9

Seengen, 2010

Heute nicht.«

Max verabschiedete sich von seinem Ensemble, das schwatzend auf das Restaurant »Burgturm« zusteuerte. Er gesellte sich zu Anouk, die wartend auf der Treppe der Turnhalle saß und ein Grinsen unterdrückte, als sie das verkniffene Gesicht der Bibliothekarin bemerkte. Sie würden vermutlich keine Busenfreundinnen werden.

»Tut mir leid, Max. Ich habe die Zeit vergessen.«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Kein Problem«, sagte er, »ich habe deine Textstellen gelesen. Wenn du das nächste Mal dabei bist, reicht das völlig. Geht’s denn wieder?«

Sie nickte und beschloss, ihm nichts von der ungewöhnlichen Krähenattacke zu erzählen. »Hast du noch etwas herausgefunden?« Er schulterte seine Mappe, half ihr auf die Füße und steuerte auf seinen Wagen zu.

»Leider nicht«, beantwortete sie seine Frage und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Es sind einfach zu viele Gedichte … langweilige Gedichte.« Sie hakte den Sicherheitsgurt ein und rieb sich die eiskalten Hände. Herrgott, fing das schon wieder an? Sie atmete tief durch, um die aufsteigende Angst unter Kontrolle zu bekommen. »Hast du Internet?«, fragte sie unvermittelt und strich sich die Haare zurück. Max warf ihr einen erstaunten Blick zu und legte den ersten Gang ein. Anouk lachte, als sie seinen überraschten Gesichtsausdruck registrierte. »Das ist keine plumpe Anmache, Herr Doktor. Ich denke nur, es würde die Sache erheblich vereinfachen, wenn wir die Zeilen von Huldrich Erismann in eine Suchmaschine eingeben. Vielleicht finden wir dadurch eine Verbindung zwischen ihm und den zwei Dichterinnen. Oder sonst etwas, das uns weiterhilft.«

Max schnalzte mit der Zunge. »Stimmt!«, sagte er, schüttelte den Kopf und steuerte den Wagen auf die Hauptstraße. »Auf die nächstliegende Lösung kommt man immer zuletzt.« Er lachte, doch Anouk bemerkte einen Unterton in seiner Stimme, den sie nicht einzuordnen wusste.

»Ich hoffe, du erwartest kein gestyltes Penthouse«, fuhr er fort. »Ich habe leider kein gutes Händchen, was das Einrichten von Wohnungen angeht.«

Max fuhr am Brestenberg vorbei Richtung Meisterschwanden und bog nach ein paar Kilometern in eine gekieste Auffahrt ein. An deren Ende, erhöht am Hang, thronte ein zweistöckiges Fachwerkhaus, das von Blumenrabatten umgeben war.

»Hübsch«, meinte Anouk und schmunzelte.

»Leider nicht meins«, sagte Max und stieg aus. »Ich bewohne nur das Obergeschoss. Meine Vermieterin wird sich sicher wundern, wenn ich Damenbesuch mitbringe. Normalerweise …« Er brach ab und räusperte sich. Als hätte er das Stichwort gegeben, öffnete sich die Haustür, und eine ältere Dame in einem grauen Hosenanzug trat auf die Veranda. Sie hielt abrupt inne, als sie Max und Anouk bemerkte.

»Et voilà«, seufzte er, »meine Schlummermutter!«

Frau Bolliger war eine rüstige Rentnerin Ende sechzig. Sie lud die Ankömmlinge zu einer Tasse Tee ein und insistierte vehement, als sie höflich ablehnen wollten. Anouk zog amüsiert die Augenbrauen hoch und stupste Max heimlich mit dem Ellenbogen an. Diese Dorfbewohner! Er willigte mit einem gequälten Lächeln ein, sprach aber nach einer Stunde mit viel Tee und trockenen Biskuits ein Machtwort. Beinahe fluchtartig verließen sie daraufhin das Wohnzimmer mit den vielen Häkelarbeiten und dem übergewichtigen Cockerspaniel, der ihnen während der vergangenen Minuten alle seine zerfetzten Plüschtiere zu Füßen gelegt hatte.

