6
Seengen, 2010
Beeil dich, Tati. Wir kommen sonst zu spät!«
Anouk stand vor dem BMW ihrer Großtante, kaute auf ihrer Unterlippe herum und beäugte den Wagen argwöhnisch, als würde er sie gleich anspringen und seine Zähne in ihr Fleisch schlagen. Sie trug ein eng anliegendes, schwarzes Cocktailkleid, das sicher zu festlich für den heutigen Anlass war, ihren schlanken Körper jedoch hervorragend zur Geltung brachte. Ihre roten Locken hatte sie lässig hochgesteckt, eine schmale Goldkette mit einem tropfenförmigen Perlenanhänger zierte ihren Hals. Es war ein Familienerbstück, das seit Generationen von den weiblichen Mitgliedern der Familie Morlot getragen und weitergegeben wurde.
Anouk ging um den Wagen herum, strich mit einem Finger über den Lack und schluckte. Sie öffnete die Fahrertür, spähte in den Innenraum wie ein Ritter in eine Drachenhöhle und atmete tief durch. Dann setzte sie sich hinters Lenkrad und schloss vorsichtig die Hände um das glatte Leder. Ein Schweißtropfen rann zwischen ihren Brüsten hinab. Sie schauderte. Ich schaffe das einfach nicht!, dachte sie verzweifelt.
Innerhalb von Sekunden verwandelten sich ihre Finger in Eiszapfen, ihr wurde übel, und sie atmete stoßweise. Anouk stürzte aus dem Wagen. Keuchend, als hätte sie eben einen Hundertmeterlauf absolviert, stand sie neben dem Auto und versuchte, die Panik wegzuatmen.
»Tatatataaa! Wie sehe ich aus?«
Auf den Eingangsstufen stand Valerie Morlot und deutete einen Hofknicks an. Der Anblick war so surreal, dass Anouk hysterisch zu lachen begann.
»Tati, entschuldige bitte!«, japste sie und strich sich die Lachtränen aus den Augen. »Aber … entweder platze ich gleich, oder ich muss mich übergeben.«
Ihre Großtante hob konsterniert die Augenbrauen, schüttelte dann den Kopf und schritt die Stufen hinab. Das Kleid – auf dem Bügel noch ein gelber Alptraum – stand ihr ausgezeichnet. Sie sah darin wie eine ältere Version der französischen Königin Marie-Antoinette aus. Sogar das Schönheitspflästerchen auf ihrer Wange passte wie die Faust aufs Auge.
»Du siehst ganz entzückend aus, Tati«, sagte Anouk, als sie sich von ihrem Lachanfall erholt hatte. Ihr Bauch schmerzte, und sie hatte Seitenstechen. »Wirklich! Ich wage dich kaum zu duzen.«
Valerie lächelte geschmeichelt, nahm den Fächer, der an ihrem Handgelenk baumelte, und schlug ihn auf.
»Vielen Dank, Liebes«, erwiderte sie und versteckte ihr Gesicht kokett hinter dem Gebilde aus Reispapier und Spitzen. »Und jetzt starten wir die Operation: Reifrock im BMW!«
Nachdem sie versucht hatten, Valerie zunächst auf dem Vorder-, danach auf dem Rücksitz unterzubringen, und beide Male kläglich gescheitert waren, klappte Anouk kurzerhand die Rückbank nach vorne. Sie breitete eine Wolldecke auf der dadurch entstandenen Fläche aus, auf der ihre Großtante nun bequem Platz fand. Während dieser Aktion alberten sie wie Teenager herum und kamen tüchtig ins Schwitzen.
»Lass bitte die Klimaanlage laufen, Liebes! Ich bekomme gleich einen Hitzekollaps in dem Fummel«, stöhnte ihre Großtante und fächelte sich hektisch Luft zu. Anouk setzte sich wieder hinters Steuer. Sie schloss einen Moment die Augen, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor.
»Du schaffst das, Anouk«, sprach ihr Valerie Mut zu. »Glaub an dich!«
Anouk versuchte zu lächeln, brachte aber nur eine Grimasse zustande.
»Ja, ich schaff das«, murmelte sie, »es ist ganz leicht. Kupplung, erster Gang, Gas.« Mit einem Satz schoss der Wagen nach vorne. Valerie stieß einen spitzen Schrei aus. »Entschuldige«, sagte Anouk kleinlaut und zog den Kopf zwischen die Schultern. »Ich bin wohl etwas aus der Übung.«
»Kein Problem, Schatz«, tönte es von hinten, und im Rückspiegel sah sie, wie sich ihre Großtante die weiße Lockenperücke wieder zurechtrückte.
Sobald Anouk auf die Hauptstraße eingebogen war, entspannte sie sich ein wenig. Ganz automatisch betätigte sie Blinker, Kupplung und Gangschaltung. Gott sei Dank herrschte nur wenig Verkehr. Nach knapp zehn Minuten erreichten sie den Parkplatz des Schlosses, der nahezu vollständig belegt war. Mit einem hässlichen Geräusch würgte sie den Motor ab, legte die Stirn aufs Lenkrad und versuchte, ihren Herzschlag unter Kontrolle zu bringen.
»Ging doch wunderbar, Liebes«, rief ihre Großtante fröhlich, »und jetzt hilf mir aus dem Vehikel! Ich möchte nicht, dass das Kleid noch mehr zerknittert.«
Das Publikum hatte sich in Schale geworfen, so dass Anouk letztendlich froh um ihr elegantes Cocktailkleid war. Ihre Tante erregte wie erwartet großes Aufsehen. Sie schien es zu genießen, neigte huldvoll den Kopf nach allen Seiten, bot einem Bekannten die behandschuhte Hand zum Kuss und lächelte hinter ihrem Fächer hervor wie eine Geisha beim traditionellen Kirschblütentanz.
Die Dämmerung kroch über den See, und die Menschen vor dem Schlosstor setzten sich in Bewegung. Anouk reichte ihrer Großtante den Arm, und zusammen schritten sie über die Steinbrücke durchs weit geöffnete Eingangstor.
