19
Seengen, 2010
Der Pfarrer stand am Fuß der Treppe und wartete. Sie befanden sich in einer Art Vorraum, von dem mehrere Türen abgingen. Der Geistliche öffnete die erste zu ihrer Rechten und betätigte den Lichtschalter. Auf der einen Seite des Zimmers, das nun hell erleuchtet war, standen Aktenschränke, die alphabetisch beschriftet waren. Links davon reichte ein großer Glasschrank, in dem dicke Folianten lagerten, bis knapp unter die Zimmerdecke. Die meisten waren in Leder gebunden, andere in Leinen eingeschlagen, dazwischen immer wieder lose Blätter zwischen Pappdeckeln, die mit dicken Schnüren zusammengehalten wurden.
»Das entspricht schon eher der Vorstellung eines Kirchenarchivs, nicht?«, raunte Max. Anouk nickte stumm.
Der Pfarrer wies mit dem Kopf auf den gläsernen Schrank und lächelte geheimnisvoll. Er öffnete dessen Schloss, sah auf seinen Ausdruck und griff zielstrebig nach einem dicken Buch im obersten Fach. Er zog es heraus, legte es auf den Tisch und schlug es auf.
Anouk konnte kaum an sich halten. Fast am Ziel!, wisperte eine Stimme in ihrem Kopf und ließ sie schaudern.
»Ist dir kalt?«, flüsterte Max.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich platze nur fast vor Neugier.«
Er griff nach ihrer Hand, und gemeinsam traten sie näher.
Der Foliant war an einer Seite ein wenig angekohlt, das Leder abgenutzt und brüchig.
»Man sollte die Dokumente unbedingt restaurieren«, bemerkte der Pfarrer. »Nur leider ist das wahnsinnig teuer. Und bislang standen immer dringlichere Projekte an. Aber womöglich schreibe ich nächstens dem Schweizerischen Museumsverein einen Bettelbrief. Oder haben Sie vielleicht gute Verbindungen zu Kurator Rufli?« Er blickte über die Schulter. Anouk verdrehte die Augen. »Das interpretiere ich einmal als ›Nein‹«, bemerkte der Pfarrer trocken. »Nun ja, soweit ich informiert bin, weiß der Professor nichts von diesen antiquarischen Büchern. Man war auch lange Zeit der Meinung, dass bei dem Brand damals alle Dokumente vernichtet worden wären. Doch als ich mir vor ein paar Jahren oben mein Büro eingerichtet habe, fanden die Maurer diesen Keller. Die Akten wurden dann von unserem Kirchenarchivar katalogisiert. Ob der Professor wohl an ihnen interessiert ist und ein paar Fränkli für sie lockermacht? Was meinen Sie? Er soll ja alle Dokumente sammeln, die mit dem Seetal zusammenhängen.« Der Geistliche legte die Stirn in Falten. »Wieso kam mir diese Idee eigentlich nicht schon früher? Ich werde langsam alt.« Er seufzte und wandte sich wieder den Registraturen zu.
Anouk schnaubte. Das fehlte gerade noch, dass der Kurator diese Dokumente in die Hände bekam.
Die Blätter des schweren Buches waren in drei Spalten unterteilt. In der linken stand das Datum, in der mittleren das Ereignis, und rechts außen war Platz für Notizen. Anouk konnte die Schrift nicht entziffern. Die großzügigen Unter- und Oberlängen der einzelnen Buchstaben verwirrten sie, nur die Jahreszahlen bereiteten ihr keine Probleme.
Der Geistliche blätterte vorsichtig die Seiten um, bis die Jahreszahl 1752 auftauchte.
»Etwas früher«, flüsterte Anouk, und der Pfarrer nickte und blätterte bis zur Jahreszahl 1746 weiter. Sie hielt die Luft an.
»Also, von einem Rufli steht hier nichts«, sagte der Priester und drehte sich um.