Im Gegensatz zu Frau Bolligers vollgestopftem Zuhause waren Max’ Zimmer spartanisch eingerichtet. Im Wohnzimmer standen eine schwarze Sitzgruppe, ein einfacher Holztisch mit dazu passenden Stühlen und eine nüchterne Stehlampe. In einer Ecke befand sich eine moderne Küchenkombination. Die Wände waren kahl, die Fenster ohne Gardinen. Selbst der glänzende Parkettboden musste ohne Teppich auskommen. Anouk schürzte die Lippen. Die Zimmer sahen so aus, als würde ihr Bewohner gleich wieder seine Koffer packen oder als hätte er sie erst gar nicht ausgeräumt. Es gab weder Fotos noch Bilder, weder Blumen noch irgendwelche Nippsachen. Dagegen wirkte Max’ Praxis ja geradezu anheimelnd.

»Etwas zu trinken?«, fragte er und stellte seine Tasche ab.

»Wenn’s nicht noch ein Tee ist, gerne.«

Er lächelte säuerlich, ging zum Kühlschrank und schaute hinein. »Wie wär’s mit einem Bier?«

Anouk nickte. »Kann ich das Fenster öffnen?«

Sie trat zur Balkontür. Der Ausblick auf den Hallwilersee war grandios. Hinter den gegenüberliegenden Hügeln ging gerade die Sonne unter und verwandelte das Wasser in flüssiges Gold. Am Himmel stand bereits die Venus und funkelte, als wäre sie frisch poliert worden.

Max öffnete zwei Flaschen Millers und folgte Anouk, die auf den Balkon hinausgetreten war.

»Tolle Aussicht!«, sagte sie begeistert und stützte sich mit beiden Händen auf das Geländer.

»Deshalb habe ich die Wohnung genommen. Trotz Frau Bolliger.« Er verzog den Mund, und Anouk lachte. »Hier.« Er reichte ihr die Flasche, dabei streifte seine Hand ihren Arm. Anouk bekam eine Gänsehaut, und ihr Herzschlag beschleunigte sich.

»Auf liebenswerte, alte Damen!«, rief sie und stieß etwas zu heftig mit ihm an. Max nickte.

»Ich …«, sagten beide gleichzeitig und fingen an zu lachen.

»Also«, ergriff Max das Wort, »mein Laptop steht im Schlafzimmer. Einen Moment.«

Er drehte sich um, stellte sein Bier auf den Tisch und verschwand in den hinteren Bereich der Wohnung. Schlafzimmer? Anouk legte den Kopf schief, konnte von ihrem Standort aus jedoch keinen Blick hineinwerfen. Es hätte sie interessiert, wie er nächtigte und ob eventuell ein Foto auf seinem Nachttisch stand. Aber wieso eigentlich? Was ging es sie an, welche Bilder sich in Max’ Schlafzimmer befanden und wer darauf abgebildet war? Er hatte sein Leben, sie das ihre, und es würde keine Liebesbeziehung zwischen ihnen geben. Freundschaft, ja, dazu war Anouk bereit, aber zu mehr nicht. Hoffentlich war sich Max dessen bewusst.

Sie seufzte und nahm noch einen Schluck. Das Bier rann kühl und prickelnd ihre Kehle hinab. Ob es so eine gute Idee gewesen war, in seine Wohnung zu kommen? Gut möglich, dass Max darin eine Aufforderung zu mehr verstehen würde.

»Unsinn!«, murmelte Anouk halblaut und schüttelte den Kopf. Sie interpretierte schon wieder einmal viel zu viel in eine ganz normale Sache hinein. Schließlich waren sie beide erwachsen und die Sache mit dem Kuss mittlerweile geklärt.

»So«, Max stellte seinen Computer auf den Tisch, »dann wollen wir mal sehen, ob wir Talent zum Detektivspielen haben!«

Er lachte, doch es klang gepresst, als müsste er sich selbst von seinem Scherz überzeugen. Anouk beobachtete ihn nachdenklich, als er das Notebook startete. Warum half er ihr eigentlich so selbstlos? Im Grunde erstaunlich; sie kannten sich ja kaum, und er hatte doch sicher Wichtigeres zu tun, als der Großnichte einer Patientin bei der Aufklärung seltsamer Ereignisse zur Hand zu gehen. Steckte da mehr dahinter? Und wenn ja, was waren seine Motive? Sollte sie ihn einfach fragen? Aber was wäre, wenn ihr seine Antwort nicht gefiele? Anouk beschloss, sich später darüber Gedanken zu machen. Zunächst wollte sie erst einmal wissen, was es mit diesen Versen auf sich hatte. Sie setzte sich neben Max und zog das Skript aus ihrer Handtasche. Anouk hatte ihre Sachen nach dem Krähenangriff zum Glück alle wiedergefunden und einsammeln können. Als sie nach einer Weile die Kirchentür geöffnet und vorsichtig den Kopf hinausgestreckt hatte, war die angriffslustige Krähe verschwunden gewesen.