Im Hof des Schlosses hielt Anouk Ausschau nach Max, konnte seinen braunen Haarschopf in der Menge jedoch nirgendwo entdecken. Valerie suchte unterdessen nach den Eintrittskarten in ihrem gelben Tüllbeutel. Der Kontrolleur, ein Mann in klobigen Holzpantinen, weißem Hemd und grauer Kniehose, drückte ihnen je ein Glas Champagner in die Hand, und nachdem sie das prickelnde Getränk getrunken hatten, nahmen sie ihre Plätze in der dritten Reihe ein. Valerie versuchte, sich so hinzusetzen, dass ihr der Reifrock nicht den Blick auf die Bühne versperrte. Doch der klappte bei jedem Kontakt mit der Sitzfläche sofort nach oben und zeigte ein Stück ihrer spitzenbesetzten, knielangen Unterhose. Das Gelächter ringsum war Anouk peinlich. Sie machte sich so klein wie möglich. Valerie fand die Situation dagegen eher erheiternd. Nachdem ein hilfreicher Galan ihr den ganzen Tüll samt Spitze und Damast unter den Stuhl geklemmt hatte, konnte schließlich auch ihre Großtante einen freien Blick auf die Bühne genießen.
Die Sonne ging als glühender Feuerball zwischen den dicken Eichen des Schlossparks unter. Fast augenblicklich begannen Hunderte von Zikaden mit ihrem monotonen Gezirpe. Valerie förderte ein Mückenspray zutage, sprühte sich kräftig damit ein und reichte es dann an Anouk weiter. Die musste sich ein Lachen verbeißen. Man konnte ihrer Großtante vieles nachsagen, aber wenn es um praktische Dinge ging, war sie unerreicht. Plötzlich flammte ein Scheinwerfer auf und warf einen hellen Lichtkegel auf die niedrige Holzbühne. Das Gemurmel des Publikums erstarb. Das Orchester, das sich bislang noch in einem Zelt links neben der Bühne befunden hatte, nahm nun seinen Platz ein und stimmte die Instrumente. Anouk schaute auf die Uhr. Der Stuhl neben ihr war immer noch leer. Ärzte und ihre Notfälle!
In den nächsten Minuten vergaß sie jedoch Max Sandmeier, wie sie auch fast vergaß, wo sie sich befand. Die Musik nahm Anouk auf der Stelle gefangen. Die Melodie und vor allem die Stimme der Sopranistin berührten sie auf eine intime Weise. Es war, als kenne sie diese Musik schon seit langem, als wären diese Töne nur in ihr verschüttet gewesen und als hätte es bloß einiger weniger Akkorde bedurft, um sie wieder ans Tageslicht zu bringen.
Ein Kribbeln zog sich über Anouks Rückgrat, als ob eine Schar Spinnen daran entlangziehen würde. Sie schüttelte sich, und in diesem Moment sah sie die Gestalt auf der Mauer. Rechts von ihrem Platz befand sich ein Aluminiumgerüst, auf dem zuoberst verschiedene Scheinwerfer angebracht waren. Gleich dahinter erhob sich die Außenmauer des Schlosses mit seinen quaderförmigen Zinnen. Zuerst dachte Anouk, es würde sich um eine Spiegelung der Sopranistin handeln. Doch im Gegensatz zu der in Hellblau gewandeten Sängerin trug die Gestalt auf der Mauer ein tief ausgeschnittenes, feuerrotes Kleid, dessen Schnitt Anouk ein wenig an das Kostüm erinnerte, das ihre Großtante an diesem Abend trug. Ihre langen Locken fielen ihr ungezähmt über den Rücken. Sie war barfuß und winkte Anouk lächelnd zu.
Die riss die Augen auf und blinzelte. Sie beugte sich etwas weiter nach vorne. Hatte die Frau den Verstand verloren? Was hatte sie dort oben denn überhaupt zu suchen? Gehörte das eventuell mit zur Aufführung? Anouk warf einen Blick ins Publikum. Doch bislang schien keiner der Anwesenden die Frau in Rot auf den Zinnen bemerkt zu haben. Aller Augen waren auf die Bühne gerichtet. Anouk schüttelte den Kopf und blickte erneut zur Außenmauer empor. Die Frau stand noch immer dort oben, hob noch einmal die Hand, presste die andere an ihre Brust und ließ sich dann einfach rücklings ins Nichts fallen.
»Nein!«
Anouk sprang auf. Ihre Handtasche flog im hohen Bogen durch die Luft. Valerie schrie erschrocken auf und griff sich ans Herz. Der Gesang der Sopranistin brach mit einem Misston ab. Das Orchester spielte noch ein paar Takte weiter, hörte dann aber ebenfalls abrupt auf. Ein paar Köpfe drehten sich in Anouks Richtung.
»Himmel, was ist denn?« Tati Valerie blickte mit weit aufgerissenen Augen zu ihr hoch. »Du hast mich zu Tode erschreckt!«
Anouk deutete mit ausgestrecktem Arm zu den Zinnen hinauf. »Dort … eine Frau«, stammelte sie, »sie ist hinuntergefallen!«
Ein allgemeines Gemurmel setzte sein. Diejenigen, die nicht verstanden hatten, was sie gesagt hatte, reckten ihre Hälse. Der Mann neben Valerie erhob sich.
»Eine Frau?«, fragte er ungläubig und spähte zur Mauer hinüber.
»Ja, in einem roten Kleid. Sie ist von den Zinnen ins Wasser gestürzt!« Anouk war kreidebleich geworden und fühlte auf einmal den Champagner in ihren Eingeweiden rumoren.
»Sind Sie sicher?« Der Mann schaute sie skeptisch an. »Wie sollte sie dort hinaufgekommen sein? Die Außenmauer besitzt, wie Sie sehen, keinen Wehrgang und ist auch sonst von nirgendwoher zugänglich. Außer von den Zimmern des Schlosses aus kann die Frau nur über das Gerüst mit der Lichtanlage dorthin gelangt sein. Und das hätte gewiss irgendwer im Publikum bemerkt.«
»Natürlich bin ich mir sicher«, flüsterte Anouk resigniert. Ihre Lippen bebten, und sie zitterte am ganzen Körper.
