemerkt?«

»Auf alle Fälle kein netter«, versuchte Max zu scherzen, doch Anouk lächelte nicht.

»Nein, ganz bestimmt nicht. Meinst du, dieser Eusebius, von dem Huldrich in seinem Stück spricht, hat Bernhardine getötet?«

Max atmete tief durch. »Ich weiß es nicht. Möglich. Ich habe mir den Stammbaum noch einmal angeschaut. Es gab zu der Zeit nur noch einen von Hallwyl. Johannes’ jüngeren Bruder Gerold, der später auch den Besitz geerbt hat. Wenn unser Eusebius aus dem Stück und dieser Gerold miteinander identisch sind, dann war er Huldrichs leiblicher Vater. Vielleicht war er auch derjenige, der Bernhardine umgebracht hat, aber ich glaube, das werden wir nie erfahren.«

Anouk seufzte. »Nein, vermutlich nicht. Komm lass uns gehen, ich brauche einen Kaffee.«

Sie drehten sich um und gingen den Kiesweg zurück.

»Schau mal!«, sagte Max und zeigte auf das Ganzkörperrelief eines Mannes. »Mein Ur-Ur-Irgendwas.«

Anouk trat näher. Das war also die Gedenktafel für Huldrich Erismann. Die hatte sie bei ihrem letzten Besuch gar nicht bemerkt. Aber da war sie ja auch vor einer tollwütigen Krähe geflohen. Komisch, erst hatten sie sich vor den kreischenden Schwarzröcken kaum retten können. Und jetzt waren sie plötzlich so gut wie verschwunden. Als hätte der Fund von Bernhardines Überresten sie vertrieben. Fast schien es ihr, dass zwischen den Krähen und ihrer Suche nach der wahren Identität der Zinnengängerin ein Zusammenhang bestand und die Vögel es sich zur Aufgabe gemacht hatten, sie von der Lösung des Rätsels abzuhalten. Aber da ging vermutlich die Fantasie mit ihr durch, und sie war auch zu müde, um sich dahin gehend weitere Gedanken zu machen.

Anouk betrachtete das Relief eindringlich. Sie verglich Huldrichs Gesichtszüge mit denen von Max, konnte aber keinerlei Ähnlichkeit feststellen. Der Dichter lächelte traurig. Außerdem schien seine Körperhaltung ein wenig schief zu sein. Sie beugte sich etwas weiter vor.

»Was hat er denn da?«, fragte sie verblüfft. »Besser gesagt, was hat er nicht?« Sie wies auf Huldrichs linke Körperhälfte.

»Ich glaube«, Max trat ebenfalls näher, »der hatte bloß einen Arm.«

Sie sahen sich erstaunt an.

»Na, damit wäre die Sache mit dem Verbuddeln im Brunnen ja eindeutig geklärt«, stellte Anouk fest. »Ein Einarmiger kann nur schwer eine Schaufel halten.«

»Frau Morlot? Herr Doktor? Welche nette Überraschung zu dieser frühen Stunde!«

Anouk und Max wirbelten herum.

»Ach, Herr Pfarrer«, Max atmete tief durch. »Jetzt haben Sie uns aber erschreckt.«

Der Geistliche machte ein betrübtes Gesicht. »Tut mir leid, aber normalerweise ist um diese Tageszeit noch kein Mensch auf dem Friedhof. Was führt Sie denn auf den Gottesacker? Ihre Recherche über eine mögliche Blutsverwandtschaft?«

Der Pfarrer zwinkerte ihnen zu, und Anouk senkte errötend den Blick. Das würde ihr der Priester sicher noch lange unter die Nase reiben.

»Wir sind auf dem Heim… auf dem Weg in die Praxis«, beantwortete Max die Frage. »Und Sie, weiden Sie schon so früh Ihre Schäfchen?«

Der Pfarrer lachte schallend und klopfte Max heftig auf die Schulter, der darauf sein Gesicht schmerzvoll verzog.