Sie fanden die Zeilen auf Anhieb. »Auf eben diese Leiche« lautete das Gedicht, das, wie sie schon vermutet hatten, nicht von Huldrich Erismann, sondern von Sidonia Hedwig Zäunemann stammte. Der Dichterin mit dem Lorbeerkranz auf dem Kopf. Geboren siebzehnhundertvierzehn, gestorben siebzehnhundertvierzig.

»Tja. Dann hat der gute Huldrich die Zeilen also tatsächlich geklaut«, sagte Max, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Für eine Plagiatsanzeige wird es aber vermutlich zu spät sein. Und jetzt?«

Anouk stützte ihren Kopf in die Hand. »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte sie kleinlaut.

Was hatte sie denn erwartet? Dass ein himmlischer Gong erklingen würde, wenn sie wüsste, wer die Zeilen verfasst hatte? Gratuliere, Sie haben gewonnen! Freuen Sie sich auf einen Millionengewinn! Auf einmal kam sie sich ziemlich dumm vor.

Max warf ihr einen schnellen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf den Interneteintrag.

»Sie ist jung gestorben«, meinte er, kniff die Augen zusammen und starrte auf den Bildschirm. »Von einem Ausritt nicht zurückgekommen. Vermutlich in der Gera ertrunken«, las er vor. »Und du sagst, deine Großtante kann Gedichte nicht ausstehen?«

Anouk nickte. »Ich wüsste wirklich nicht, wieso sie diese Zeilen aufsagen sollte. Außer … aber das ist ein ganz und gar abwegiger Gedanke.«

»Ja?« Max klickte ein paar der Verse an. »Was ist ganz und gar abwegig?«

»Na ja«, druckste sie herum, »dass es vielleicht Julia sein könnte, die mir auf diese Weise eine Botschaft zu übermitteln versucht.«

Sie schaute Max nicht an, während sie sprach, weil sie fürchtete, er würde sie auslachen. Sie konnte einiges ertragen, aber Spott traf sie tief. Doch er überraschte sie erneut.

»Das ist gar keine so dumme Idee«, erwiderte er ernsthaft und nickte dabei mehrmals.

»Tatsächlich?«, meinte Anouk verblüfft. »Ich dachte …«

Ein schrilles Pfeifen unterbrach ihr Gespräch. Anouk und Max starrten sich erschrocken an. Auf dem Laptop poppten in schneller Reihenfolge Bilder auf: Anouk bei einer Modenschau in Paris, das Schloss Hallwyl, die Seenger Kirche, ein Ölgemälde, auf dem ein eng umschlungenes Paar zu sehen war, Kornblumen, Krähen, wieder Anouk, diesmal in einem Badeanzug, das Berner Münster, zwei Engel, erneut das Wasserschloss, eine Teufelsgestalt, das Bild der Zäunemann, ein Grabstein. Immer schneller wurde die Abfolge der Bilder, begleitet von diesem schrillen Pfeifen.

Max hämmerte heftig auf die Tastatur ein. Keine Reaktion. Er drückte den Ausschaltknopf. Nichts. Die Bilder rasten weiter. Anouk starrte wie hypnotisiert auf den Bildschirm, bis der Spuk schließlich abbrach. Ein letztes durchdringendes Pfeifen, dann wurde das Display dunkel.

»Heiliger Strohsack!«, keuchte Max. »Was war denn das?«

Anouks Hals war ganz ausgetrocknet. Ihre Hand, mit der sie die Bierflasche umklammerte, zitterte unkontrolliert, und sie brauchte einen Moment, bis sie in der Lage war, das Bier auf den Tisch zu stellen.