»Und von jemandem mit Namen Morlot?« Anouk unterdrückte den Wunsch, den Pfarrer beiseitezuschieben und selbst noch einmal durch die Zahlenreihen und Einträge zu gehen.
»Morlot, Morlot …« Der Geistliche beugte sich tiefer über den Folianten. »Auch nicht, tut mir leid.«
Anouk atmete tief durch. Schon wieder eine Sackgasse.
»Kann es auch früher oder später gewesen sein?«, fragte der Pfarrer und schob sich die Brille auf die Stirn.
Anouk zuckte leicht mit den Schultern. 1746 hatte sie zusammengesetzt. Aber vielleicht hatte sie sich ja auch in der Reihenfolge der Zahlen getäuscht? Könnte es auch 1764 geheißen haben?
»Sind auch Einträge aus dem Jahr 1764 vorhanden?«
Der Pfarrer schlug das Buch im hinteren Teil auf.
»Ein paar«, sagte er, »aber es kommen wiederum keine Morlots in ihnen vor.«
Anouk ließ den Kopf hängen. Es wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Max legte seinen Arm um ihre Schultern und küsste sie auf die Wange.
»Einen Versuch war es allemal wert«, meinte er tröstend. »Man kann eben nicht immer …«
»Moment!« Der Geistliche setzte die Brille wieder auf. »Hier steht etwas von einem Rufli.«
Anouk riss die Augen auf und drängte den Pfarrer beiseite. »Wo?«, rief sie, und ihre Stimme überschlug sich.
»Da!« Er deutete mit dem Zeigefinger auf einen Eintrag, ohne das Pergament dabei zu berühren.
»Ich kann die Schrift nicht entziffern«, jammerte Anouk. »Was steht denn da?«
»Huldrich Erismann Rufli. Theologe, geboren den 28. Oktober 1736, gestorben den 15. März 1764«, las der Pfarrer vor.
»Der Dichter?«, riefen Anouk und Max gleichzeitig. Sie schauten sich entgeistert an.
»Der war …«
»… also ein Rufli«, beendete Max den Satz. »Ich fasse es nicht!«
»Aber wieso hat Huldrich Erismann den Zunamen Rufli dann aus seinem Namen gestrichen?« Anouk trat von einem Fuß auf den anderen. »Und wieso verschweigt der Professor, dass er einen berühmten Dichter in der Familie hat?«
»Womöglich sind die beiden gar nicht miteinander verwandt«, wandte Max ein.
»Quatsch! Das kann kein Zufall sein.«
»Ich störe ja nur ungern Ihre Diskussion«, unterbrach der Pfarrer das Gespräch, »aber wollen wir nicht lieber wieder nach oben gehen? Mir frieren hier die Zehen ab.« Er zeigte auf seine bloßen Füße in den Sandalen.
Anouk und Max lachten.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Max, »aber Sie haben uns sehr geholfen. Herzlichen Dank!«
»Keine Ursache«, erwiderte der Pfarrer, schloss den Folianten und legte ihn sorgfältig an seinen Platz zurück. »Dafür ist die Kirche schließlich da.«
Er zwinkerte schelmisch, verschloss den Glasschrank wieder, und gemeinsam kletterten sie die schmale Treppe hinauf.
Der Temperaturunterschied war gewaltig, als sie wieder ins Freie traten. Es mussten mindestens zwanzig Grad mehr hier draußen herrschen. Anouk wurde es leicht schwindlig.
»Wenn es Ihnen keine Umstände macht«, wandte sie sich an den Geistlichen, »würde ich gerne noch ein Glas Ihres köstlichen Eistees trinken. Mein Hals ist staubtrocken.«
Der Pfarrer nickte erfreut. »Aber sehr gern. Er schmeckt gut, nicht wahr? Ein altes Familienrezept. Ich sollte es als Patent anmelden.«
Sie lachte. »Unbedingt! Und dann möchte ich der Kirche Seengen gerne eine Spende zukommen lassen«, fügte sie an. »Vielleicht zum Restaurieren alter Bücher? Ich hörte, es besteht dahin gehend Bedarf.«
»Das war nett von dir.«
Max betätigte den Blinker, bog ins Trottengässli ein und stoppte den BMW direkt vor Valeries Haus.