»Setz dich, Liebes!«, sagte Valerie und griff sanft nach ihrem Arm. »Jemand wird nachsehen, einverstanden?«
Anouk ließ sich auf ihren Sitz fallen und nickte. Ein Herr in Krawatte und Anzug gesellte sich zum Sitznachbarn ihrer Großtante, und die zwei flüsterten miteinander. Der Krawattenträger lauschte, warf Anouk und Valerie einen prüfenden Blick zu und schüttelte dann den Kopf. Als der andere weiter auf ihn einredete, verdrehte er die Augen. Die beiden lachten, der Herr im Anzug klopfte dem Sitznachbarn auf die Schulter und entfernte sich wieder.
»Das ist der Obermufti hier. Ich kenne ihn«, sagte Valerie und deutete mit dem Kopf auf den Davoneilenden. »Ein richtiger Volltrottel. Dem habe ich einmal ein totes Huhn in den Briefkasten gelegt. Seitdem hält er mich für meschugge.«
Anouk schaute ihre Großtante entgeistert an. »Warum, in Gottes Namen, hast du das denn getan?«
Valeries Miene verfinsterte sich. »Er betreibt eine Hühnerfarm und hält sich nicht an die Vorschriften des Tierschutzes. Die Käfige dort haben die Größe einer Postkarte.«
Anouk verschlug es die Sprache. Keiner hier würde ihren Beobachtungen Glauben schenken. Die hielten sie jetzt vermutlich für genauso verrückt wie Tati Valerie.
»Aber es war nur ein tiefgekühltes«, fügte ihre Großtante mit einem verschmitzten Lächeln hinzu, »keine Angst.«
»Das war der Bühnenleiter«, bestätigte der Sitznachbar Valeries Aussage. »Er wird jemanden mit einem Boot zu der Stelle vor der Schlossmauer schicken. Er hat mir aber noch mal versichert, dass es keinen Aufgang zu den Zinnen gibt. Vielleicht haben Sie sich ja getäuscht.«
Anouk fror plötzlich und rieb sich die nackten Arme.
»Ich habe mich nicht getäuscht!«, widersprach sie energisch. »Ich sah eine Frau, die von dort oben hinuntergestürzt ist.«
Der fremde Mann schaute sie nach wie vor zweifelnd an. Währenddessen wurden die Konzertbesucher langsam unruhig. Einige erhoben sich und riefen, man solle doch weitermachen. Jemand begann zu buhen, und einer warf sogar einen Pappbecher auf die Bühne. Der Intendant lief mit ausgebreiteten Armen auf das Podest, verbeugte sich und erzählte etwas von einem technischen Defekt. Es werde gleich weitergehen, sagte er und verschwand hinter den Kulissen.
Technischer Defekt? Anouk lächelte bitter. Ein Psychologe hätte das hübscher formuliert. Nach wenigen Augenblicken betrat die aufgeputzte Sängerin wieder die Bühne, und das Konzert wurde fortgesetzt. Jemand reichte Anouk ihre Handtasche, und die Köpfe aller drehten sich wieder nach vorne.
»Geht’s denn, Schatz?«, flüsterte ihre Großtante und beugte sich unauffällig zu Anouk hinüber. »Oder möchtest du lieber nach Hause?«
»Schon okay, Tati«, presste Anouk hervor. »Ich muss nur mal kurz auf die Toilette, entschuldige.«
Ihre Großtante nickte. Anouk ging in gebückter Haltung die Stuhlreihe entlang und ignorierte das Geflüster hinter ihrem Rücken. Sie ließ die Waschräume jedoch links liegen, lief am Kartenhäuschen vorbei und drückte auf den Riegel des Eingangstores. Es war nicht verschlossen. Sie huschte hinaus, setzte sich auf eine niedrige Mauer und zündete sich eine Zigarette an.
Was zum Teufel war da eben passiert? Hatte sie nach der Frauenstimme am Wassergraben, den altmodischen Gedichten, die Tati und die Schülerin rezitiert hatten, jetzt auch noch eine Erscheinung gehabt? Wurde sie langsam verrückt? Sie rauchte in hastigen Zügen und wartete darauf, dass ein Boot zu Wasser gelassen wurde. Doch das einzige schwimmende Objekt war ein Stück Holz, das gemütlich im Burggraben an ihr vorbeitrieb.
Es würde niemand mehr kommen, um nachzusehen. Valerie Morlots Taten warfen ihre Schatten. Anouk begann zu lachen, obwohl ihr eher zum Weinen zumute war. Dann straffte sie die Schultern. Sie musste eben selbst aktiv werden! Auch wenn am Horizont nur noch ein blasser Lichtstreif schimmerte, würde eine Frau in einem roten Kleid doch sicher im Wasser zu erkennen sein. Riesige Scheinwerfer strahlten die Schlossmauern an verschiedenen Stellen an. Wenn sie Glück hatte, wäre dort, wo sie die Springerin vermutete, einer angebracht.
»Danke fürs Warten … das wäre aber nicht nötig gewesen.«
Anouk erschrak. Die Zigarette fiel ihr aus der Hand und brannte ein Loch in ihr Cocktailkleid.
»Mist!« Sie sprang auf und schlug hektisch auf den kokelnden Stoff. »Musst du mich denn so erschrecken, Max?«
Er trug einen dunklen Anzug und machte ein zerknirschtes Gesicht. Seine Haare glänzten feucht, als wäre er gerade erst aus der Dusche gekommen. Sie konnte sein Aftershave riechen: Zimt und Sandelholz. Er hob entschuldigend die Hände.