»Ich weiß es nicht. Das war echt unheimlich.« Anouk räusperte sich. »Als ob uns jemand etwas Wichtiges mitteilen wollte. Aber von Julia kam das sicher nicht. Sie ist nie in Seengen gewesen. Davon bin ich überzeugt. Und wenn es von ihr gekommen wäre, wären doch sicher auch Bilder vom Unfall mit dabei gewesen. Meinst du nicht?«

Max zuckte mit den Schultern und drückte mit spitzen Fingern auf der Tastatur herum. Der Bildschirmhintergrund wurde blau, und der Cursor blinkte unschuldig, als ob nichts gewesen wäre.

Anouk schob den Stuhl energisch auf dem Parkett zurück, was ein hässliches Kratzgeräusch verursachte. Sie musste hier weg! Die Sache fing an, sie zu überfordern. Das Ganze war kein Spiel mehr, sondern mutierte langsam zu einem unheimlichen Szenario mit ungewissem Ausgang. »Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um«, sagte ihr Vater immer. Er hatte recht. Es war an der Zeit, die Sache ruhen zu lassen. Sonst würde am Ende noch einer von ihnen Schaden nehmen. Körperlich oder psychisch – beides war nicht tragbar.

»Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt nach Hause gehe.« Sie schnappte sich ihre Handtasche und steuerte auf den Ausgang zu.

»Anouk?« Sie blieb stehen und schaute über die Schulter. »Wir werden rauskriegen, was hier vor sich geht, okay? Du bist nicht verrückt.«

Max erhob sich und streckte seine Hand aus. Anouk wich einen Schritt zurück und lächelte bemüht.

»Gut!«, sagte sie und presste ihren Beutel an die Brust. »Wir sehen uns bei der nächsten Probe.«

»Soll ich dich nicht nach Hause fahren?«

Er schaute sie hoffnungsvoll an, doch sie schüttelte vehement den Kopf, so dass ihre roten Locken flogen.

»Ich brauche jetzt einen Moment für mich allein. Tut mir leid … ciao.«


Das Bild kam Max bekannt vor: eine Frau, die zur Tür hinausstürzt. Gestern war es Brigitte gewesen, soeben Anouk. Nur war er bei der einen erleichtert gewesen, während er bei Anouk einen scharfen Stich der Enttäuschung fühlte. Als sie ihn vorhin gebeten hatte, seinen Computer benützen zu dürfen, war ein regelrechtes Feuerwerk der Gefühle in seinem Inneren explodiert, und er hatte sie beide schon eng umschlungen auf seinem Doppelbett liegen sehen. Doch das war nur Wunschdenken gewesen. Und dieser unheimliche Computercrash und Anouks Reaktion darauf hatten seine Hoffnung auf eine mögliche Annäherung dann endgültig zunichtegemacht. Vielleicht sollte es einfach nicht sein, und ehrlich gesagt war er sich auch gar nicht sicher, ob eine so komplizierte Beziehung das Richtige für ihn war.

Seufzend setzte er sich wieder an den Tisch, stützte seinen Kopf in eine Hand und schaltete mit der anderen den Computer aus. Wenn das mit seinen Gefühlen doch bloß auch so einfach ginge!


Anouk floh nach unten, wo Frau Bolligers Lächeln wie eine kaputte Glühbirne erlosch, als Anouk an ihr vorbeirannte und ihre Einladung zu einem weiteren Tee mit einem stummen Kopfschütteln beantwortete. Nur weg von hier! Am liebsten gleich nach Zürich zurück. Egal, ob zu den Eltern oder in ihr Loft. Nur weg von verstaubten Versen, tollwütigen Krähen und durchgedrehten Computern!

Sie hastete die Kieseinfahrt hinunter und lief Richtung Seengen. Wenn sie sich beeilte, würde sie noch das letzte Postauto nach Lenzburg erwischen. Ihr Gepäck könnte sie später abholen lassen. Tati Valerie müsste bis zum Herbst eben ohne sie auskommen.