Anouk winkte ab. »Mein Konto lässt es zu. Ich habe die vergangenen Jahre sehr gut verdient.«
»Trotzdem. Die meisten Leute reden immer nur davon, Gutes zu tun, raffen sich aber nicht wirklich dazu auf. Ich bin stolz auf dich.«
Anouk errötete. Sein Kompliment machte sie verlegen, auch wenn sie sich gleichzeitig darüber freute. Sie hatte sich vor ihrem Unfall nie darum gekümmert, wie es anderen Menschen ging. Manchmal hatte sie zwar an Shootings teilgenommen, deren Erlöse für gute Zwecke an Organisationen wie »Terres des Hommes« oder die »Krebshilfe Schweiz« gespendet wurden oder an Tierversuchsgegner gingen. Aber letztendlich hatte der eigene Nutzen dabei immer im Vordergrund gestanden. Sie hatte es getan, weil es ihr gute Presse brachte, ihrer Karriere nutzte und sie gleichzeitig ihr schlechtes Gewissen damit beruhigen konnte.
Anouk war sich selbst immer am wichtigsten gewesen. Sie und die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse. Und jetzt? Sie warf Max einen schnellen Blick zu. Sein Beruf war es, seinen Mitmenschen zu helfen. Und in diesem Moment verstand sie auch, was jemanden dazu brachte, für andere da sein zu wollen. Es befriedigte ungemein. Man war mit sich und der Welt im Reinen, weil die eigene Person nicht mehr im Mittelpunkt stand. Ehrliche Hilfsbereitschaft bewirkte, dass man sich fühlte, als würde im Körper eine kleine Feder schwingen.
»Du lächelst«, bemerkte Max, »darf ich den Grund dafür erfahren?«
Anouk strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Ich komme mir gerade wie Mutter Teresa vor«, sagte sie und lachte. Doch es klang bemüht. Es war ihr peinlich, ihre Gefühle vor Max auszubreiten. Sie befürchtete außerdem, dass er sie auslachen würde, aber er sagte nur: »Ein schönes Gefühl, nicht wahr?«
Verflixter Doktor! Konnte er wieder einmal ihre Gedanken lesen?
»Wie kommst du denn jetzt nach Hause?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
»Ich dachte, du würdest mich fahren«, erwiderte Max, doch als er ihre entsetzte Miene bemerkte, fügte er schnell hinzu: »Aber ich kann auch euer Fahrrad nehmen.«
Sie stieß erleichtert die Luft aus. »Kommst du später noch einmal vorbei? Wir müssen noch besprechen, wie’s weitergehen soll.«
Max blickte zum See hinab. Er hatte sein morgendliches klares Blau verloren und schien im sommerlichen Nachmittagsdunst an einer leichten Gelbsucht zu leiden. Die Luft war so feucht und schwer, dass ihnen die Kleider am Leib klebten.
»Hör zu, Anouk! Ich würde ja gerne das ganze Wochenende mit dir auf Schatzsuche gehen, aber ich habe auch noch einen Beruf. Morgen ist Sprechstunde, und ich muss meine Patientenakten durchsehen. Und am Mittwoch nehme ich an einem Weiterbildungskurs für Diagnostik teil, für den ich mich noch vorbereiten muss.« Er hob entschuldigend die Hände. »Das ist sicher alles nicht so abenteuerlich wie das Enträtseln unerklärlicher Phänomene, aber doch auch interessant.«
Anouk senkte den Kopf und nickte. Sie wusste, dass sie ihn und seine Zeit vereinnahmte. Und wie egoistisch das war. War sie sich nicht gerade eben noch wie eine Heilige vorgekommen, um nur wenige Minuten später wieder in ihr altes Muster zurückzufallen? Selbstlosigkeit schien bei ihr ein kurzes Verfallsdatum zu haben.