»Verzeih, ich dachte, du würdest hier auf mich warten.«
»Warum sollte ich das tun?«, entgegnete sie süffisant. »Du bist doch bloß der Arzt meiner Großtante.«
Max senkte seinen Blick und fixierte den Kiesboden zu seinen Füßen. »Ja, genau. Du hast recht. Und auch noch verspätet.«
Sie hatte ihn offensichtlich verletzt und schämte sich ob ihrer harschen Reaktion. Aber er hatte auch wirklich ein Talent, immer im ungelegensten Moment aufzutauchen.
Anouk holte tief Luft: »Hör zu, Max, es tut mir leid, dass ich so ungehalten reagiert habe, aber ich bin ein wenig von der Rolle.« Einen Augenblick zögerte sie, dann gab sie sich einen Ruck. »Ich denke, es ist an der Zeit, dir etwas zu erzählen.«
Mit ausholenden Gesten berichtete Anouk ihm von körperlosen Stimmen, der Erscheinung einer Frau auf den Zinnen und dem unbestimmten Gefühl, dass ihr jemand mit alldem etwas Wichtiges mitteilen wollte. Max hörte ihr stumm zu und ging im Geiste die Artikel in seinem Fachbuch über Unfalltraumata durch. Von syndromalen Störungen wurde darin berichtet, von Übererregungssymptomen wie Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit und Alpträumen. Ob Anouk daran litt? Er war kein Fachmann auf diesem Gebiet, und lediglich anhand eines Buches eine Diagnose zu stellen war weder professionell noch hilfreich für den Betroffenen. Und weshalb wollte er ihr eigentlich helfen? Interessierte sie ihn als Patientin oder als Frau? Du bewegst dich auf mehr als dünnem Eis, dachte er bei sich.
»Hörst du mir eigentlich zu?«
Anouk funkelte ihn aus ihren grünen Augen an und stemmte die Hände in die Hüften.
Max räusperte sich. »Ja, natürlich«, erwiderte er schnell. »Und? Was hältst du davon? Glaubst du mir, oder denkst du vielmehr, dass ich verrückt bin?«
»Würden Sie bitte etwas leiser sein. Sie stören die Aufführung!«
Der Kartenkontrolleur war unbemerkt zu ihnen getreten, schüttelte missbilligend den Kopf und enthob Max damit einer Antwort, wofür dieser alles andere als undankbar war. Er hätte auf die Schnelle keine adäquate Antwort auf Anouks Frage gewusst.
»Selbstverständlich«, sagte er und zog Anouk am Arm vom Eingangsbereich des Schlosses weg. »Komm«, meinte er, »lass uns einfach nachsehen gehen!«
Stöckelschuhe waren ein Muss in der Zürcher Schickeria, aber für einen dunklen Park ein äußerst ungeeignetes Schuhwerk. Wäre Anouk mutiger gewesen, hätte sie die Riemchensandaletten ausgezogen, aber sie fürchtete sich davor, auf ein Insekt zu treten.
Atemlos und ohne Pause hatte sie Max von der Frauenstimme, den Versen und der Gestalt auf den Zinnen erzählt. Zuerst hatte sie gesehen, dass er sich das Lachen verbeißen musste, und ihm einen schmerzhaften Boxhieb verpasst, aber mit der Zeit hatte er immer interessierter zugehört und sogar ab und zu eine Zwischenfrage gestellt. Jetzt stolperten sie durch den Park, um die Stelle zu finden, an der die Frau von der Mauer ins Wasser gesprungen war. Ein Boot hatten sie nirgendwo entdecken können, weshalb Anouk den Intendanten in Gedanken verwünschte.
Obwohl ein Fußweg um das ganze Schloss herumführte, bog dieser genau an der Stelle in die angrenzende Wiese ab, wo die Zinnenwandlerin auf der Mauer gestanden haben musste. Das Konzert war immer noch in vollem Gange. Die Musik sprühte in die Sommernacht hinaus wie ein Springbrunnen aus gewirkten Tönen. Einen Moment dachte Anouk an ihre Großtante und ob sie sich wohl Sorgen um sie machte.
»Gib mir deine Hand … hier liegt ein umgestürzter Baum.«
Max streckte den Arm aus, und Anouk tastete nach seinen Fingern. Er hatte einen festen Griff und zog sie mühelos über den Baumstamm. Sie spürte ein Kribbeln im Bauch und räusperte sich.
»Danke! Das nächste Mal montiere ich mir am besten ein paar Steigeisen.«
Die Nordfassade des Schlosses wurde von gewaltigen Scheinwerfern angestrahlt. Ihr grelles Licht warf scharfe Schatten an die Außenwand. Deren wenige Fenster wirkten wie tote Augen, abweisend und unheilvoll, als hätten sie ein dunkles Geheimnis zu hüten. Anouk konzentrierte sich auf das unwegsame Gelände. Am Südportal, hinter dem das Konzert stattfand, waren die Lichter ausgeschaltet, um die Aufführung nicht zu stören, und nur ein blasser Widerschein fiel aufs Wasser.
Sie hatten den ganzen rückwärtigen Teil des Schlosses umrundet; Verlies-, Wohn- und den sogenannten Archivturm passiert und standen jetzt gegenüber den Zinnen, auf denen Anouk die Gestalt erblickt hatte. Direkt vor ihnen tat sich der fünf Meter tiefe Schlossgraben auf. Dass sich auf seinem Grund Wasser befand, konnte man nur sehen, wenn man sich nach vorne beugte. An dieser Stelle befand sich auch kein Geländer, wie es entlang des Fußweges angebracht worden war, um tollpatschige Touristen vor einem Absturz zu bewahren. Nur ein Dummkopf würde auf die Idee kommen, sich dem Schloss von dieser Seite aus zu nähern. Und davon gab es nun gleich zwei: ein arbeitsloses Fotomodell und einen Theater spielenden Dorfarzt.
»Pass bloß auf, dass du nicht stolperst!«, warnte Max, der vorsichtig in den Abgrund spähte.