»Ich liebe Leute mit Humor«, meinte der Geistliche und sah zur Kirchturmuhr hinauf. »Aber jetzt muss ich mich leider verabschieden. Herr Rufli kommt gleich, um sich die Kirchenregister anzusehen.«

Anouk stieß einen Schrei aus. »Der Kurator?«

Der Pfarrer nickte eifrig. »Ja, stellen Sie sich vor, ich habe ihn, gleich nachdem Sie gestern gegangen waren, noch getroffen. Er fragte mich nach Ihnen, weil er gesehen hatte, wie Sie aus dem Pfarrhaus kamen. Und da erzählte ich ihm von Ihrer großzügigen Spende für die Restauration der alten Bücher. Und raten Sie mal, er hat mir sogleich angeboten, ebenfalls ein paar Franken dafür lockerzumachen. Aber zuerst möchte er die Register natürlich sehen. Er interessiert sich vor allem für dasjenige der Grafen von Hallwyl.«

Anouk sah Max entsetzt an. Der war bleich geworden und brachte kein Wort heraus. Das durfte doch nicht wahr sein! Rufli kam ihnen also schon wieder in die Quere. Und was war das überhaupt für eine Sache mit dem gräflichen Register?

»Wollen Sie damit sagen«, Anouk konnte kaum sprechen, »dass es ein eigenes Kirchenregister der Herren von Hallwyl gibt?«

Der Pfarrer schaute sie verblüfft an. »Aber ja, natürlich. Die Adligen wurden dazumal alle separat geführt.«

Anouk hatte die größte Lust, dem Geistlichen einen Hieb in die Magengrube zu verpassen. Selbst Max, der sonst immer ruhig und besonnen blieb, keuchte entsetzt auf.

Der Pfarrer runzelte die Stirn. »Haben Sie das denn nicht gewusst?«

»Nein, zum Teufel, haben wir nicht!«, rief Anouk aufgebracht. »Woher denn auch?«

»Ich will ja nicht den Geistlichen herauskehren«, entgegnete der Pfarrer kühl, »aber es macht sich nicht sonderlich gut, wenn man neben der Kirche flucht. Und Sie hatten mich auch nur nach den beiden Namen Morlot und Rufli gefragt und nicht nach dem der Hallwyls.«

Anouk atmete tief durch. »Sie haben recht, entschuldigen Sie bitte.« Sie warf Max einen flehenden Blick zu, der sofort verstand, worauf sie hinauswollte.

»Nun, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte er freundlich, »würden wir ebenfalls gerne einen Blick in diese Aufzeichnungen werfen. Wenn Sie daher also gleich mit Herrn Rufli ins Archiv hinabsteigen, spricht doch sicher nichts dagegen, dass wir beide Sie begleiten, nicht wahr?«

Der Pfarrer zögerte einen Augenblick, dann lächelte er.

»Aber sicher, für mich spielt es keine Rolle, ob wir nun zu zweit oder zu viert in die Tiefe steigen. Schließlich muss man sich seine Sponsoren warmhalten.« Er wandte sich um. »Also dann, los geht’s! Der Kurator wartet vermutlich schon auf mich.«

Tatsächlich fielen Rufli fast die Augen aus dem Kopf, als er den Pfarrer mit Anouk und Max im Schlepptau auf sich zukommen sah. Doch er hatte sich sofort wieder unter Kontrolle und setzte ein falsches Lächeln auf.

»Anouk? Seit wann gehörst du denn zu den Frühaufstehern? Und der Herr Doktor, auch schon so früh auf den Beinen. Welch entzückende Überraschung.«

»Ja, ganz entzückend«, entgegnete Anouk reserviert und übersah geflissentlich Ruflis ausgestreckte Hand. Sie wollte diesen Mann unter keinen Umständen noch einmal berühren.

Der Pfarrer warf verstörte Blicke von einem zum anderen, räusperte sich und klatschte dann in die Hände.

»Wollen wir?«, rief er fröhlich. »In einer Stunde beginnt die Morgenandacht. Bis dahin muss ich zurück sein.«

Sie nahmen den gleichen Weg wie beim letzten Mal. Durch den Anbau, die eisenbeschlagene Tür hindurch und die enge Treppe hinunter. Der Pfarrer ging voraus, ihm folgten Rufli, danach Max und zuletzt Anouk. Sie hatte keine Ahnung, was sie dort unten erwartete. Die endgültige Lösung des Rätsels schwarz auf weiß auf dem Papier oder ein neues. Wie auch immer, zumindest hatten sie die Pläne des Kurators durchkreuzt, dem sie sogar zutraute, dass er den Versuch unternehmen würde, die Kirchenregister einfach mitzunehmen.