»Natürlich. Ich habe ja auch noch zu tun.« Sie überlegte krampfhaft, was sie anführen konnte. »Ich sollte … wirklich einmal meine Eltern und meine Schwester anrufen. Oder ihnen schreiben. Man schreibt ja heutzutage kaum noch Briefe. Wo Briefe doch …« Sie brach ab, weil sie merkte, dass sie sinnloses Zeug plapperte.
Max grinste. »Gute Idee! Aber«, er zog sie an sich, »wenn Madame heute Abend noch Zeit hätte, würde ich sie gerne zum Essen ausführen. Sagen wir um acht? Bis dahin ist mein Wagen hoffentlich wieder repariert.«
Sie strahlte. »Einverstanden.«
Sie küssten sich lange und zärtlich, und Anouk fühlte, wie sich ein köstliches Ziehen in ihrem Unterleib ausbreitete. Eine Mischung aus Erregung und Vorfreude.
Max seufzte, schüttelte bedauernd den Kopf und löste sich schließlich aus ihrer Umarmung. Er gab ihr einen letzten Kuss und humpelte dann zum Schuppen hinüber, wo er sich leidlich elegant aufs Rad schwang und Anouk zum Abschied noch einmal winkte. Sie hob ebenfalls die Hand, drehte sich um und trat lächelnd ins Haus.
Ich sollte mehr Sport treiben, ging es Max durch den Kopf, als er sich auf halbem Weg zu seinem Domizil befand und spürte, wie seine Oberschenkelmuskulatur zu protestieren begann. Er dachte an ihre Exkursion ins Kirchenarchiv zurück. Anouk hatte sich so viel davon versprochen, aber leider nicht gefunden, wonach sie gesucht hatte. Dafür war sie jedoch auf eine neue Spur gestoßen, von der Max nicht so recht wusste, was er davon halten sollte. Auf der einen Seite interessierte es ihn tatsächlich zu erfahren, was es mit der Frau im roten Kleid auf sich hatte. Auf der anderen Seite befürchtete er noch immer, dass sich Anouk in die ganze Sache hineinsteigerte und dieser aufgrund ihres Unfalltraumas mehr Bedeutung beimaß, als ihr zukam. Er war sich auch nicht sicher, welche Erklärung ihm mehr zusagte. Die übernatürliche oder die wissenschaftlich-medizinische? Und würde er sowohl mit der einen als auch mit der anderen gleichermaßen zurechtkommen?
Auf alle Fälle genoss er es ungemein, so viel Zeit mit Anouk verbringen zu können. Ihre anfängliche Reserviertheit ihm gegenüber hatte sich verflüchtigt. Sie blühte mit jedem Tag mehr auf, und von der deprimierten, traurigen Frau, die vor ein paar Tagen in Seengen angekommen war, war kaum mehr etwas zu bemerken. Nur manchmal glitt ein Schatten über ihr Gesicht. Vermutlich dann, wenn sie an ihre verstorbene Freundin dachte. Und noch etwas spürte er: Anouk öffnete sich ihm immer mehr, so dass er sich mittlerweile sicher war, dass auch sie ihm weit mehr als reine Sympathie entgegenbrachte. Max lächelte und genoss den Fahrtwind, der ihm die heiße Stirn kühlte. Sein Handy piepste, und er stoppte in einer Hauseinfahrt. Doch als er die Nummer auf dem Display erkannte, verflog sein Lächeln augenblicklich, und er seufzte. Dieses Gespräch war längst überfällig. Er atmete tief durch und meldete sich.
Liebe Mama,
entschuldige, dass ich schon so lange nichts mehr von mir …
Anouk riss das Blatt aus dem Block, zerknüllte es und fing neu an.