Anouk enthielt sich einer sarkastischen Bemerkung und suchte die Wasseroberfläche ab. Nichts! Weder ein rotes Kleid noch ein treibender Körper. Im Schlossgraben gab es so gut wie keine Strömung. Er führte während der Sommermonate nur wenig Wasser. Wenn also jemand in ihn hineingefallen war, konnte er nicht einfach so weggeschwemmt worden sein. Weiter unten zog der Aabach, der das ganze Gemäuer umfloss, an einer Mühle vorbei, die früher zum Schloss gehört hatte. Beim Vorbeigehen hatte Anouk einen eisernen Rechen bemerkt, der Treibholz und schwere Gegenstände vom Mühlrad fernhielt.
»Der Rechen!«, riefen Max und Anouk gleichzeitig und fingen dann schallend an zu lachen.
»Das ist es«, sagte Max, »wenn etwas in den Schlossgraben gefallen ist, muss es dort festhängen.«
Anouk blieb das Lachen im Hals stecken. Etwas? Er hatte nicht von einem Menschen gesprochen. Glaubte er ihr etwa nicht? Und hatte sie tatsächlich eine Frau gesehen? Sie war sich plötzlich nicht mehr so sicher. Aber die Gestalt hatte ihr doch zugewinkt. Und sogar dabei gelächelt. Das konnte unmöglich ein Schatten oder eine Spiegelung gewesen sein. Anouk strich sich müde eine Locke aus der Stirn und berührte dabei ihre Narbe. Ob das die Spätfolgen des Unfalls waren? Flatterte irgendeine Synapse wie ein loses Segel in ihrem Gehirn herum und versuchte krampfhaft, wieder einen Kontakt herzustellen? Konnte sie deshalb Traum und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten?
»Alles in Ordnung?«
Max berührte behutsam ihre Schulter. Zuerst wollte Anouk seine Frage einfach bejahen, doch sie entschied sich dagegen. Was nutzte es, ihm etwas vorzumachen? Er war Arzt, vielleicht litt sie ja wirklich an einem posttraumatischen Unfallsyndrom, und er konnte ihr helfen.
»Denkst du, ich bin verrückt?«, fragte sie unsicher, und Max räusperte sich leise. »Ein einfaches ›Nein‹ hätte es auch getan«, versuchte Anouk zu scherzen.
»Hör zu, Anouk! Ich bin kein Psychiater und auch kein Neurologe. Deine Großtante hat mir von dem Unfall deiner Freundin erzählt und …«
»Toll!«, unterbrach sie ihn unwirsch. Was fiel ihrer Großtante denn nur ein, mit Max über den Crash zu reden? Das ging niemanden etwas an! Anouk spürte Wut in sich aufsteigen. »Was hat sie sonst noch so alles ausgeplaudert? Dass ich Drogen nehme? Eine Alkoholikerin bin und auf Sadomaso stehe?«
Ihre Stimme hatte einen harten Klang angenommen, und sie bereute es zutiefst, Max überhaupt etwas von ihren Problemen erzählt zu haben.
Statt einer Antwort griff er fest nach ihrem Arm und riss sie zu sich herum.
»So, jetzt reicht’s mir aber langsam! Alles, was ich sage oder mache, ziehst du entweder ins Lächerliche oder schnappst danach wie eine Klapperschlange nach der Maus. Ich habe echt die Schnauze voll von deinem Verhalten! Ich finde dich anziehend, und du hast etwas im Kopf. Eine Mischung, der ich nur schwer widerstehen kann, aber alles hat seine Grenzen. Entweder vertraust du mir, oder der Teufel soll dich holen!«
Er ließ ihren Arm so schnell los, wie er ihn gepackt hatte, als hätte er sich an einem glühenden Eisen verbrannt. Anouk konnte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, aber sie hörte, dass er heftig ein- und ausatmete.
»Du findest mich anziehend?« Ihre Wut verpuffte augenblicklich.
»Ja, verdammt noch mal!«
»Tolle Wortwahl, Herr Doktor.«
Als er sich knurrend abwandte, stieg ihr der Duft seines Aftershaves in die Nase. Anouk hörte das leise Glucksen des Wassers in der Tiefe, spürte die warme Luft der Sommernacht über ihre nackte Haut streichen und fühlte sich auf einmal überaus lebendig. Er mochte sie! Ein leichtes Flattern in ihrer Magengegend ließ sie lächeln. Sie hatte sich also nicht getäuscht, dass er ihr Gefühle entgegenbrachte. Und sie? Ging es ihr ähnlich? Wollte sie das überhaupt? Anouk wusste es nicht, sie wusste nur, dass sie ein heftiges Verlangen verspürte, ihn zu berühren.
Max’ Silhouette hob sich nur schemenhaft gegen die Dunkelheit ab, doch klar genug. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und zog sein Gesicht zu sich heran. Sie waren praktisch gleich groß. Einen Moment standen sie einander stumm vis-à-vis. Dann berührten sich ihre Lippen. Erst zart, dann immer leidenschaftlicher, bis sie sich schließlich keuchend voneinander lösten.
Anouk war überrascht, wie heftig sie auf Max’ Kuss reagiert hatte, und froh, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Ihm schien es ähnlich zu gehen, denn er räusperte sich mehrmals, bevor er mit belegter Stimme sagte: »Wir sollten jetzt den Rechen kontrollieren.«
Im Schloss brandete Applaus auf. Das Konzert war vorbei.
Schloss Hallwyl, Dezember 1746
»Cornelis van Cleef«, murmelte Bernhardine und betonte dabei jede Silbe einzeln. Sie saß in ihrem Boudoir, nippte an einer Tasse Tee und ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen. Dessen Wände waren mit einer französischen Seidentapete bezogen. Eine zierliche Sitzgruppe stand unterhalb des Erkerfensters. Das Spinett aus Italien mit der gepolsterten Sitzbank rundete die Einrichtung ab.
Was für ein fesches Mannsbild dieser Holländer doch war! In seinen himmelblauen Augen konnte man regelrecht versinken. Er trug seine braunen, gelockten Haare lang. Eine Perücke zu tragen, lehnte er ab. Das sei, so sein Kommentar, nicht mehr in Mode. Die ginge jetzt wieder mehr in Richtung Natürlichkeit.