»So, die Herrschaften. Da wären wir.«

Der Pfarrer schloss die Tür zum Archiv auf, und wieder betraten sie den Raum mit den vielen alten Papieren. Ruflis Augen fingen an zu leuchten, als er die dicken Folianten in der Glasvitrine bemerkte. Er rieb sich nervös die Hände und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»Man interessiert sich also für unsere Hallwyler, nicht?« Max, Anouk und der Kurator nickten gleichzeitig. Der Pfarrer schaute perplex in die Runde und schloss den Glasschrank auf. »Leider ist nur noch das Register mit den Todesfällen derer von Hallwyl erhalten. Alle anderen wurden vermutlich bei dem Kirchenbrand zerstört.« Er griff zielstrebig nach einem in dunkelgrünes Leder gefassten Folianten und legte ihn sorgfältig auf den Tisch. »Irgendwelche Wünsche, was die Jahreszahlen betrifft?«

»Siebzehnhundertsechsundvierzig«, riefen drei Stimmen im Chor.

»Schön, dass Sie sich so einig sind«, murmelte der Pfarrer und schüttelte befremdet den Kopf.

Anouk wagte kaum zu atmen. Jetzt, ging es ihr durch den Kopf, jetzt entwirrt sich das Fadenknäuel der Geschichte!

»So, hier haben wir das achtzehnte Jahrhundert.«

Der Pfarrer drehte das Buch in ihre Richtung. Max keuchte, Anouk schnappte nach Luft, und der Kurator stieß einen Laut aus, als hätte man ihm einen Dolch ins Herz gestoßen.


Désirée Elisabeth von Hallwyl, geb. den 3 . März 1744 , gest. den 5 . Dezember 1746 , (G.u.)


Johannes August von Hallwyl, geb. den 18 . Mai 1689 , gest. den 21 . Dezember 1746 , (geborgen Januar 1747 )


Bernhardine Amalia von Hallwyl, geborene von Diesbach-von Morlot, geb. den 20 . April 1728 , gest. den 22 . Dezember 1746 , (G.u.)


Burkhardt und Kaspar von Hallwyl, geb. den 31 . Januar 1746 , gest. den 24 . Dezember 1746


»Sie sind alle da«, flüsterte Anouk ergriffen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Max nickte, nahm ihre Hand und drückte sie. »Was heißt das?« Sie deutete auf eine Zeile unter Désirées und Bernhardines Eintrag.

»G.u.«, murmelte der Pfarrer. Er rückte seine Brille zurecht. »Keine Ahnung.«

»Grab unbekannt«, beantwortete Rufli die Frage. Er lächelte und schüttelte immer wieder den Kopf. »Unglaublich!«, stieß er hervor. »Einfach unglaublich!«

Dann fing er auf eine Weise an zu lachen, dass Anouk es mit der Angst zu tun bekam. Es war das Gelächter eines Irren. Dem Pfarrer schien Ähnliches durch den Kopf zu gehen, denn er verzog irritiert das Gesicht und schaute auf seine Armbanduhr.

»Oh, schon so spät. Ich muss zur Andacht.«

Er klappte den Folianten zu und wollte ihn wieder in den Glasschrank zurücklegen.

»Nicht so schnell, Pfaffe!«, zischte Rufli da leise. »Wir haben’s nicht eilig. Gib mir das Buch!«

Der Pfarrer starrte den Professor ärgerlich an. »Etwas mehr Respekt, Herr Rufli!«, erwiderte er. »Sie sind hier schließlich mein Gast.«

Mit diesen Worten ging er unbeirrt auf den Glasschrank zu.

»Gib mir das Buch, habe ich gesagt!«, schrie der Kurator. Seine Augen waren weit aufgerissen, er keuchte und attackierte den Pfarrer. Der Geistliche presste den Folianten an die Brust und floh zur Tür. Doch der Professor war schneller. Er zog einen Gegenstand aus seiner Sakkotasche heraus, mit dem er dem Pastor auf den Kopf schlug. Der stürzte wie ein gefällter Baum mitsamt dem Register zu Boden. Anouk schrie auf. Eine Pistole! Rufli hatte eine Waffe in der Hand! Ihr wurde eiskalt.

»Heb es auf, Hexe!«, wandte sich der Professor an sie, worauf sich Max sofort schützend vor Anouk stellte.

»Was bezwecken Sie eigentlich mit diesem Theater?«, fragte er forsch, doch Anouk hörte die Unsicherheit in seiner Stimme.