Liebe Mama, lieber Papa,
mir geht es hier ausgezeichnet! Ich denke kaum noch …
Entnervt strich sie die Sätze durch und kaute an ihrem Kugelschreiber. Sie stand vom Bett auf, trat ans Fenster und schaute in den Garten hinunter. Unwillkürlich schweifte ihr Blick zu der Brombeerhecke hinüber. Ob Désirée ihr noch einmal erscheinen würde? Wenn sie doch nur ein paar Worte mit der Kleinen wechseln könnte, würde ihnen das sicher weiterhelfen. Doch so sehr sie es sich auch wünschte, es tauchte kein Mädchen mit roten Locken in einem weißen Nachthemd auf. Anouk schüttelte enttäuscht den Kopf. Sie überlegte kurz, ob sie schwimmen gehen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Seit einer Stunde hatte sie unerträgliche Kopfschmerzen. Vermutlich würde es bald einen Wetterumschwung geben. Sie ging ins Bad, schluckte zwei Aspirin, warf sich abermals aufs Bett und begann, erneut zu schreiben.
Liebe Mama, lieber Papa,
die Zeit fernab von meinem sonstigen Alltag tut mir gut …
Du hast mich scharf versucht.
Ich hatte genug zu tun,
dass ich hier nicht gefehlt.
Doch kann mein Geist nicht ruhn.
Anouk stockte und sah auf die Worte, die sie soeben geschrieben hatte. Sie? Nein, diese Zeilen hatte nicht sie verfasst! Die musste ihr jemand anders eingegeben haben. Aber wer zum Teufel versuchte, mit ihr Kontakt aufzunehmen? Dass es Julia sein könnte, glaubte Anouk nicht mehr. Denn Julia hätte Klartext geredet und keine verworrenen Verse vom Stapel gelassen. Das kleine Mädchen? Unwahrscheinlich. Ein Kind in diesem Alter wäre zu solchen Formulierungen nicht fähig. Anouk war sich deshalb sicher, dass es sich nur um die Zinnengängerin handeln konnte. Sie fröstelte, wurde dann unvermittelt wütend und schleuderte den Block gegen die Wand.
»Was willst du eigentlich von mir?!«, schrie sie ins leere Zimmer. Tränen brannten in ihren Augen. »Ich tue doch mein Bestes!« Sie riss ihr T-Shirt hoch. »Sieh!« Sie zeigte auf ihre Abschürfungen. »Ist das noch nicht genug? Und Max ist beinahe umgekommen. Lass uns doch endlich in Ruhe, verdammt noch mal!« Anouk zitterte am ganzen Leib. Sie barg ihr Gesicht in den Händen. »Ich kann das nicht mehr«, presste sie zwischen den Zähnen hervor, »es ist genug!«
Ein wildes Krächzen ließ sie aufblicken. Sie erhob sich, ging ans Fenster und sah hinaus. Auf dem Rasen vor den Brombeerbüschen kauerte die getigerte Katze. Sie hatte eine Krähe im Maul, die wild mit den Flügeln flatterte. Die Katze blickte zu Anouk hoch, peitschte mit ihrem Schwanz durch die Luft und biss zu. Als der Körper des Vogels erschlaffte, ließ sie den Kadaver fallen, putzte sich mit der Pfote die blutbefleckte Schnauze, warf Anouk noch einen letzten Blick zu und verschwand dann in der Hecke.
Anouk wurde übel. »Das war nur eine Katze, die eine erfolgreiche Vogeljagd hinter sich hat. Nichts weiter«, beruhigte sie sich selbst. Folglich gab es auch keinen Grund, dem blutigen Schauspiel eine tiefere Bedeutung zuzuschreiben. Krähen, immer diese Krähen! Sie tauchten überall auf, so als ob sie sie überwachen würden.
Anouk drehte sich um, blickte eine Weile auf den Spiralblock am Boden und hob ihn schließlich auf. Sie ließ sich auf dem Bett nieder, griff nach dem Kugelschreiber und setzte ihn entschlossen auf ein neues Blatt.