Bernhardine fand diese modische Strömung zwar äußerst charmant, aber etwas exzentrisch. Ohne Perücke? Sie, mit ihren roten Locken? Niemals! Am Ende würde man noch ohne Hut und Korsett aus dem Haus gehen. Sie kicherte.
Cornelis’ perfekt gestutzter Bart und sein klassisches Profil hätten so manch griechischen Gott vor Neid erblassen lassen. Seine Umgangsformen waren tadellos, sein Französisch exquisit, und seine Bilder … Bernhardine seufzte. Der Mann war über alle Zweifel erhaben! Johannes mochte den Holländer, der ihm von einem Bekannten empfohlen worden war, zwar nicht und hatte schon einige abfällige Bemerkungen über ihn gemacht. Doch sie ließ nichts auf den Maler kommen, ein Umstand, der am gestrigen Abend zu einem fürchterlichen Streit zwischen den Eheleuten geführt hatte. Johannes hatte daraufhin das Schloss verlassen und war die ganze Nacht über fortgeblieben. Bernhardine schürzte die Lippen. Sollte der alte Mann doch fernbleiben! Am besten für immer! Sie verabscheute ihren Gatten. Sein schwammiges, überquellendes Fleisch, seinen stinkenden Atem und die knorpeligen Wucherungen an seinen Gelenken, die von der Gicht herrührten. All das verursachte ihr Brechreiz. Jedes Mal, wenn er ihr beiwohnte, musste sie sich zusammenreißen, um ihn nicht mit einem Laut des Abscheus von sich zu stoßen. Gott sei Dank kam er nur noch selten in ihr Bett. Wahrscheinlich vergnügte er sich zurzeit wieder mit irgendeiner drallen Bauerntochter, wie er es bereits während ihrer Schwangerschaften getan hatte. Umso besser! Auf diese Weise hatte sie wenigstens ihre Ruhe.
Im Gegensatz zu Johannes sah Cornelis Michelangelos David ähnlich. Wie süß müsste es sein, in seinen Armen zu liegen!
Bernhardine erschrak bei diesem Gedanken, und ihre Hand zitterte. Etwas Tee schwappte über die Porzellantasse, tropfte auf ihr Kleid und hinterließ einen bräunlichen Fleck.
»Bien fait!« Gut gemacht!
Sie setzte sich ans Spinett und ließ ihre Finger gedankenverloren über die Tasten gleiten. Es war erst drei Uhr nachmittags, aber bereits um diese Zeit zog sich das Licht, das sich den ganzen Tag über nicht richtig hervorgetraut hatte, zurück. Die grauen Wolken hockten wie eine Horde Krähen knapp über den Baumwipfeln und spotteten der frühen Stunde.
Als die Magd ins Zimmer trat, um Holz nachzulegen, befahl ihr Bernhardine daher, die Kerzen anzuzünden. Sie versuchte sich am »Wohltemperierten Klavier« von Bach, gab nach ein paar misstönenden Akkorden jedoch auf. Für wen sollte sie ihre Spielkunst auch verfeinern? Johannes machte sich nichts aus Musik, die Kinder waren noch zu klein, und die wenigen Gäste, die sie empfingen, waren mehr am Essen und Trinken interessiert als an gehobener Kammermusik.
Bernhardine holte tief Luft. Womit hatte sie ein solch tristes Leben nur verdient? Sie stand auf, trat vor das Bücherregal und griff nach Sidonia Zäunemanns Buch. Seit sechs Jahren war ihre Lieblingsdichterin nun schon tot – ertrunken in der Gera. Ob sie aus freiem Willen aus dem Leben geschieden war? Bernhardine fröstelte und setzte sich an den Kamin. Als sie den Band aufschlug, fiel eine gepresste Kornblume heraus. Sie riss verblüfft die Augen auf und bückte sich geschwind nach dem filigranen Gebilde. Sie hatte den Poesieband an Cornelis ausgeliehen. Die Trockenblume musste also von ihm sein.
Eine Kornblume. Die Pflanze bedeutete: Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Bernhardine errötete und atmete schneller. Sie würde ebenfalls hoffen. Auf irgendetwas. Vielleicht gab Gott ihr ein Zeichen.
Désirée quengelte seit einer halben Stunde und war nicht zu beruhigen. Bernhardine wurde langsam ärgerlich. Cornelis zeigte seinen Unmut nur durch das spöttische Heben einer Augenbraue, ansonsten versuchte er, ihre Tochter mit allerlei Späßen und lustigen Grimassen bei Laune zu halten, doch dem Trotzkopf war nicht beizukommen.
»Madame«, wandte sich der Maler zu guter Letzt an Bernhardine, »ich glaube, für heute kommen wir nicht weiter.«
Er verzog den Mund zu einem entschuldigenden Lächeln und legte Pinsel und Palette neben die Staffelei auf die Kommode, die mit einem Tuch abgedeckt war und behelfsmäßig als Tisch diente. Der Raum, der zu einem Atelier umgewandelt worden war, befand sich im Archivturm. Die vielen Kerzen hatten ihn aufgeheizt. Die Luft war geschwängert vom Geruch der Farben und von Terpentinöl.
Van Cleef zog seinen Arbeitskittel aus und strich sich mit seinem Halstuch über die glänzende Stirn. Er trug ein weißes Leinenhemd, das über seiner Brust offen stand. Die weiten Ärmel hatte er bis über die Ellbogen hochgekrempelt. Seine langen Beine steckten in engen, braunen Hosen. Bernhardine merkte, dass sie den Holländer anstarrte, und wandte hastig den Kopf. Sie griff nach der Klingel und läutete nach Marie.
»Nimm die Kleine mit!«, befahl sie, als ihre alte Amme eintrat. »Und keine Süßigkeiten! La Demoiselle war ungezogen.«
Marie hob Désirée mit einem Keuchen hoch. »Du Racker«, schimpfte sie, lächelte aber dabei, »du wirst ja immer schwerer. Nicht mehr lange, Dédée, und du musst die alte Marie tragen.«
Désirée kicherte, und Bernhardine verdrehte die Augen.