»Theater?« Der Kurator bleckte die Zähne. »Das veranstaltet doch ihr. Wir Ruflis bleiben dagegen immer im Hintergrund. Nur die Morlots müssen sich stets vordrängen. Sie lieben es nun einmal, auf der großen Bühne zu stehen, nicht wahr? Seht her!« Er warf sich in die Brust und riss die Augen auf. »Ich bin eine Morlot! Ich bin die Schönste! Ich bin eine Hure!«

»Sie sind ja vollkommen verrückt«, sagte Max und tippte sich an die Stirn.

Ruflis Augen verengten sich zu Schlitzen. »Ach ja? Dann fällt es wohl auch unter geistige Verwirrung, wenn ich Sie gleich über den Haufen schieße, nicht wahr? So etwas tun Irre doch.«

Er zielte auf Max’ Brust und drückte ab. Der Knall war ohrenbetäubend, und Anouk sah, wie Max’ Gesicht einen verblüfften Ausdruck annahm. Dann fiel er wie ein Stein zu Boden.

»Nein!«, schrie sie und warf sich über ihn. »Du darfst nicht sterben. Max! Max, hörst du mich? Ich liebe dich!«

»Rührend, Anouk, wirklich rührend, aber ich bin in Eile. Also heb das Buch auf und gib es mir.«

Anouks Gedanken jagten. Was sollte sie tun? Hatte sie eine Chance gegen Rufli? Er stand vor der Tür mit einer Pistole in der Hand. Sie saß in der Falle. Ich muss Max helfen! Er atmet noch. Schnell, lass dir etwas einfallen!

Sie bückte sich nach dem Ledereinband und hob ihn auf.

»Sie haben keinerlei Aussicht, wieder heil aus dieser Sache herauszukommen«, sagte sie und versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. »Der Pfarrer und ich werden zur Polizei gehen – man wird Sie verhaften.«

Ein schiefes Grinsen verzerrte Ruflis Gesichtszüge.

»Kleine, naive Anouk. Glaubst du wirklich, dass ich euch beide hier so einfach rausspazieren lasse?« Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte dir mehr Verstand zugetraut. Die Polizei wird drei Leichen finden. Den armen Pfarrer und den armen Doktor, alle beide erschossen von der verwirrten Anouk, die den Tod ihrer besten Freundin nicht verwinden konnte, für den sie verantwortlich ist. In geistiger Umnachtung tötet sie zwei unschuldige Männer und richtet sich am Ende selbst. Klingt doch gut, nicht?«

Anouk keuchte. War das Szenario, das der Professor soeben entworfen hatte, glaubhaft? Würde ihm die Polizei das alles so ohne weiteres abnehmen? Ja, vermutlich. Rufli streckte die Hand nach dem Folianten aus, den Anouk darauf automatisch enger an ihren Körper presste. Wenn sie ihn aus der Hand gab, war ihr Schicksal besiegelt.

»Wir haben Bernhardine gefunden«, schleuderte sie dem Kurator an den Kopf. »In diesen Minuten werden ihre sterblichen Überreste von der Feuerwehr geborgen. Und dann wird ihr Name rehabilitiert. Es hat also keinen Sinn, uns alle umzubringen. Es ist vorbei.«

Der Professor schien ehrlich überrascht, und für einen Moment war sogar ein Anflug von Zweifel in seinem Gesicht zu sehen. Doch sogleich hatte er sich wieder in der Gewalt.

»Und wenn schon. Das sind nur Knochen. Keiner wird sie mit den Hallwyls in Verbindung bringen. Man wird sie im Krematorium einäschern, und aus die Maus.«

Anouk lächelte, obwohl ihr eher zum Weinen zumute war.

»Das denke ich nun wiederum nicht. Schließlich trägt sie ein Schmuckstück, auf dem ihr Name eingraviert ist, um den Hals.«

Der Schlag kam aus heiterem Himmel. Anouks Kopf flog zur Seite und schlug hart gegen ein Holzregal, das Register entfiel ihren Händen, und sie sank zu Boden. Ein heißer Schmerz schoss durch ihren Körper und ließ sie laut aufstöhnen.