»Also los! Wer auch immer du bist.«
Schloss Hallwyl, 1746
Schluchzende Frauen, kopflose Bedienstete, und jetzt auch noch die Rückkehr von Gerold. Johannes hielt es nicht länger im Schloss aus; er brauchte dringend frische Luft!
Während er in Richtung Ställe ging, dachte er über seinen Bruder nach, aus dem er einfach nicht schlau wurde. Zu Désirées Totenfeier war er nicht erschienen, obwohl er doch ihr Oheim und Pate war, und jetzt, kurz vor Weihnachten, klopfte er wieder an seine Tür. Auch wenn es Gerold gut verbarg, Johannes war nicht so dumm, ihm seine Keuschheit, die er wie ein flammendes Banner vor sich hertrug, abzunehmen. Schon mehrmals hatten Weiber mit dicken Bäuchen an die Schlosspforte von Hallwyl geklopft und um Hilfe für sich und ihre ungeborenen Bastarde gefleht. Zwar hatte er immer alles gut vertuscht. Doch die Leute waren geschwätzig, und Gerüchte breiteten sich schneller aus als die Krätze. Sein Bruder musste endlich einsehen, dass sie, auch wenn sie die Herren dieser Gegend waren, nicht einfach tun und lassen konnten, was ihnen beliebte.
Im Stall war es warm, die Luft geschwängert vom Geruch nach Pferdedung und Heu. Der Trakehner hob den Kopf, als er seinen Herrn witterte, und blähte die Nüstern. Johannes kraulte dem edlen Warmblüter die Stirn. Sicher sehnte er sich genauso sehr nach grünen Wiesen und Wäldern wie er selbst.
Ein Geräusch schreckte Johannes aus seinen Gedanken. Huldrich tauchte hinter der Futterkrippe auf, rieb sich die Augen und blinzelte ihn erschrocken an. Der Taugenichts hatte vermutlich gerade ein Schläfchen gehalten, anstatt seiner Arbeit nachzugehen. Johannes seufzte. An dem Tag, an dem er den Krüppel in seine Dienste genommen hatte, musste er nicht recht bei Verstand gewesen sein. Doch halt, es war sein Bruder gewesen, der ihn darum gebeten hatte! Jetzt erinnerte er sich wieder. Er hatte sich damals noch darüber gewundert. Denn normalerweise verabscheute Gerold alles, was mit Krankheit und Siechtum zu tun hatte. Hatte sein Bruder womöglich eine besondere Beziehung zu dem Jungen? Und wirklich, wenn er ihn jetzt so betrachtete …
»Hier seid Ihr! Gott sei Dank!«
In der offenen Stalltür stand Bernhardine. Sie war weiß wie ein Totenhemd und nur mit ihrem Morgenmantel bekleidet, der sich im Sturmwind blähte. Die Haube war ihr vom Kopf gerutscht und baumelte ihr nun um den Hals.
»Herrschaftszeiten, Madame! So schließt um Himmels willen die Tür, bevor der Schnee das Heu nässt.«
Sie reagierte nicht auf seine Rüge, sondern stolperte in den Stall und blieb schwer atmend vor ihm stehen. Er sah Huldrich an und wies nur stumm mit dem Kopf zur Tür. Der Bub nickte, sprang davon und verschloss beim Hinausgehen das Stalltor.
»Meint Ihr wirklich, Madame, dass Ihr in so einem Aufzug vor den Bediensteten erscheinen solltet? Ich finde …«
Bernhardine hob die Hand. »Nicht«, keuchte sie, »hört mir lieber zu! Die Zwillinge haben die Pocken. Ihr müsst einen Arzt holen. Jetzt! Sofort!«
Johannes’ Kiefer klappte nach unten. Er hatte ihre Worte zwar gehört, aber sein Verstand weigerte sich, deren Sinn zu erfassen. Er sah sein Eheweib an, wie sie mit wilden Locken und halb nackt vor ihm stand. Sah, wie sich ihr Mund öffnete und schloss, hörte aber nur den Wind ums Gemäuer heulen und das Knacken der Holzbalken im Giebel. Bernhardine griff nach seinem Mantel und zerrte daran.