»Sprich gefälligst Französisch mit ihr!«, befahl sie. »Wie soll sie die Sprache denn sonst lernen? Ces domestiques, incroyable!« Ihre Bediensteten benahmen sich einfach unglaublich! Bernhardine erhob sich vom Diwan und schlug in gespielter Verzweiflung die Hände zusammen.
Cornelis lachte schallend. »Entschuldigt bitte meine Ungezogenheit, Madame, aber Dienstboten muss man mit harter Hand führen, sonst tanzen sie einem auf der Nase herum. Schaut mich an …!« Er machte ein paar elegante Tanzschritte, verbeugte sich formvollendet und grinste sie frech von unten herauf an. »Also straft mich, verehrte Herrin.«
Bernhardine schmunzelte und griff nach ihrem Fächer. Ihr war auf einmal heiß, und sie spürte, wie ihr Herz heftig zu schlagen begann. Das tief ausgeschnittene Kleid mit dem engen Korsett, das sie extra für das Porträt hatte anfertigen lassen, schnürte ihr die Luft ab. Schweißtröpfchen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet, die sie sich mit einem Spitzentaschentuch verstohlen abtupfte. Sie trat an das bleiverglaste Fenster und öffnete den Riegel. Kalte Winterluft strömte ins Zimmer und ließ die Kerzenflammen flackern. Die Luft roch nach Schnee. In drei Wochen war Weihnachten – das Fest der Liebe. Auf einmal schossen ihr die Tränen in die Augen. Liebe? Was für ein Wort! Sidonia hatte gewusst, wie sich Liebe anfühlte, sie hatte in ihren Gedichten darüber geschrieben. Aber was war mit ihr, Bernhardine? Würde sie je wissen, was dieses Wort, dieses Gefühl wirklich bedeutete? Oder würde sie in diesem verlotterten Schloss sterben, mit einem vertrockneten Herzen und der Erkenntnis, dass etwas Großes an ihr vorübergegangen war?
»Madame? Ist Euch nicht wohl?«
Cornelis war hinter sie getreten. Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken, spürte die Wärme seines Körpers, atmete seinen Geruch ein. Gänsehaut überzog ihre Haut, und sie schauderte. Sie drehte sich mit einem Lächeln um und wollte ihm sagen, dass nichts sei. Dass es ihr gut gehe, bloß eine leichte Unpässlichkeit, ein Frauenleiden; dass morgen schon wieder alles in Ordnung wäre. Doch sie brachte kein Wort über die Lippen. Sie sah nur Cornelis’ blaue Augen, sah seine Brust und dass er heftig atmete. Sie streckte die Hand aus.
Mit einem Krachen schlug die Flügeltür auf, und Johannes torkelte in den Raum. Sein Gesicht war gerötet, er schnaufte wie ein altes Schlachtross, hielt einen Moment inne und rülpste. Bernhardine ließ ihre ausgestreckte Hand, die nur noch einen Zoll von Cornelis’ Brust entfernt war, fallen, als hätte man sie ihr mit der Guillotine abgehackt.
»Wo ist denn jetzt das Bild?«, nuschelte der Schlossherr und drehte sich dabei im Kreis. »Ich will endlich meine hübsche Gattin bewundern!«
Bernhardine senkte den Blick. Sie schämte sich zutiefst für ihren betrunkenen Ehemann. Wie konnte er sie vor dem Maler nur so demütigen? Sie eilte auf Johannes zu, der gefährlich schwankte, und fasste ihn am Arm.
»Monsieur, das Porträt ist noch im Entstehen. Wenn Ihr möchtet, schaut es Euch doch morgen bei hellem Tageslicht an.«
Sie warf Cornelis einen hilflosen Blick zu. Der Maler lehnte mit verschränkten Armen am Fensterkreuz und beobachtete die Szene mit einem spöttischen Grinsen.
»Nein! Jetzt!«, zischte Johannes. »Wenn mir dieser crétin schon so lange auf der Tasche liegt, möchte ich sein Geschmiere wenigstens begutachten, wann immer ich will!«
Er riss sich von ihr los, schwankte auf die Staffelei zu und beugte sich mit zusammengekniffenen Augen vor.
Auf dem Bild waren bislang lediglich die Umrisse Bernhardines in ihrem roten Kleid zu sehen. Daneben Désirées Silhouette und die Wiege der Zwillinge. Der Hintergrund zeigte einen lichten Blätterwald mit einem glitzernden Wasserfall.
»Und wo bin ich?« Johannes warf sich in Positur. »Er möge mich in Siegerpose abbilden!«
Er wandte sich Cornelis zu, der das Gesicht verzog, als hätte er in eine rohe Zwiebel gebissen.
Bernhardines Knie zitterten. Was wäre gewesen, hätte Johannes die Türe einen Moment später aufgerissen und seine Frau in einer kompromittierenden Situation ertappt? Sie wollte sich diese Schmach gar nicht erst ausmalen. Zu schrecklich war der Gedanke, welche Folgen sich daraus für sie hätten ergeben können. Doch Gott hatte sie gerade noch vor einem leichtsinnigen Fehltritt bewahrt. Sie würde zehn Vaterunser beten und in der Schlosskapelle eine Kerze anzünden.
»Edler Herr«, ergriff Cornelis das Wort. »Mir wurde ein Porträt der Schlossherrin mit den Kindern in Auftrag gegeben. Solltet Ihr jedoch ein eigenes Gemälde wünschen – und nichts würde ich lieber erstellen, seid Euch dessen gewiss –, dann werde ich Euch mit Freude auf einem feurigen Ross malen. Mit erhobener Schwerthand, in einer prächtigen Uniform und mit blitzenden Augen.«
Johannes lächelte geschmeichelt und kratzte sich am Kopf. »So sei es, Meister van Cleef!«, erwiderte er besänftigt, zog ein Schnupftuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Dann überlasse ich Ihn nun weiter seinen Studien.«
Er drehte sich um, und Bernhardine warf dem Maler einen dankbaren Blick zu. Dieser schmunzelte und deutete eine Verbeugung an.