Anouk stolperte und fiel unsanft auf den Gehsteig. Sie blieb einen Moment benommen auf dem warmen Asphalt liegen, bis sie sich ohne Schwindel wieder hochrappeln konnte. Ihr Knie war aufgeschürft und brannte wie Feuer. Auch das noch! Sie humpelte zur Böschung am Straßenrand und setzte sich ins Gras. Es war frisch gemäht und duftete nach Heu und wildem Thymian. Anouk zog ein Taschentuch aus ihrem Beutel und säuberte damit ihr Knie. Ein Wagen mit heruntergelassenen Fenstern, aus dem wummernde Bässe dröhnten, flitzte an ihr vorbei. Vier Jungs hockten darin und johlten, als sie Anouk erblickten. Sie warfen ihr Luftküsse zu und grinsten blöde. Was war bloß aus ihrer Idee, einen ruhigen Sommer in der beschaulichen Gegend von Seengen zu verbringen, geworden? Anouk vergrub das Gesicht in den Händen. Sie war wirklich zu bedauern und …

»Nein! Nicht mit mir!« Sie stand auf und presste ärgerlich die Lippen aufeinander. Sie war eine Morlot! Und die Morlot-Frauen ließen sich nicht so leicht unterkriegen. Sie hatte schließlich schon Shootings mit Schlangen, Vogelspinnen und Krokodilen überstanden; war schon an einem Seil zwanzig Meter über einem Abgrund gebaumelt, aus einem Flugzeug gesprungen und hatte bei minus fünfzehn Grad Bademode vorgeführt. Und das alles lächelnd und perfekt frisiert. Diese ganzen unerklärlichen Vorkommnisse hatten etwas zu bedeuten. Und dass sie ihr gerade in dieser Phase ihres Lebens passierten, ebenso. Irgendjemand oder irgendetwas versuchte, mit ihr Kontakt aufzunehmen und ihr etwas mitzuteilen, damit sie etwas unternahm. Wenn sie jetzt davonliefe, würde sich die Situation dadurch erstens nicht verändern und sie sich zweitens wahrscheinlich ihr ganzes späteres Leben lang fragen, wieso sie nicht den Mut aufgebracht hatte, sich dieser Herausforderung zu stellen. Anouk straffte ihre Schultern und hob, als sich ein weiteres Auto näherte, entschlossen den Daumen.

Schloss Hallwyl, 1746

Die Wanduhr machte Bernhardine wahnsinnig: tick-tack, tick-tack, Dir-ne, Dir-ne! Am liebsten hätte sie den Zeitmesser von der Wand gerissen und ins Feuer geworfen. Jedes noch so kleine Geräusch zerrte an ihren Nerven. Die Dielenbretter knarrten gehässig, der Wind rüttelte wütend an den Fensterläden, und die Holzscheite im Kamin knackten anklagend. Sie hielt sich die Ohren zu. Zum hundertsten Mal stand sie auf, strich sich das Kleid glatt und trat ans Fenster. Nichts. Der Schlosshof lag verlassen unter einer schmutzig grauen Schneedecke.

Es hatte die ganze Nacht geschneit. Der Tumult der vergangenen Stunden und die vielen hastigen Füße, die über den Hof gelaufen waren, hatten die weiße Pracht in hässlichen, braunen Matsch verwandelt. Über dem See ballten sich neue Schneewolken. Es war noch kälter geworden. Selbst die Krähen hockten wie schwarze Eiszapfen in den kahlen Bäumen und hielten die Schnäbel. Die ganze Welt war erstarrt. Herrgott, warum kam denn keiner, um ihr zu berichten?

Bernhardine hielt es nicht länger in ihrem Boudoir aus. Sie griff nach einem wollenen Schultertuch und stolperte die Treppe hinunter. In der Vorhalle traf sie auf zwei Mägde, die bei ihrem Anblick abrupt verstummten.

»Was habt ihr so zu gaffen? Bewegt euch lieber und schafft etwas!«

Die Mädchen stoben davon. Bernhardine strich sich müde über die Stirn. Seit den frühen Morgenstunden befand sich das ganze Schloss in Aufruhr. Die Bediensteten hatten jeden Winkel nach Désirée abgesucht – von ihrer Tochter keine Spur. Jetzt ging es bereits auf Mittag zu. Normalerweise war dies die geschäftigste Tageszeit in der Burg. Doch ein Blick aus dem Fenster bestätigte ihre Ahnung; selbst die Küche war verwaist. Der rußgeschwärzte Schornstein stieß keinen Rauch aus.