»Hört Ihr denn nicht? Ihr müsst einen Doktor holen!«
Endlich erwachte Johannes aus seiner Erstarrung. Er trat einen Schritt zurück, und ihre Arme fielen herab.
»Die Pocken?« Seine Stimme brach. »Seid Ihr denn sicher?«
Bernhardine stand mit hängendem Kopf vor ihm. Tränen strömten über ihre Wangen.
»Unsere Söhne«, wimmerte sie, »sie werden sterben.«
Johannes packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Seid still!«, schrie er wild und das Blut schoss ihm ins Gesicht. »Das lasse ich nicht zu! Hört Ihr? Das lasse ich nicht zu!«
Er drehte sich um, riss das Zaumzeug vom Haken und zog es dem Trakehner über den Kopf. Dann warf er dem Tier die Schabracke auf den Rücken, stülpte den Reitsitz darüber und zurrte den Sattelgurt fest. Sein Herzschlag setzte für einen Moment aus, und ihm wurde schwarz vor Augen. Er atmete zweimal tief durch und holte sich aus der Sattelkammer eine Pelerine und eine Pelzmütze. Anschließend stieg er auf einen Holzschemel und schwang sich von dort aus in den Sattel.
»Sagt dem Meier, er soll den Schlitten anspannen und gegen Baldegg fahren. Ich werde in der Zwischenzeit den Arzt holen. Wir treffen uns im Gasthof ›Zum Bären‹. Er soll dort auf uns warten. Ich reite über den zugefrorenen See, das geht schneller. Und jetzt öffnet mir das Tor, Madame … und betet! Bei allem, was Euch heilig ist, betet!«
Eine Magd entzündete die Kerzen im Palas, warf zwei Holzscheite ins Feuer und knickste.
Es war vier Uhr nachmittags und begann bereits zu dämmern. Der Schneefall hatte endlich aufgehört. Vor einer Stunde war Johannes losgeritten, kurz danach hatte auch der Meier das Schloss verlassen. Er musste mit dem Schlitten einen Umweg über die Dörfer nehmen, da das Gefährt zu schwer war, um über die Felder zu fahren, und bereits in der ersten Schneewehe stecken geblieben wäre.
Ob es Johannes gelänge, den Arzt zum Aufbruch zu bewegen? Bernhardine lief auf und ab und schaute immer wieder zur Pendule, obwohl sie wusste, dass es noch Stunden dauern würde, bis die Erwarteten einträfen.
Gerold saß vor dem Kamin und las in einem Buch. Marie hockte zusammengesunken auf einem Stuhl vor dem Feuer, eine Strickarbeit in den Händen. Sie wischte sich ab und zu mit einem Taschentuch über die Augen, war aber sonst gefasst, wofür Bernhardine ihr äußerst dankbar war. Es wäre über ihre Kräfte gegangen, sie trösten zu müssen, wo sie doch schon genug mit sich selbst zu tun hatte.