»Kommt Ihr, Teuerste?« Johannes war stehen geblieben und streckte die Hand nach ihr aus.
Auf dem Steinaltar der Schlosskapelle brannte eine Talgkerze. Es war bitterkalt. Bernhardine zog den Wollmantel enger um ihre Schultern. In einem Messinggefäß neben der Kanzel schwelte nasses Holz und füllte den kleinen Raum mit beißendem Rauch. Seit einer halben Stunde kauerte sie auf dem hölzernen Kniebrett der Bank und versuchte zu beten. Der gekreuzigte Heiland an der Wand hatte den Kopf gesenkt, doch Bernhardine beschlich das Gefühl, dass er sie beobachtete. Zu Recht! Sie war unkeusch gewesen. In Gedanken und, wenn Johannes nicht ins Zimmer gekommen wäre, vermutlich auch in Taten.
Über Nacht war Föhn aufgekommen. Der warme Südwind ließ den angehäuften Schnee im Schlosshof schmelzen und verursachte ihr Kopfschmerzen. Die Sparren der Holzdecke ächzten unter dem Ansturm der Böen. Irgendwo klapperte ein loser Fensterladen in unregelmäßigem Rhythmus.
Cornelis van Cleef! Bernhardine seufzte und presste die Hände noch stärker gegeneinander. Sie fieberte jeder Sitzung mit ihm entgegen und konnte ihre Enttäuschung an den Tagen, an denen das Licht zum Malen zu schwach war und sie ihn nicht zu Gesicht bekam, kaum verbergen. Und doch durfte sie sich nichts anmerken lassen. Sie war verheiratet – ihre dummen Träumereien nicht statthaft. Doch wie riss man sich einen Traum aus dem Herzen? Marie hatte sie schon mehrmals mit gerunzelter Stirn gemustert, wenn sie von den Porträtsitzungen zurückgekommen war. Ob sie etwas ahnte?
Bernhardines Knie fingen an zu schmerzen, und sie verlagerte ihr Gewicht etwas zur Seite.
»Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe …«
Die Kapellentür flog auf. Ein heftiger Windstoß ließ die Kerzenflamme flackern. Bernhardine warf einen ärgerlichen Blick über die Schulter. Die Schlosskapelle war nur den Herrschaften vorbehalten. Im Zwielicht konnte sie die Gestalt nicht deutlich ausmachen. Die stand reglos in der Nische, wo sich der Klingelbeutel befand. Handelte es sich etwa um einen Dieb?
»Wer da?«, fragte sie forsch. »Gebe Er sich zu erkennen!«
»Die schöne Reande saß einsten alleine, und seufzte von Herzen nach ihrem Galan. Inzwischen kam Lamus und hörte dies an, und sagte: Mein Kindgen, wohlan, ich erscheine, damit sich mein Herze mit deinem vereine.«
Bernhardine schnappte nach Luft. Eine Eiseskälte zog mit einem Mal durch ihr Herz, gleichzeitig jagten siedendheiße Schauer durch ihren Körper. Cornelis!
Sie kämpfte sich aus ihrer knienden Position hoch, wollte etwas sagen, ihn fortschicken, hinauswerfen, doch über ihre Lippen kam nur ein erstickter Laut. Mit zwei Schritten war der Holländer bei ihr und griff nach ihren Händen.
»Herrin!«, rief er stürmisch. »Geliebte Herrin. Endlich!«
Er fiel auf die Knie und presste ihre kalten Finger an seine Wange.
Cornelis’ Haut war heiß, als hätte er Fieber. Im Kerzenschein leuchteten seine blauen Augen wie Eiskristalle im Mondlicht.
»Cornelis …«, sie räusperte sich. »Meister van Cleef. Ich bitte Euch, erhebt Euch und bewahrt Contenance! Ich bin eine verheiratete Frau.«
Der Maler senkte den Blick, ließ aber ihre Hände nicht los. Plötzlich presste er mit einem leisen Stöhnen seine Lippen auf ihre Finger. Bernhardine entfuhr ein spitzer Schrei. Ihr Herzschlag verdoppelte sich, und sie begann zu zittern.
»Darf ich denn hoffen, verehrte Dame?« Cornelis erhob sich endlich und schaute sie bittend an. »Sagt es mir. Jetzt! Ich muss es wissen. Zu schwer sind meine Nächte, zu bitter die Tage, an denen ich Euch nicht sehen kann. Wenn aus Eurem süßen Mund ein Nein kommt, werde ich mich entfernen. Denn wer kann stetig in die Sonne blicken, ohne zu erblinden?«
Draußen heulte ein Hund. Ein Männerlachen schallte über den Schlosshof. Bernhardine erbebte. Wenn Johannes in die Kapelle käme … ihr wurde übel bei diesem Gedanken.
»Madame, bitte, eine Antwort.«
Cornelis stand kaum eine Handbreit von ihr entfernt. Auf seinem Umhang glitzerten Regentropfen. Er roch nach Ölfarbe und nach Pferd.
»Morgen. Eine halbe Stunde nach dem Nachtgeläut werde ich hier auf Ihn warten.«
Seine Augen strahlten, ein Lächeln flog über sein Gesicht, und er nickte. Dann hauchte er ihr einen Kuss auf die Wange, ging zur Tür und schlüpfte aus der Kapelle.
Bernhardine legte langsam ihre Hand an die Stelle, wo sie vor ein paar Sekunden noch Cornelis’ Lippen berührt hatten. Sie zitterte. Ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander, und sie fror entsetzlich. Sie bückte sich, nahm ihr Gebetbuch von der Holzbank und verließ die Kapelle. Bevor sie die Tür schloss, warf sie jedoch noch einen Blick zum Altar zurück: Der Heiland schien ihr direkt ins Herz zu sehen.