»Verdammte Hexe!«, schrie Rufli und fuchtelte mit der Pistole vor ihrer Nase herum. »Ich werde dich töten. Aber glaub nicht, dass es schnell gehen wird. Zuvor wirst du noch lange leiden. Genauso wie Walter.« Er lachte hysterisch. »Mein armer verblendeter Bruder, der wie Johannes, unseres Meisters dummer Bruder, einer Morlot verfallen ist. Alles schwaches Fleisch, das es auszumerzen gilt.« Rufli breitete die Arme aus. »De profundis ad te clamavi. Sic volo, sic ferro ignique ad honorem diaboli iubeo.«

Seine Augäpfel verdrehten sich, bis nur noch das Weiße darin zu sehen war. Plötzlich war es eiskalt im Raum, und Anouk bemerkte, wie sich ihr Atem in blasse Wölkchen verwandelte. Was um Himmels willen ging hier vor? Sie starrte auf Rufli, der sich wand, als ob er schlimme Schmerzen hätte. Unerwartet riss er die Augen auf, und sein Blick ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Es stank auf einmal nach Moder und Verwesung. Der Professor keuchte. Speichel troff aus seinem Mund. Er fletschte die Zähne wie ein Wolf, der Beute wittert. Dann machte er einen unbeholfenen Schritt auf Anouk zu … und wuchs. Wie war das möglich? Sie schloss ihre Augen und öffnete sie wieder. Aber sie war keiner Sinnestäuschung erlegen. Rufli wurde tatsächlich immer größer. Schon reichte sein Kopf bis an die Decke. Jetzt musste er sogar die Schultern einziehen. Anouk starrte entsetzt auf das Ding, das sich ihr näherte. Dann fing sie lauthals an zu schreien.

Rom, 1749

Marie saß auf der Spanischen Treppe und schälte eine Apfelsine. Sie konnte nicht genug von diesen süßen Früchten bekommen und schloss genüsslich die Augen, als sie sich einen Schnitz in den Mund steckte.

Seit nunmehr drei Jahren lebten sie in Rom. In Mailand hatte sie Cornelis den Vorschlag gemacht, getrennte Wege zu gehen. Doch davon hatte der Maler nichts wissen wollen. Er meinte, dass sie viel zu viel zusammen erlebt hätten, als dass der eine ohne den anderen sein könne. Sie war erleichtert über seine Entscheidung gewesen, kannte sie doch weder das Land noch die Sprache seiner Bewohner.

Cornelis hatte hier in Rom ein Engagement am Teatro Argentina als Kulissenmaler ergattern können. Es war nicht unbedingt die Arbeit, die ihm vorgeschwebt hatte, aber er bezog dort wenigstens ein regelmäßiges Gehalt, von dem sie die Miete und das Essen bezahlen konnten. Marie hieß seit drei Jahren Maria van der Hulst und gab sich als Cornelis’ Mutter aus. Es war ihnen klüger erschienen, ihre Namen zu wechseln. Schließlich wussten sie nicht, wie weit der Arm derer von Hallwyl reichte.

Am Fuß der Treppe spielten zwei Kinder. Ein Mädchen mit wilden Locken, wie sie auch Bernhardine und Désirée gehabt hatten. Marie fühlte einen Stich in der Brust. Sie vermisste die beiden. Jeden Tag. Und oft weinte sie sich in den Schlaf, wenn sie an die zwei denken musste. Sie hatte Cornelis gebeten, von Dédée und Dinchen ein Bild zu malen, aber er hatte nur den Kopf geschüttelt. Er male nie ein Porträt doppelt, hatte er gesagt. Nur einmal hätte er diesen Grundsatz gebrochen, und deshalb befänden sie beide sich jetzt in dieser Lage. Marie hatte seine Antwort nicht verstanden.

Die Römerinnen liefen Cornelis in Scharen hinterher, doch er schien jedes Interesse am weiblichen Geschlecht verloren zu haben. Marie seufzte. Das war nicht gut. Sie war in die Jahre gekommen. Irgendwann, vielleicht schon bald, würde sie sterben. Wer würde ihm dann den Haushalt führen? Das warme Klima tat ihren alten Knochen zwar gut, doch sie spürte immer öfter eine Beklemmung in der Brust, die ihr das Atmen schwer machte und sie ängstigte. Doch letzthin war Cornelis nach Hause gekommen und hatte mit blitzenden Augen von einer Signorina Alfieri, der Tochter des Kapellmeisters vom Teatro, gesprochen. Möglicherweise bahnte sich da etwas an. Sie hätte es Cornelis von Herzen gewünscht. Man durfte nicht in der Vergangenheit leben, weil man sonst die Gegenwart darüber vergaß. Vom Kirchturm der Santa Trinità dei Monti schlug es die vierte Stunde. Es wurde Zeit.

Marie erhob sich und ging die Treppe hinab. Sie strich dem Mädchen mit den wilden Locken zärtlich über den Kopf, kämpfte die Tränen nieder und verschwand in der Menschenmenge.

Die Frau in Rot: Roman
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