Außer Marie und Johannes wusste noch niemand von dem bösen Krankheitsverdacht. Es hätte sicher große Unruhe unter den Bediensteten ausgelöst. Sofern der Arzt die Diagnose jedoch bestätigte, müssten sie unverzüglich handeln. Obwohl ihr Gerolds Anwesenheit verhasst war, konnte sich Bernhardine weder dazu aufraffen, in ihre Gemächer zu gehen, noch die Zeit bis zu Johannes’ Rückkehr bei den Zwillingen zu verbringen. Jeder Blick, den sie auf ihre Söhne warf, schnitt ihr tief ins Herz. Sie hatte vorhin nach Cornelis geschickt, doch er hatte sich entschuldigen und ihr ausrichten lassen, er stecke mitten in der Arbeit am Porträt. Bernhardine hatte sich überlegt, ihm per Boten einen Brief zu überbringen. Aber was hätte sie ihm schreiben sollen? Liebster, pack deine Sachen und flieh – die Blattern sind im Schloss! Wenn sie sich angesteckt hatte, dann auch er! Peter der Zweite von Russland war an den Pocken gestorben. Diese Geißel Gottes machte keinen Unterschied, ob einer auf weicher Seide oder im Stroh schlief. Doch Cornelius war jung und gesund, er könnte die Krankheit überstehen. Und selbst ein Maler mit Narben blieb immer noch ein Maler. Im Gegensatz zu ihr, die nichts anderes hatte als ihre Schönheit. War die dahin, würde Johannes sie verstoßen.
Als hätte Gerold ihre Gedanken erraten, stand er plötzlich auf und rief: »›Denn Gott hat die Engel, die gesündigt haben, nicht verschont, sondern hat sie mit Ketten der Finsternis zur Hölle verstoßen und übergeben, dass sie zum Gericht behalten werden!‹ Das ist aus dem Petrusbrief, Madame.«
Marie öffnete den Mund, doch Bernhardine gebot ihr mit einer Handbewegung zu schweigen.
»Beachte ihn nicht!«, flüsterte sie. »Er ist es nicht wert.«
Ihr Blick ging erneut zur Uhr. Halb fünf.
Johannes war gut zwei Kilometer am Seeufer entlanggeritten, bevor er den Sprung aufs Eis wagte. Der Trakehner kam ins Schlittern, rollte die Augen und bleckte die Zähne. Doch im letzten Moment gewann er sein Gleichgewicht wieder. Nachdem er sich an den seltsamen Untergrund gewöhnt hatte, flogen seine Hufe über die weiße Fläche.
Unter der Schneedecke knirschte das Eis. Johannes wagte nicht, nach verräterischen Rissen Ausschau zu halten, stattdessen beugte er sich tiefer über den schweißnassen Hals des Warmblüters und vertraute auf Gott.
Er würde den Arzt aus der Abtei Baldegg hinauszerren, ganz gleich, wie sehr sich dieser auch sträubte oder wie viel er für seine Dienste verlangte. Johannes biss die Zähne zusammen, als ihm der wohlbekannte Schmerz durch den Brustkorb schoss. Sein linker Arm wurde taub, und beinahe entfielen ihm die Zügel. Trotz der eisigen Kälte lief ihm der Schweiß in Strömen übers Gesicht, brannte in den Augen und nahm ihm die Sicht. Nebel hatte sich gebildet und zog in Schwaden über den See. Das jenseitige Ufer war nur noch schemenhaft zu erkennen. War das dort drüben nicht der Kirchturm von Meisterschwanden? Bald hätten sie wieder festen Boden unter den Füßen. Johannes gab dem Pferd die Sporen. Er musste sich beeilen.
Der Krampf kam unvermittelt, drückte ihm den Brustkorb zusammen und ließ seinen Atem stocken. Ein Brennen gleich glühenden Kohlen jagte durch seinen Kopf. Johannes öffnete den Mund zum Schrei, doch es kam nur ein Krächzen über seine Lippen. Die Welt um ihn herum verdunkelte sich schlagartig. Er griff sich ans Herz, riss dabei die Zügel nach oben und brachte den Trakehner dadurch ins Straucheln. Das Pferd brach nach links aus, seine Hufe schabten hilflos über das Eis. Es schlitterte und stürzte. Gemeinsam schlugen sie mit einem dumpfen Knall auf der Eisfläche auf.
Johannes fühlte, wie sein Oberschenkel brach, hörte, wie der Trakehner panisch wieherte … und hörte das Eis. Es knirschte und krachte, dann öffnete der See sein dunkles Maul unter ihm und verschlang die Eindringlinge.