Mit Fackeln hatten sich Johannes und die Knechte bei Tagesanbruch aufgemacht, um den Schlossgraben und die nähere Umgebung abzusuchen. Seitdem wartete Bernhardine auf die Nachricht, dass man das Kind wohlbehalten gefunden hätte. In der Scheune, dem Kornhaus oder vielleicht sogar im Verlies.

Sie fasste sich an die Kehle. Das Verlies! Wenn Désirée dort … Aber nein, Johannes hatte das Schandloch erst letzten Sommer mit einem schweren Gitter sichern lassen. Und ihre Tochter würde nicht dorthin gehen. Sie war so ein artiges Mädchen, das brav seinen Brei aß, mit seiner hübschen poupée spielte und immer lachte.

»Und der Teufel, ihr Verführer, wurde in den See von brennendem Schwefel geworfen, wo auch das Tier und der falsche Prophet sind. Tag und Nacht werden sie gequält, in alle Ewigkeit!«

Bernhardine stieß einen spitzen Schrei aus. Gerold trat hinter einer Steinsäule hervor und nieste. Sein Mantel war schneebestäubt, die Stiefel dunkel von Nässe und Schmutz.

»Himmel, habt Ihr mich erschreckt!« Sie zog das Schultertuch enger um den Oberkörper. »Sagt, habt Ihr gute Nachricht?« Ihr Schwager hauchte in seine Hände und schüttelte den Kopf. »Wo ist mein Gemahl?«

»Wer nicht in mir bleibet, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt!«

Bernhardine hatte noch nie den Wunsch verspürt, einen Menschen körperlich zu verletzen, doch jetzt kostete es sie all ihre Kraft, ihrem Schwager nicht ins Gesicht zu schlagen. Sie schloss für einen Moment die Augen, um sich zu sammeln. Es hatte keinen Zweck, sich über ihn und seine – angesichts dieser Situation – völlig unangebrachten Worte zu echauffieren. Er würde ihr so wenig Mitgefühl entgegenbringen wie ein Wolf einem frisch geborenen Lamm, deshalb wandte sie sich ab und trat in den Speisesaal. Der Raum war eisig und stank nach Kohl und kalter Asche. Auf dem Tisch standen noch die Morgensuppe, eine Maß Bier, ein Stück Käse und eine Schüssel mit eingetrocknetem Haferbrei. Daneben ein benutztes Gedeck.

»Seid Ihr hungrig?«, fragte sie, da sie sich auf ihre Pflichten als Gastgeberin besann. Als sie keine Antwort erhielt, drehte sie sich um. Gerold stand mit verschränkten Armen vor dem Gobelin und betrachtete die Jagdszene. Auf seinem eingefallenen Gesicht lag ein Ausdruck von … Zufriedenheit? Bernhardine blinzelte. Bis zum heutigen Tag hatte sie sich aus seinen Ressentiments ihr gegenüber nichts gemacht, doch seit gestern Nacht plagte sie das schlechte Gewissen. Und genau so, wie Johannes’ Köter über Meilen hinweg witterten, wenn sich eine läufige Hündin herumtrieb, hatte ihr Schwager womöglich gerochen, dass sie zur Ehebrecherin geworden war. Dass er sich jetzt aber am Verschwinden seiner Nichte ergötzte, war einfach zu viel des Guten. Maßloser Zorn loderte in ihr auf. Sie langte nach dem Käsemesser, betrachtete den Hirschhorngriff eine Weile, prüfte die Schärfe der Klinge mit dem Daumenballen und ging dann zu Gerold hinüber. Ihr Arm schnellte nach oben …

Seine Finger umschlossen ihr Handgelenk wie ein Schraubstock. Mit einer raschen Bewegung drückte er ihren Arm nach unten. Bernhardine ging mit einem Schmerzenslaut in die Knie. Sie öffnete die Hand, und die Klinge fiel zu Boden.

»Verehrte Belle-Sœur.« Gerold bückte sich, bis sein Mund ihr Ohr berührte. »Ich schreibe Euer törichtes Gebaren Euren überreizten Nerven zu«, flüsterte er und fuhr mit seiner Zungenspitze ihren Hals entlang. Ihr wurde eiskalt, Ekel schüttelte sie, und sie unterdrückte einen Schrei. »Und ich werde«, fuhr er fort, »davon absehen, meinem geliebten Bruder von Eurer Anwandlung zu berichten. Aber seid Euch dessen gewiss, Madame, das nächste Mal werde ich nicht mehr so gnädig sein.« Er schnüffelte wie ein Köter an ihrem Haar. »Ich will meinen Eifer über dich gehen lassen, dass sie unbarmherzig mit dir handeln sollen. Sie sollen deine Söhne und Töchter wegnehmen und das Übrige mit Feuer verbrennen.«

Bernhardine sah, wie sich der Stoff seiner Hose bei diesen Worten beulte. Ihr Herz hämmerte gegen das Mieder, in ihren Ohren rauschte es, als würden tausend Bäche zu Tal stürzen. Doch da ließ Gerold ihre Hand unvermittelt los, verbeugte sich formvollendet und verließ den Saal.

Der Steinboden neben dem Esstisch, auf dem Bernhardine noch immer kauerte, war eisig kalt, und die Feuchtigkeit kroch langsam vom Saum ihres Kleides weiter nach oben. Sie fing an zu zittern, griff nach dem Wolltuch, das ihr von den Schultern geglitten war, und zog sich an der Tischkante hoch. Gedanken wirbelten wie ausschwärmende Bienen in ihrem Kopf. Hatte sie ihren Schwager tatsächlich töten wollen? Würde er Johannes davon erzählen? Wusste Gerold von Cornelis und ihr? Und das Wichtigste: Hatte er vielleicht sogar etwas mit Désirées Verschwinden zu tun? Bernhardine griff sich an die Stirn. Ein jäher Schwindel erfasste sie, und sie setzte sich schwer atmend an den Esstisch. Der Geruch der kalten Morgensuppe stieg ihr in die Nase und ließ sie würgen. Ihr ganzes Leben schien sich plötzlich in einem wilden Strudel aufzulösen. Nichts hatte mehr Bestand, nirgends gab es Zuflucht, niemand stand ihr bei.

Bernhardine liefen die Tränen übers Gesicht. Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Neben dem Kamin regte sich eine Gestalt. Der einarmige Junge, der bei ihrer Ankunft im Schloss einst die Krähe abgeschossen hatte, drückte sich mit aufgerissen Augen in den Schatten des Rauchfangs. In der Hand hielt er eine kleine Schaufel, und zwischen seinen Füßen stand der Ascheeimer.

Bernhardine erschrak. Wie lange war der Bub schon hier? Hatte er etwa die ganze Szene beobachtet und mit angehört? Sie räusperte sich, straffte die Schultern und stand auf.

»Wie ist dein Name?«, fragte sie den Knaben und trat einen Schritt näher. Sie hatte den Krüppel noch nie aus der Nähe begutachtet. Für sie war er lediglich der Junge, der die Krähen erlegte und sich um die Pferde kümmerte.

»Huldrich«, wisperte der Kleine und scharrte mit den Füßen, dabei warf er ihr einen scheuen Blick durch seine verfilzten, in Zotteln herabhängenden Haare zu. Er hatte tiefschwarze Augen, die an reife Brombeeren erinnerten. Um seinen schön geschwungenen Mund spielte, trotz seiner Zurückhaltung, ein leichtes Lächeln. Er erinnerte sie an jemandem. Aber an wen? Aus ihm hätte einst ein ansprechender Mann werden können, wäre dieser leer baumelnde Ärmel an seiner Seite nicht gewesen.

»Also, Huldrich, ich bin mir sicher, du liebst deinen Herrn, nicht wahr?« Der Knabe nickte eifrig. »Fein, dann willst du doch nicht, dass er noch mehr Kummer ertragen muss?« Jetzt schüttelte der Kleine vehement den Kopf. »Dann hör mir gut zu! Du und ich, wir haben jetzt ein Geheimnis zusammen, das wir keinem Menschen erzählen werden. Schwörst du mir das?«

Der Junge ließ die Schaufel fallen, die mit einem ohrenbetäubenden Scheppern auf den Steinboden fiel. Er legte seine dreckige, mit Ruß verschmierte Hand auf die magere Brust und spreizte Daumen, Zeige- und Mittelfinger ab, dabei schaute er Bernhardine ernst ins Gesicht.

»Bei der heiligen Gertrud, Herrin, ich werde niemandem etwas erzählen!«

Die Frau in Rot: Roman
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